Читать книгу Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist - Jan Skudlarek - Страница 13
Angriff unter falscher Flagge
ОглавлениеIm Zusammenhang mit dem »Das ist in Wahrheit alles nicht so passiert, wie uns die Medien glauben machen«-Vorwurf fällt oft ein weiteres Schlagwort: False Flag Operation. Eine False Flag Operation bzw. ein Einsatz unter falscher Flagge ist ein militärischer Ausdruck, der ursprünglich aus der Seefahrt stammt. Schiffsflaggen waren bekanntlich dafür da, Schiffe zu identifizieren. Wer unter falscher Flagge segelte, führte demnach nichts Gutes im Schilde. Das Segeln unter falscher Flagge ist ein Täuschungsmanöver. Ein Schiff konnte so seine wahre Identität verschleiern – und den Feind glauben lassen, dass man jemand sei, der man gar nicht ist: ein klassisches Echtheitsproblem bzw. Schein-Sein-Problem, ähnlich wie der Terrorist Breivik in seiner Polizeiuniform. Statt über die eigene Flagge, die im Konfliktfall als feindlich erkannt werden würde, identifiziert man sich unter falscher Flagge als Verbündeter oder als Neutraler. Man nutzt die Annäherung und den Überraschungseffekt und überrumpelt den getäuschten Gegner. So viel zu Begriffshintergrund und Metaphorik.
Nennt man einen Amoklauf oder einen Terroranschlag eine False Flag, bedeutet das: Da läuft etwas nicht so ab, wie es abzulaufen scheint. Da sitzt jemand anders am Ruder. Wieder einmal geht es um den fundamentalen Unterschied zwischen Schein und Sein. Echt und unecht.
Verschwörungstheoretiker nutzen mindestens zwei Varianten des Falsche-Flagge-Arguments:
Ich unterscheide ein moderates Falsche-Flagge-Argument von einem radikalen Falsche-Flagge-Argument.
Die moderate Variante lautet:
»Ereignis X ist passiert, aber nicht so, wie die ›offizielle Story‹ bzw. die Medien es darstellen.«
Ein klassisches Beispiel ist die »9/11-Truther-Bewegung«. Der Name ist Programm: Die Leute nennen sich »Truther« bzw. »9/11 Truth Movement«, weil sie, na klar, aus ihrer Sicht auf Seite der Wahrheit stehen. Sie behaupten nämlich, die Anschläge am 11. September seien in Wahrheit von der Regierung selbst geplant und von ihren Handlangern ausgeführt worden, u. a. um Gründe für den Irakkrieg zu haben (ein historischer Vorgänger einer Theorie mit dieser Schlagrichtung besagt, die USA hätten vorab um den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor gewusst und ihn absichtlich geschehen lassen, um so ihre schwache Flotte loszuwerden und gestärkt mit Neubauten in den Zweiten Weltkrieg eintreten zu können). Die 9/11-Truther sagen, der 11. September sei ein »inside job« gewesen – also von innerhalb der eigenen Regierung geplant und von Schattenmännern ausgeführt. Massenmord an der eigenen Bevölkerung aus politischen Motiven.
Die radikale Variante des False-Flag-Arguments besagt:
»Ereignis X ist niemals passiert. Alles, was wir über Ereignis X in den Medien sehen, ist eine Täuschung. Unecht.«
Das Sandy-Hook-Shooting ist tragischerweise so ein Fall. Also ein Fall, wo diese Behauptung fällt. Im Jahr 2012 ermordete ein Attentäter im US-Bundesstaat Connecticut in der Kleinstadt Newtown 20 Kinder und sechs Angestellte der örtlichen Grundschule. Quasi in Echtzeit fingen Verschwörungstheoretiker an, die Wahrheit der entsprechenden Berichterstattung in Zweifel zu ziehen.12 Sandy-Hook-Verschwörungstheoretiker sagen: »Der Amoklauf hat nicht stattgefunden. Überhaupt nicht. Die Menschen, die uns in den Medien als Betroffene präsentiert werden, sind lediglich Schauspieler.«
Im Gegensatz zu einem »paranoiden Truman«, der wahnhaft anfängt, die Glaubwürdigkeit seiner ganzen Umgebung anzuzweifeln, handelt es sich hier um eine gezielte Verschwörungsüberzeugung in Bezug auf bestimmte Ereignisse (inzwischen hat sich diese Reaktion weitgehend ritualisiert: Auf einen Anschlag folgen sofort und quasi automatisch Anschuldigungen über Unechtheit). Der Verschwörungstheoretiker abstrahiert von dem, was er in den Medien sieht, und sagt: Alles diesbezüglich ist Lug und Trug – »sie« wollen uns glauben machen, dass dies soundso abgelaufen ist, aber in Wahrheit ist es das nicht (»abstrahieren« ist hier dabei im Wortsinne zu verstehen: weg von den Gegenständen gehen, verallgemeinern).
Alles unecht.
Falsch.
Fake.
Verschwörungstheoretiker gehen so weit, zu behaupten, im Rahmen einer False-Flag-Operation (also eines großen Täuschungsmanövers) kämen ausgebildete Krisenschauspieler zum Einsatz, um die Öffentlichkeit zu belügen. Unter Beihilfe der Medien.
Warum?
Gute Frage.
Wie so oft bei Verschwörungstheorien lautet die Antwort: Hintermänner. Hintermänner und ihre bösen Absichten kontrollieren das Geschehen.
Im Fall von Anschlägen wie dem Sandy-Hook-Shooting oder auch dem Las-Vegas-Attentat geht die Erzählung der Verschwörungstheoretiker wie folgt:
»Die Medien wollen die Öffentlichkeit fälschlicherweise glauben lassen, viele Menschen seien (unschuldig) durch gefährliche halbautomatische Waffen gestorben, in der Absicht, ein schlechtes Licht auf diese Waffen und ihre Besitzer zu werfen. Es ist eine Verschwörung gegen uns Waffenliebhaber zugange. Sie wollen uns die Waffen wegnehmen.«
Tatsächlich ist ein schärferes Waffengesetz in dem Bundesstaat des Newtown-Massakers in Kraft getreten, als Reaktion auf den Amoklauf. Das werten Verschwörungstheoretiker als Indiz für eine Verschwörung, anstatt es wie jeder normale Mensch als logische Folge eines Verbrechens und entsprechende Maßnahme zur Prävention zukünftiger Verbrechen zu sehen. Die unliebsamen Konsequenzen werden zum eigentlichen Ziel erklärt. Und jeder Zweifel daran ist nur ein neuer Beweis für die Schlagkraft und den Einfluss der Verschwörung.
Wie sich eine False-Flag-Unterstellung anhören kann, lesen wir hier:
»Sandy Hook ist gekünstelt, komplett gefälscht, mit Schauspielern; aus meiner Sicht: erfunden. Zunächst konnte ich es nicht glauben. Mir war klar, dass Schauspieler vor Ort waren, natürlich, aber ich dachte, sie hätten wirklich ein paar Kids getötet – dass sie Schauspieler eingesetzt haben, zeigt einfach, wie sicher sie sich ihrer Sache sind.«13
Dieses Zitat stammt von Alex Jones. Mit seiner Plattform Infowars erreicht Jones monatlich Millionen von Menschen weltweit (ist allerdings auf bestimmten sozialen Medien gesperrt worden) und verdient mit solchen Gedanken gleichzeitig Millionen von Dollar. Im Jones-Zitat lesen wir zwei verschiedene Varianten des Falsche-Flagge-Arguments. Zunächst war Jones bezüglich des Amoklaufs an der Sandy-Hook-Grundschule Anhänger des moderaten Falsche-Flagge-Arguments – es sei wirklich etwas Schreckliches vorgefallen (»sie hätten wirklich ein paar Kids getötet«), wenn auch vermutlich anders als medial dargestellt. Dann ging er zum radikalen Falsche-Flagge-Vorwurf über, der die Echtheit von Sandy Hook als Ganzes anzweifelt (»Sandy Hook ist gekünstelt, komplett gefälscht, mit Schauspielern«).
An dieser Stelle möchte ich kurz eine Anekdote zu Alex Jones selbst erzählen.
Als Jones 2017 wegen eines Sorgerechtsstreits mit seiner Ex-Frau vor Gericht stand, sagte sie aus, ihr Ex-Mann sei nicht psychisch stabil und sein öffentliches Verhalten unpassend für den Umgang mit den gemeinsamen Kindern. Daraufhin entgegnete Jones’ Anwalt allen Ernstes, sein Mandant sei ein »Performancekünstler« und würde seine »Figur« als verrückter Internet-Verschwörungstheoretiker lediglich vor seinem Publikum »spielen«. Ganz recht: Derjenige, der die Echtheit und Aufrichtigkeit anderer quasi berufsmäßig böswillig anzweifelt, lässt sich privat vor Gericht mit einer »Das ist alles gar nicht echt«-Strategie verteidigen. Als wäre das nicht verrückt genug, ging Jones anschließend zurück in seine Sendung und dementierte Medienberichte über seinen Gerichtsprozess und seine kuriose Verteidigungsstrategie und verkündete, er sei so »authentisch und hardcore und echt, wie es nur geht, und jeder weiß das«. Das texanische Gericht sprach der Kindesmutter das Sorgerecht zu (Jones darf die gemeinsamen Kinder jedoch besuchen).
Doch zurück zum Thema: Beide False-Flag-Varianten basieren auf dem subjektiven Eindruck, immer getäuscht und belogen worden zu sein. Unterschiedlich ist jedoch jeweils das Ausmaß. Es zeigt sich eine fundamentale Eigenschaft von Verschwörungstheoretikern: Die Überzeugung oder auch das Bauchgefühl, immer und überall über den echten Lauf der Dinge getäuscht zu werden.
Auf theoretischer Ebene hat die zweite Argumentform des Falsche-Flagge-Krisenschauspieler-Arguments zwei Komponenten.
Erstens: Alles, was ich sehe, ist nicht echt, sondern inszeniert.
Zweitens: Alles, was ich sehe, wurde von jemandem inszeniert. Wie echte Schauspieler handeln auch Krisenschauspieler nicht ohne Regie und Drehbuch. Jemand steckt dahinter. Und warum? Jemand steckt dahinter, um zu täuschen. Deswegen sind False-Flag-Vorwürfe in der Regel Verschwörungstheorien. Weil Urheber mit bösen, heimlichen Absichten notwendiger Bestandteil des Schauspielvorwurfs sind.
Es wird sich auch kein vermeintlicher Krisenschauspieler hinstellen und sagen: »Ja, klar, ich bin Schauspieler, und hinter allem steckt die Anti-Waffen-Lobby, hier ist mein Drehbuch. Ich verdiene pro Tag zweihundert Dollar«. Aus Sicht des gesunden Menschenverstands: Weil es ja keine Krisenschauspieler gibt. Oder aus der Sicht der Verschwörungstheoretiker: Weil das Täuschungsmanöver sonst auffliegen würde.
Diese konspirative Wirklichkeitsverdrehung ist weniger amüsant, als sie klingt. Oft eskaliert der Streit um Echtheit und Wahrheit – und zwar auf Grundlage solcher abstrusen Behauptungen. Im Zeitalter des Internets konkretisiert sich das abstrakte Krisenschauspieler-Argument leicht in Hasskommentaren, Rufmord und Psychoterror.
Nehmen wir den Fall von Lenny Pozner. Lenny Pozner gehört zu den Eltern, die beim Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School im Dezember 2012 ihr Kind verloren haben. Der Grundschüler Noah Pozner wurde vom Amokläufer mit mehreren Schüssen aus einem halbautomatischen Sturmgewehr aus kurzer Distanz erschossen. Er galt als fröhlicher, liebenswürdiger Sechsjähriger.
So zumindest »die offizielle Story«.
Verschwörungstheoretiker widersprechen.
Vehement.
Wenige Tage nach dem Tod seines Sohnes ging der Terror los. Pozner, der durch Interviews ins Visier der Verschwörungstheoretiker geraten war, wurde selbst zur Zielscheibe. Auch über fünf Jahre nach dem Attentat hält es an: Beleidigende E-Mails. Bedrohungen. Tiraden. Pozner erhält seit Jahren regelmäßig derartige Nachrichten:14
»Fick dich!! Dein Kind starb nicht bei Sandy Hook. Du kannst nicht ernsthaft behaupten, dass er starb! Komm schon, Mann. Ich weiß die haben dir eine ordentliche Summe gezahlt, aber warum lügst du uns an?«
Oder eine weitere E-Mail:
»Du bist ein Betrüger und ein Arschloch. […] Bist du verrückt? […] Du stinkst. Du solltest angeklagt werden. Du und deine Kumpane sind Lügner und Diebe. […] Du Drecksack. […] Oh, und nebenbei, der Totenschein deines Sohnes – tolle Arbeit. […] Warum nennst du der Öffentlichkeit nicht deinen wahren Namen? […] Du bist ein verdammter Witz. […] Verrotte in der Hölle, du Wichser.«
Und:
»Pozner, für dich ist ein besonderer Platz in der Hölle reserviert. Nimm die Beine besser in die Hand, bevor wir dich finden.«
Manche sagen, dass sein Kind dort gar nicht gestorben ist. Schreiben das Wort »tot« in Anführungszeichen. Andere behaupten, dass Pozner nie ein Kind gehabt habe. Dass er gar nicht Pozner heiße. Sie bezeichnen ihn als »Arschloch«, »Lügner«, »Betrüger« – oder wundern sich, wie eine solche erfundene, »fiktive Person« sich vor Gericht gegen Beleidigung und Bedrohungen wehren kann. Alles Zuschriften, die ihre theoretische Grundlage in der Vorstellungswelt von »Fake News« und »Lügenpresse« finden. Es ist die Wut der scheinbar Getäuschten. Dass sie keine handfesten Beweise für eine Täuschung haben, stört sie dabei nicht.
Immerhin gab es Konsequenzen für die Hasstiraden. Ein Professor wurde deswegen gefeuert. Eine Frau musste ins Gefängnis. Selbst Verschwörungstheoretiker werden bisweilen von der Wirklichkeit eingeholt.