Читать книгу Ende einer Lesereise - Jan Spelunka - Страница 9
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ОглавлениеPaula holte Julian am späten Sonntagnachmittag in Bad Münstereifel ab, weil sie mit ihm ohnehin noch zu McDonald’s fahren wollte. Ausnahmsweise hatte Julian an diesem Wochenende nicht bei ihm, sondern bei seinem besten Freund Jan übernachtet. Sein Vater hatte ihn dann nach dem Mittagessen zu Andreas gebracht. Während er mit Paula Julians herumliegende Sachen einsammelte, erzählte sie, dass es in der Druckerei nicht mehr so gut laufen würde, seit er weg wäre. Der neue Sachbearbeiter wäre wohl nichts. Das sagt ihr immer so leicht, dachte Andy. Bereits zu seiner Zeit hatten Online-Druckereien mit ihrem Preisdumping dem Betrieb langjährige Kunden abspenstig gemacht; gegen diesen Trend hatte auch er nichts ausrichten können. Sein Ex-Schwiegervater hatte sich zudem regelmäßig taub gestellt, wenn Mücke ihm dringend empfohlen hatte, dem Unternehmen mit einer leistungsstarken Digitaldruckmaschine zu einem zweiten Standbein zu verhelfen. Erstklassiger Druck auch bei geringen Auflagen – damit wäre heutzutage noch Geld zu verdienen. Flyer, Plakate, Broschüren, dazu neue Bearbeitungsprogramme in der Druckvorstufe – wie oft hatte er Ralf damit ohne Erfolg in den Ohren gelegen? Es erschien ihm sinnlos, auf ihre Bemerkung einzugehen.
»Hast du den Urlaub jetzt gebucht?«, fragte er Paula stattdessen.
»Habe ich dir das nicht erzählt? Im Mai fliege ich mit Julian nach Ibiza. In der Vorsaison lässt sich das noch bezahlen. Wenn er erst zur Schule geht, kann ich solche Reisen vergessen.«
»Nun sieh mal nicht so schwarz.« Ihr Jammern auf hohem Niveau kannte er zur Genüge.
»Du hast natürlich gut reden. Die Ganztagsstelle in der Apotheke habe ich übrigens bekommen.«
»Klasse, daran hab ich aber nie gezweifelt.«
»Bei deinem Optimismus ist mir das klar. Am 1. Juli kann ich anfangen. Mitten in der Woche finde ich zum Einstieg ganz gut.«
»Sprachst du nicht von halbtags oder etwas mehr?«
»Das wollten die nicht. Ich muss sehen, wie ich das mit Julian hinkriege. Es wäre trotzdem nett, wenn du zu der Reise etwas beisteuerst.« Dazu sagte er nichts, aber er würde nicht zimperlich sein. Töpfers Vorschuss in der Schublade stimmte ihn großzügig.
»Hast du übrigens Mittwoch Aktenzeichen XY gesehen?«
»Nein«, antwortete er, »aber ich habe gelesen, dass über eine Vergewaltigung in Euskirchen berichtet wurde. Ich schau mir den Film in der Mediathek an. Wo war das passiert?«
»Frauenberger Straße, im letzten Jahr. Hoffentlich schnappen sie den Kerl bald.«
Als die beiden gegangen waren, schloss Mücke den PC an, den Töpfer ihm ebenso bereitwillig anvertraut hatte wie den Vorschuss. Allerdings wollte er das Engagement zunächst auf zwei Wochen beschränken, danach würde man weitersehen.
Andy fuhr mit dem Mauszeiger über den Bildschirm. Der Computer aus einem Büro seiner Praxis war überwiegend von Ramona benutzt worden. Bereits bei Dr. Töpfer in Grevenbroich hatte Andreas ein privates Benutzerprofil von Mona entdeckt. Von dem versprach er sich einiges. Dass es sich ohne Passwort öffnen lässt, vereinfachte die Sache und ersparte ihm den Weg zu Bernd, der bei PC-Problemen auf alles eine Antwort wusste.
Nachdem Mona vor zweieinhalb Jahren ihren Job als Buchhalterin bei einem Bus- und Reiseunternehmen in Düsseldorf aufgegeben hatte, hatte sie einige Monate später die Buchhaltung für ihren Vater übernommen. Was zunächst als Schwangerschaftsvertretung geplant war, führte nach dem Tod der Mutter zu einer Festanstellung. Dr. Töpfer zahlte ihr zuletzt ein Gehalt von 2.450 Euro netto, konnte aber nicht sagen, ob Mona dafür nun dreißig oder fünfzig Stunden arbeiten musste, weil sie manches auch aus ihrer Wohnung in Neukirchen erledigte – einem Ort zwischen Neuss und Grevenbroich, den man ebenfalls nicht gesehen haben muss – Dr. Töpfer hatte sich den Zusatz nicht verkneifen können.
Andreas wollte sich in der Küche etwas zu trinken holen. Julian hatte sein Feuerwehrauto vergessen, über das er vor zwei Stunden beinahe gestolpert wäre. Es stand jetzt auf der Fensterbank. Irgendetwas wurde immer vergessen, da konnte man noch so aufpassen. Paulas Antwort über WhatsApp kam postwendend: Lass es einfach bei dir und gib es ihm in zwei Wochen mit! Solange Julian nicht danach verlangt, rede ich auch nicht davon.
Im Kühlschrank sah er den cremefarbenen Plastikbehälter von Jessica. Sie hatte ihm gestern früh noch selbstgemachten Nudelsalat und vegetarische Frikadellen mitgegeben. Es war eine lange Nacht mit ihr geworden, seine Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Beim Weißwein hatte er ihr von seinem Fall und Frank Töpfer erzählt. Jessica konnte nachvollziehen, dass er seiner Schwester die geforderten 18.000 Euro gegeben hatte. Vielleicht lag das daran, dass sie ebenfalls im Schuldienst tätig war. Die Zahlung war für den Bruder kein Problem gewesen, da er wie Mona fast 25.000 Euro von der Mutter geerbt hatte. Frank Töpfer hatte gesagt, dass er riesige Angst davor gehabt hatte, dass Mona die Angelegenheit tatsächlich an die große Glocke hängen würde. Vor den Kollegen, den Schülern, aber besonders vor seinen drei Kindern wäre ihm das peinlich gewesen. Er wäre davon ausgegangen, dass die schäbigen Fotoaufnahmen von der Öffentlichkeit dramatischer wahrgenommen würden, als sie in Wirklichkeit waren. Eine realistische Annahme, musste Mücke zugeben. Für manche Zeitungen wäre es ein gefundenes Fressen gewesen. Um dem zu entgehen, hatte er Mona das Geld überlassen. Vielleicht auch als Wiedergutmachung, wenn sie sich tatsächlich als Opfer gefühlt haben sollte. Möglicherweise glaubte sie, dass ihr Bruder sie auch bei anderen Gelegenheiten fotografiert hatte. Frank war es wichtig, in Frieden leben zu können. Vor allem hatte er gehofft, dass Mona ihm verzeihen würde – Mona, die er trotz ihrer Marotten und Sticheleien immer bewundert und geliebt hatte, auch wenn es ihm nie gelungen war, mit ihr ein gutes kameradschaftliches Verhältnis zu haben. Der Abend war plötzlich wieder da.
»Kameradschaft klingt für mich nach Bundeswehr oder Schützenverein«, unterbrach Jessica ihn. Beidem konnte sie nichts abgewinnen.
»Dann nimm ein anderes Wort. Du weißt, was ich meine.«
»Vertrauensvoll!«
»Meinetwegen, eventuell hat Töpfer es sogar so gesagt.« Neben ihm hatte ein aufgeschlagenes Heftchen mit Angeboten der VHS gelegen. Um Die Kraft des Charismas war ein Kringel gemacht worden; der Kursbeginn Mitte April war unterstrichen.
»Das gab es auch noch nicht, dass mein Weihnachtsgebäck den März erlebt«, sie hatte sich weit nach vorn gebeugt und zweimal in die Kristallschale gegriffen.
»Dabei ist es so gut. Ich glaube, ich werde immer fetter, seit ich dich kenne.«
»Aha.«
»Doch, im Ernst.«
»Aber bestimmt nicht von meinen Backkünsten. Am besten nimmst du was für Julian mit, was meinst du?« Er hatte wieder den Arm um sie gelegt und mit den obersten Knöpfen ihrer Bluse gespielt.
»Sag mal, die Frau von diesem Frank, wusste die eigentlich Bescheid?«
»Anfangs nicht, denn die hätte es mit Mona aufgenommen. Die müssen wie Hund und Katze gewesen sein!«
»Scheißsituation.«
»Das kannst du laut sagen! Frank hatte dafür seinen Vater eingeweiht. Gegenüber Michaela, also seiner Frau, taten beide so, als hätten die Kinder von der Mutter nur 7.000 Euro geerbt. Aber nach dem Mord an Mona und den anschließenden Ermittlungen gegen Frank Töpfer musste er ihr die Wahrheit erzählen.«
»Und wie hat sie reagiert?«
»Wohl ziemlich gelassen, aber es gab auch keine Mona mehr!«
»Scheidet der Bruder als Verdächtiger jetzt aus?« Jessica hatte sich den zweiten Kokoskeks in den Mund geschoben.
»Ich denke, schon. Einen Mord traue ich ihm einfach nicht zu. Du hättest ihn sehen müssen, da ist nichts Hinterlistiges an ihm. Natürlich kann ich mich täuschen, aber in diesem Fall …«
»Verstehe.«
»Ich weiß nicht, das passt nicht. So richtig sehe ich da kein Motiv.«
»Mona hätte ihn weiterhin erpressen können.«
»Daran hatte ich auch gedacht. Ein Motiv könnte das gewesen sein, klar. Aber es ist reine Spekulation.«
»Ist das nicht immer so bei der Suche nach Motiven?«
»Jepp. Und wenn ich demnächst nicht weiterkomme, übernimmst du den Fall.«
Ihre Logik war manchmal entwaffnend. Neulich hatte sie ihn darauf hingewiesen, dass das Licht immer plötzlich angeht, wenn man im Dunkeln ist. Also wäre es überflüssig zu sagen: Plötzlich ging das Licht an.
»Und die Familie hat dich nun engagiert, den Mörder zu finden, oder was?«
»So dramatisch sehe ich das nicht. In erster Linie ist das ja Aufgabe der Polizei. Aber der Doktor will die Suche unterstützen. Und er hat mich darum gebeten, ihm alles über seine Tochter mitzuteilen. Er will wissen, wie sie wirklich gewesen war. Ob sie Talent und Erfolg hatte. Wie sie auf den Namen de la Mare gekommen war, was sie damit verband und so weiter. Alles eben!«
»Aha.«
»Ihre Homepage hat er letztens von vorne bis hinten studiert. Dort entwirft Mona ein Bild von sich, das so ganz anders ist als seine persönlichen Erinnerungen.«
»Das klingt nach schlechtem Gewissen.«
»Das gibt er sogar offen zu. Er bedauert, seine Arbeit immer vor die Familie gestellt zu haben.«
»Wie so oft! Hat er wenigstens ihre Bücher gelesen?«
»Das will er nachholen, momentan ist ihm nicht danach. Mona wollte ihm die Bücher allerdings auch nicht schenken. Sie bestand darauf, dass er sie wie jeder andere zu kaufen habe. Das waren ihre Worte: zu kaufen habe.«
»Eine Frage der Ehre, oder?«, fragte Jess. Das vermutete Andy ebenfalls. Er kannte vor Jahren einen meist gutgelaunten Musiker, der kein Problem damit hatte, seinen Freunden ohne Ende die Getränke zu spendieren. Wer allerdings eine CD zum ermäßigten Preis haben wollte, lernte seine andere Seite kennen. Für Dr. Töpfer muss es dennoch undankbar geklungen haben, schließlich hatte er sich bei ihrem Gehalt auch nicht kleinlich gezeigt.
»Nimmst du noch Wein?«
»Immer«, er löste die Hand von ihrer Brust, strich sich kurz durchs Haar und hielt ihr das Glas hin.
»In einer Neusser Buchhandlung muss er sogar nach Monas erstem Buch gefragt haben. Man sagte ihm, das Haus führe solche Verlage nicht.«
»Solche Verlage?« Jess hatte ihn interessiert angeschaut. Ihre braunen Augen schienen nie müde zu werden.
»Keine Ahnung, was sie meinten. Damit kennst du dich bestimmt besser aus. In den nächsten Tagen muss ich mir unbedingt Passwort Hurensohn besorgen. Auf die autobiografischen Verbindungen bin ich gespannt. Hoffentlich hat Mona da nicht auch geflunkert, ich befürchte fast schon eine Luftnummer.«