Читать книгу Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist - Jan Skudlarek - Страница 15
Kleine Theorie der Echtheit
ОглавлениеWir fassen zusammen. »Echt« und »unecht« sind Begriffe, die ein Sprecher dafür nutzt, um die Wirklichkeit zu beschreiben. Grundlage ist die stoffliche und die soziale Wirklichkeit – oder eine Kombination aus beidem. Die stoffliche Wirklichkeit spielt in erster Linie dann eine Rolle, wenn wir uns auf Physisches beziehen. Ein Diamant ist dann ein echter Diamant, wenn er die Eigenschaften eines Diamanten hat. Gleiches gilt für echtes Leder, echtes Gold oder echten Champagner.
Echtheit zu erkennen, heißt Echtheit anzuerkennen. Dieses (An-)Erkennen ist nicht allein Angelegenheit des Sprechers. Ich kann Kunstleder nicht zu Leder machen, indem ich es »Leder« nenne anstelle von »Kunstleder«. Die Kriterien dafür, was echte Dinge sind und was nicht, sind überindividuell oder intersubjektiv. Überindividuell heißt: Es geht um Gemeinschaft und Kontext. Eine Gemeinschaft von Menschen entscheidet aus dem Zusammenhang heraus, was als echtes Gold gilt oder wer als echter Polizist.
Abstrakt formuliert können wir sagen:
X gilt als echtes Y in der Gemeinschaft G, weil G dieses X als Y anerkennt.
Echtheit ist kollektive Echtheitszuschreibung. Dieses Anerkennen geschieht mit Bezug auf bestimmte Eigenschaften (»hat einen Schmelzpunkt von 1064 °C«, »ist Schaumwein aus der Champagne«, »hat die Ausbildung zum Polizisten erfolgreich absolviert« usw.).
Relevante Eigenschaften können auch soziale Eigenschaften sein.
Und die folgenden Merkmale sind wichtig, wenn wir über Echtheit philosophieren:
Geschichte. Ein echtes X kommt daher, »wo normalerweise Xe herkommen«. Diese Echtheitsgeschichte ist nicht zuletzt eine kausale. Echte Diamanten stammen aus der Natur, echtes Geld stammt vom Staat, echte Zeugnisse von Schulen und Universitäten. Stammen Zeugnisse oder Geld aus meinem persönlichen Drucker, sind sie nicht echt. Bastle ich mir meine Polizeiuniform selber, ist sie nicht echt. Wir müssen also etwas über die Herkunftsgeschichte von X erfahren, um auf dieser Grundlage einschätzen zu können, ob wir es als echtes X anerkennen sollten.
Eigenschaften. Unabhängig davon, ob es um echtes Gold, echtes Geld, echte Polizisten oder echte Attentatsopfer-Angehörige geht: Man muss bestimmte Eigenschaften aufweisen, um als Gold, Geld, Polizist oder Angehöriger zu gelten.
Zwischen Eigenschaften und Geschichte besteht dabei ein Zusammenhang. In der Regel: ein kausaler. Ein X hat deswegen diese und jene Beschaffenheit, weil es diese und jene Geschichte hat. Geschichte ist insofern Ursachengeschichte. Aber nicht nur. Eine Geschichte zu haben, heißt darüber hinaus, eine soziale Einbettung zu haben.
Wir ergänzen:
X gilt als echtes Y in der Gemeinschaft G, weil G dieses X als Y anerkennt. Diese Anerkennung ist nicht willkürlich. Geschichte und Eigenschaften von X sind Grundlage der Echtheitsanerkennung.
Am Beispiel Champagner formuliert:
Veuve Clicquot (X) gilt als echter Champagner (Y) innerhalb der Gemeinschaft der Weinkenner (G), weil Weinkenner Veuve Clicquot als Champagner anerkennen. Handverlesene Trauben, Flaschengärung, ein streng abgegrenztes Anbaugebiet usw. sind Grundlage der Echtheitsanerkennung.
Oder am Beispiel Polizist formuliert:
Max Musterpolizist (X) gilt als echter Polizist (Y) innerhalb der Bundesrepublik Deutschland (G), weil die Bundesrepublik Deutschland und die Bürger Max Musterpolizist als Polizisten anerkennen. Eine körperliche und geistige Eignung, eine mehrjährige erfolgreiche Ausbildung usw. sind Grundlage dieser Echtheitsanerkennung.
Und aus der anderen Richtung gesehen:
Unechtheit steht in einer negativen Relation zum Original (oder auch: einer parasitären, wie ein Parasit, der von seinem Wirtstier lebt). Kunstleder ist vor allem eines nicht: echtes Leder. Falschgeld ist vor allem eines nicht: echtes Geld. Ein Betrüger, der einen Polizisten spielt, ist vor allem eines nicht: ein echter Polizist. Ein Schauspieler, der einen trauernden Vater spielt, ist vor allem eines nicht: ein echter trauernder Vater. Besteht Verwechslungsgefahr zwischen echt und unecht, dann deshalb, weil absichtlich oder unabsichtlich – meist absichtlich – eine Ähnlichkeitsbeziehung betont und ausgenutzt wird. Kunstleder soll identisch oder ähnlich aussehen wie Leder. Beltracchis gefälschte Gemälde sollten identisch oder ähnlich aussehen wie echte Meistergemälde. Anders Breivik hat sich als Polizist verkleidet, um durch diese Ähnlichkeit für einen echten Polizisten gehalten zu werden. Das sind Fälle bewusster Täuschung.
Wo liegt aber das Problem bei der Unechtheit? Wenn jemand die Situation ausnutzt. Wo eine Verwechslungsgefahr besteht, vermuten wir eine Täuschungsabsicht. Ob diese besteht oder nicht, gilt es jeweils zu untersuchen. Bei Echtheit oder Unechtheit geht es somit vor allem um eines: Fakten. Um nachprüfbare Fakten.
Wir haben viel über die Probleme bei der Einschätzung von Echtheit gesprochen. Die Unterscheidung von Echtheit und Unechtheit und einer Täuschung ist deshalb wichtig, weil dies in dieselbe Richtung wie Wahrheit und Falschheit deutet.