Читать книгу Ende einer Lesereise - Jan Spelunka - Страница 11
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ОглавлениеMittags hatte Andreas den von seiner Tochter ausgesuchten Schreibtisch im Möbelhaus abgeholt und das sperrige Paket mühsam und mit umgeklappter Rückbank im Kofferraum verstaut. Anna würde sich freuen – fast zwei Monate hatte die Lieferzeit betragen. Vorher war, wie das halt so ist, von höchstens vier Wochen die Rede gewesen. Das Hochschleppen in die vierte Etage wurde durch heftiges Hupen unterbrochen. Er ahnte, dass es ihm galt, weil er eine Ausfahrt zugeparkt hatte. Den Ärger des Autofahrers konnte er zwar verstehen, andererseits hatte er wenig Lust gehabt, das schwere Teil hundert Meter weit zu tragen. Da nahm er lieber Beschimpfungen in Kauf. Wie es der Zufall wollte, war in der Zwischenzeit gegenüber ein Parkplatz frei geworden.
Agnes, seine erste Frau, hatte einige Brötchen geschmiert, genau das Richtige nach der Schlepperei. Wenn sie gewusst hätte, dass er Zeit mitbringt, hätte sie auch Pfannkuchen gemacht, meinte sie. Wie könnte er Annas Schreibtisch zusammenbauen, ohne Zeit zu haben? Das leuchtete Agnes ein. Sie war knapp zwei Monate älter als Andreas, in den letzten zehn Jahren aber kaum gealtert. Er wunderte sich, wie sie das schaffte trotz hartnäckiger Schlafstörungen und ewiger Rückenbeschwerden. Wahrscheinlich lag es an ihren Genen, denn Agnes fürchte weder das Alter noch versuchte sie, dagegen anzukämpfen.
Seit Langem war sie wieder verheiratet und trug seitdem den Doppelnamen Mücke-Schattauer. Soweit er es mitbekam, war die Ehe glücklich. Wenn es an Thomas etwas auszusetzen gab, dann waren es seine beiden linken Hände. Ehemann Nummer eins gleicht das Defizit von Nummer zwei aus, hatte er einmal während einer Reparaturarbeit im Spaß zu ihm gesagt. Nummer zwei war es recht, vermutlich hatte Agnes ihm von ganz anderen Defiziten bei Andreas berichtet. Vielleicht aber auch nicht. Schließlich hatte er es auch immer für sich behalten, dass sie sich beim Sex nicht konzentrieren konnte, wenn im Hotelzimmer oder wo auch immer ein Bild schief hing. In Prag war es sogar einmal eine gurrende Taube auf der Dachgaube gewesen, die ihr die Ruhe genommen hatte. Danach war der Nachmittag gelaufen.
Beim Aufbauen fragte ihn seine Tochter, ob er sich in eine Frau verlieben könne, die ihn bereits einmal schwer enttäuscht hätte. Puh, das war aber arg theoretisch – in der Liebe könnte man bestimmt nichts ausschließen, antwortete er schließlich. Um was es denn ginge? Anna erzählte von einem Jungen aus der Parallelklasse. Den fände sie ganz toll, sie zögerte – Mücke wartete auf das Problem bei der Sache. Anna setzte ihre Novembermiene auf und erwähnte, dass sich dieser Junge vor drei Jahren bei einer Klassenfahrt nach Trier eingenässt hatte, weil er nicht schnell genug aus dem Bus rauskam. Und? Na ja, sie hätten über ihn gelacht und ihr sei der Name Sickhannes rausgerutscht. Seitdem nennen ihn alle so, das fände er natürlich zum Kotzen. Und sie sei schuld, nur sie! Anna begann zu schluchzen. Andreas warf ihr eine Packung Papiertaschentücher über den fast fertigen Tisch zu. Vom Sickhannes hatte er seiner Tochter vor langer Zeit bei einem Bummel über den Weihnachtsmarkt erzählt. Das war ein Mann, der früher in Münstereifel den flüssigen Inhalt der Nachttöpfe einsammelte und den kostbaren Urin an die Gerber verkaufte. Ihm fiel nichts Besseres ein als ihr zu raten, das Gespräch mit ihm zu suchen. »Wenn du ihm sagst, dass es dir wirklich leidtut, sieht er dich unter Umständen mit anderen Augen.« Daran hätte sie auch schon gedacht, schnaufte Anna.
»Es kommt nicht darauf an, wo einer herkommt, sondern wohin er geht!« Die Aussage seines ehemaligen Politiklehrers schien auch hier zu passen.
Den Abend verbrachte Andy wieder an Monas Computer. Für die Suchmaschine war Jens Kulik kein Unbekannter. Es gab mehr Treffer, als er an einem halben Tag studieren könnte. Schon in den Neunzigern hatte sich der heute 56-Jährige als Wissenschaftler, Sprachforscher, Übersetzer und Kritiker einen Namen gemacht. Seine Vorträge seien an deutschen und ausländischen Hochschulen gefragt, hieß es in der Online-Ausgabe eines großen Wochenmagazins. Zu seinem Bedauern hätte er in Berlin eine begehrte Gastprofessur für das Sommersemester ausschlagen müssen, er hoffe aber, sie im übernächsten Jahr antreten zu können. Für das Goethe-Institut war er vor Jahren unter anderem in Asien unterwegs. Mücke druckte den Artikel aus und markierte mit einem gelben Leuchtstift ein Zitat, das ihm gefiel: Kulik ist belesen bis zum Exzess. Ein knapper Satz eines Kollegen, der alles aussagt.
Außerdem muss der Professor zahlreiche Gedicht- und Prosabände verfasst haben: Dein Gesicht im Sommernebel, Der blasse Schrei der Stille, Vatertagsmelancholie, Das grüne Feuer … Die Titel sagten Andreas natürlich nichts. Ahnung von Literatur hatte er ohnehin keine, aber manche Buchtitel bekam man durch Bestsellerlisten oder Zeitungsartikel trotzdem mit. Kuliks Bücher klangen wenig verlockend und nach schwerer Kost. Im Moment nichts für ihn, eventuell später mal. Genauso, wie er sich später mit anderen Dingen intensiver auseinandersetzen wollte. Er dachte an eine zusätzliche Fremdsprache, vielleicht Spanisch oder Portugiesisch. Der Jakobsweg fiel ihm ein und der Kontrabass, sein favorisiertes Instrument, für den Fall, dass er einmal genug Zeit und Energie zum Lernen haben würde. Auch der Buddhismus erschien ihm interessant, wie alle Religionen. Er war davon überzeugt, dass Jessica etwas Buddhistisches an sich habe. Er würde es gerne exakter benennen können, seine fehlenden Kenntnisse sowie sein überschaubarer Wortschatz gaben es aber nicht her. Für einen wie Kulik wäre das sicherlich kein Problem.
Mücke trank den letzten Schluck Tee und überflog nur noch die Überschriften zu weiteren Links. Meistens führten sie zu endlosen Artikeln, die er im Kern kannte. Allmählich wurden seine Augen müde und feucht. Dann gab es plötzlich mehrere neue Hinweise auf Kuliks umfangreiche Studien über Edith Wharton und Henry James, die in Mailand, London und den Staaten großes Aufsehen erregt hatten. Wharton und James, zwei Autoren, deren wichtigste Werke vor achtzig und über hundert Jahren erschienen waren. Auch über D. H. Lawrence muss er bemerkenswerte Aufsätze verfasst haben. Kulik der Allesleser, er bewunderte ihn. Von wegen Fachidiot! Als Mücke seine nächtliche Suche beenden wollte, fand er in letzter Sekunde einen Treffer mit brisantem Namen. Er klickte ihn an und konnte auf der Internetseite des Daily Mirror lesen, dass der deutsche Literaturforscher Jens Kulik aus Bonn im November vorletzten Jahres an einigen englischen Universitäten und in Glasgow Referate über The Lost Track von Walter de la Mare gehalten hatte – eine Erzählung, die 1926 erstmals in dem Band The Connoisseur and Other Stories in London veröffentlicht worden war.