Читать книгу Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist - Jan Skudlarek - Страница 9
Echter Champagner
ОглавлениеUnd dann gibt es noch Mischformen stofflicher und sozialer Echtheit. Fälle, in denen wir etwas als echtes X anerkennen, weil es stoffliche Echtheitskriterien und darüber hinaus soziale Echtheitskriterien erfüllt.
Denken wir an Champagner.
Champagner ist einerseits Champagner, weil er Schaumwein ist – und kein Bier oder keine Coca-Cola oder Putzwasser. Das ist der stoffliche Anteil. Die Schaumwein-Kriterien müssen auf physischer Ebene erfüllt sein. Andererseits ist echter Champagner nur dann echter Champagner, wenn er aus der Champagne kommt, also aus einer Region in Frankreich. Die Trauben müssen auf eine genau geregelte Art angebaut und verarbeitet (Pflanzungsdichte, in einem genau abgegrenzten Gebiet, Ertragsbeschränkung, Flaschengärung, Mindestlagerzeit auf der Hefe usw.) werden. Sonst ist es kein echter Champagner. Schaumwein, der diese (sozialen) Kriterien nicht erfüllt, nennt man Sekt. Champagner ist nur der Sekt aus der Champagne, weil wir uns als Gemeinschaft darauf geeinigt haben, nur diesen Sekt als Champagner anzuerkennen.
Echt ist das, was wir gemeinschaftlich als echt anerkennen.
Von der Perücke, die als Echthaar durchgeht, über falsches Geld, mit dem man dennoch bezahlt, bis hin zu Silikonbrüsten. Vom falschen Polizisten bis hin zum falschen Arzt.
Was echt ist und was unecht, hat also sowohl mit Schein als auch mit Sein zu tun.
Was zunächst echt zu sein scheint, ist es deswegen noch lange nicht.
Falschgeld kann nichts dafür, dass jemand es gefälscht hat. Bei Menschen ist die Lage anders. Menschen wissen nämlich in der Regel sehr wohl, ob sie selbst etwas sind oder nur so scheinen wollen. Wer vor anderen Schein und Sein vertauscht, ist unaufrichtig. Vor allem handelt es sich beim »absichtlich etwas vorspielen, das gar nicht wahr ist« um eine bewusste Täuschung.
Der Täuschungsaspekt steht in direkter logischer Beziehung zum Problem der Wahrheit und der Echtheit. Täuschen bedeutet ja nichts anderes als das: einer Unwahrheit den Schein der Wahrheit zu geben bzw. einer Unechtheit den Schein der Echtheit. Niemand praktiziert aus Versehen als (falscher) Arzt, niemand tritt aus Versehen als (falscher) Polizist auf.
Eine unabsichtliche Verwechslung kann man natürlich schnell aufklären. Wer mit weißem Hemd im Krankenhaus von einer Patientin gefragt wird »Entschuldigung, arbeiten Sie hier?«, der entscheidet sich in dem Moment, wenn er antwortet, zwischen Schein oder Sein. Verwechslungen sind normal und gehören zum Alltag dazu. Ein bewusstes Täuschen über die Wahrheit der Dinge findet dann statt, wenn ich weiß, dass das, was ich vortäusche, nicht der Wahrheit entspricht – ich aber so tue als ob, damit die andere Person das Vorgetäuschte für Wahrheit hält.
Ein Kernproblem bei der philosophischen Frage nach Echtheit ist also das So-tun-als-ob.
Nicht jedes So-tun-als-ob ist aber ein Wahrheitsproblem. Zum Problem wird es, wenn man dadurch andere absichtlich täuschen will (ggf. böswillig, zum eigenen Vorteil). Breivik tat so, als wäre er ein echter Polizist, um sich Zugang zur Insel Utøya zu erschleichen. Beltracchi tat so, als wären seine Kunstwerke die von anderen (bekannteren) Malern.
Doch was passiert, wenn tatsächlich alles nur Schein ist?