Читать книгу Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist - Jan Skudlarek - Страница 5
Die Wahrheit über das letzte Nudelsieb
ОглавлениеBerlin. Es ist das Jahr 2089. Ein Nuklearkrieg hat die Menschheit tragischerweise vernichtet. Alles ist in Schutt und Asche gelegt. Alles? Fast alles. Wie durch ein Wunder hat ein Nudelsieb (Edelstahl, Made in Germany) die Apokalypse halbwegs intakt überlebt. Einsam und verlassen liegt es in den Ruinen der ehemaligen Hauptstadt. Keine Menschenseele weit und breit. Es ist kalt. Staubig. Niemand macht mehr Nudeln.
Die Preisfrage dieses philosophischen Gedankenexperiments: Ist das, was da in den Ruinen liegt, überhaupt noch ein Nudelsieb? Aus unserer Perspektive: klar. Ein Nudelsieb ist ein Nudelsieb. Immer. Das Problem an der Sache: Uns hat niemand gefragt. Wie auch? Wir sind nach dem Weltuntergang ja gar nicht mehr da.
Das ist eine Tatsache.
Eine Tatsache ist allerdings auch: Objektiv betrachtet ist ein Nudelsieb nur ein Stück Metall mit Löchern. Oder verbirgt sich die Wahrheit etwa unter der Oberfläche? Gibt es eine Wahrheit jenseits der Beschreibung? Wann ist etwas tatsächlich genau so, wie es scheint? Gar nicht so einfach zu beantworten. Anscheinend.
Wir sehen: Die Frage nach Wahrheit und Unwahrheit betrifft selbst ein Stück löchriges Metall, Apokalypse hin oder her.
Das Nudelsieb-Gedankenexperiment stellt uns vor ganz grundlegende philosophische Fragen:
Was ist Wahrheit?
Wie beschreiben wir die Wirklichkeit?
Hängt Sinn immer von der Perspektive ab?
Fest steht: Schon heute steht anscheinend nichts mehr fest. Wir brauchen gar keine Apokalypse, um in Schwierigkeiten bei der Deutung der Welt zu geraten. Die Wahrheit steht Anfang des 21. Jahrhunderts wieder einmal unter Beschuss.
Oder scheint es nur so?
Die Meinungen gehen auseinander. Nicht primär die Meinungen über Nudelsiebe, aber über so ziemlich alles andere. Klimawandel, Migration, Visionen von Gegenwart und Zukunft. Was den einen als Fakt gilt, gilt den anderen als Verschwörungstheorie. Millionen Menschen fühlen sich von »den Medien« belogen, Millionen andere vom US-Präsidenten (oder der Bundeskanzlerin). Überall nur Lug und Trug und Unwahrheit. Vertrauen ist im 21. Jahrhundert ein knapper, wertvoller und entsprechend begehrter Rohstoff geworden.
Sie, lieber Leser, denken sich wahrscheinlich:
»Wahrheit? Nudelsiebe? Was hat das alles mit mir zu tun? Sollen die doch machen, was sie wollen. Sollen die Leute doch für wahr befinden, was sie wollen. Sollen sie lügen, dass sich die Balken biegen. Alternative Fakten sind doch auch irgendwie Fakten. Gefühlte Wahrheiten auch irgendwie Wahrheiten. Nicht wahr?«
Nein! Ich widerspreche!
Stattdessen vertrete ich eine steile These. Mehrere sogar. Sie lauten: Wahrheit gibt es. Echtheit auch. Es gibt bessere und schlechtere Beschreibungen der Wirklichkeit. Und Verschwörungstheorien sind unwahr, sind gemeingefährlicher Quatsch – Quatsch, den wir ein Stück weit zu glauben veranlagt sind, aber das macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil!
Ich sage: Die Wirklichkeit bleibt nach wie vor erkennbar. Ich sage: Die Welt bleibt beschreibbar. Ich sage: Angemessen zu zweifeln kann man lernen.
Wer das Gegenteil behauptet, lügt.