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Nur sechzig Minuten hatte Mücke bis zur Parkstraße in Grevenbroich benötigt, die A 1 und A 61 hatten eine zügige Fahrweise zugelassen. Jetzt stand er vor dem Haus von Dr. Töpfer und checkte noch die SMS, die alle kurz hintereinander am Bliesheimer Kreuz eingetroffen waren. Anna hatte eine Zwei plus in Biologie geschrieben, das Thema wäre spannend gewesen: Die Reise des Blutes im menschlichen Körper. In einer zweiten SMS teilte sie mit, dass sie am geplanten Wochenende keine Zeit hätte. Aber in der übernächsten Woche würde sie mit ihm nach Köln fahren wollen. Allerdings ins Sport- und Olympiamuseum – nicht ins Schokoladenmuseum, das wäre ziemlich out. Sollte Julian da sein, könnte er mit ihm ruhig ins Schokohaus gehen. Die Gebäude lägen nebeneinander und Stress mit dem Kleinen müsse ihretwegen nicht sein.

Geht doch, dachte Mücke. Er hatte Anna letztens darum gebeten, auf die vielen Abkürzungen in ihren Mitteilungen zu verzichten, da er keine Lust zu ewigen Rätselspielchen hätte. Die würde außer ihm jeder verstehen, erwiderte sie schnippisch. Natürlich, was sollte BDF auch anderes heißen als Best Dad Forever? Mücke war davon überzeugt, dass der Sinn und Zweck des jugendlichen Netzjargons darin bestand, dass er eben nicht von allen verstanden werden sollte. Die dritte SMS kam von seinem Gasanbieter: e-Regio erinnerte ihn an die Ablesung des Zählerstandes. Mücke nahm sich vor, das sofort nach seiner Rückkehr zu erledigen. Jetzt hoffte er erst einmal, dass er den Auftrag bekommen würde. Sicherlich hätte Töpfer ihn angerufen, wenn er es sich anders überlegt gehabt hätte.

Der Blick zum Himmel machte den Tag nicht besser. Feiner Nieselregen benetzte sein Gesicht, als er das kleine gusseiserne Tor öffnete und durch den Vorgarten ging. Der Weg zur Praxis führte geradeaus weiter. Dr. med. H. Töpfer – Arzt für Allgemeinmedizin stand auf dem weißen Schild. Die Sprechzeiten waren überklebt, weil die Praxis vorübergehend geschlossen war. Der Pfad zum privaten Eingang war besonders schmal und führte seitlich am Haus vorbei. An der Futterstation neben der Haustür baumelten zwei Meisenknödel, die unberührt aussahen. Ein Aufkleber am Briefkasten verriet, dass Familie Töpfer keine Werbung wünschte. Andy Mücke drückte die Klingel. Mit kurzer Verzögerung erklang eine geradezu fröhliche Melodie, die ihm unpassend erschien. Unter Umständen ließ sie sich nicht umstellen, oder man hatte sich dran gewöhnt – empfand sie nicht als störend, weil es immer so gewesen war.

Ein großer Mann in salopper Kleidung öffnete und gab ihm zaghaft die Hand. Aus einem der Zimmer drang aufgeregtes Hundegebell, es klang nach einem großen Hund. Dr. Töpfer nahm ihm die Jacke ab und ging voran ins geräumige Wohnzimmer. Seinen Hund forderte er durch die geschlossene Tür auf, ruhig zu sein. Auf der Stelle, es reicht.

Mücke blickte sich um. Anthrazitfarbene Bodenfliesen, eine Schrankwand aus Wildeiche, ein gewaltiger Esstisch mit mindestens zehn Stühlen. Bilder aus der impressionistischen Epoche hingen gleich an mehreren Wänden. Eine englische Klubgarnitur, wie er sie aus dem Haus seiner Schwiegereltern kannte: Viersitzer, Zweisitzer, Sessel, Sessel. Jedes Teil mit klobigen Füßen aus Buche. Die Einrichtung zeigte durchaus Geschmack – Mücke wäre sie trotzdem zu wuchtig. Vielleicht eine Frage des Alters, vielleicht auch eine des Geldes. Um den Natursteinkamin beneidete er ihn.

»Schön, dass Sie gekommen sind, Herr Mücke«, er wiederholte die Begrüßung von der Tür. »Nehmen Sie Platz. Was kann ich Ihnen anbieten?«

»Einen Kaffee, wenn’s nicht zu viel Arbeit macht. Nach der Autofahrt kann ich einen vertragen.«

»Das dachte ich mir. Er ist so gut wie fertig.«

Dr. Töpfer verschwand in die benachbarte Küche. Mücke hörte an den bekannten Geräuschen, dass Porzellan und Besteck zusammengestellt wurden. Durch den Fensterspalt bewegte der Wind die Gardinen – ganz sanft, kaum sichtbar. Er schaute sich weiter um. Für Neil Young schwärmte auch sein Vater. Zu seinem 65. Geburtstag im vergangenen Jahr hatte er ihm zwei Konzertkarten und eine Live-DVD geschenkt. Die anderen CDs sagten ihm bis auf Easter von Patti Smith nichts, er legte sie zurück auf den Abstelltisch neben den Briefen. Nebenan war etwas zu Boden gefallen, zwischendurch sprach Dr. Töpfer mit sich selbst. Papier raschelte, er packte etwas aus. Mücke legte die Post zurück. Früher hätte er sich so etwas nicht getraut, aber auf dem Lehrgang hatte einer der Dozenten die Teilnehmer zu forschem Verhalten ermutigt. Das mochte sinnvoll sein, solange man nach etwas Bestimmtem suchte. Im Moment könnte er sich damit aus dem Job kicken.

»Mein Sohn kommt übrigens nachher dazu. Er hat sich direkt nach dem Unterricht auf den Weg gemacht. Sie sind hoffentlich einverstanden …« Mücke nickte, mit Daumen und Zeigefinger berührte er sein stoppeliges Kinn. Das war es, was er zu Hause vergessen hatte.

»Manchmal unterrichtet er auch nachmittags oder gibt Nachhilfe. Frank muss immer was tun – vermutlich eine Überfunktion der Schilddrüse. Aber er ist unterwegs, das sagte ich bereits. Er wohnt in Veert, einem Ortsteil von Geldern. Kennen Sie die Stadt?« Töpfer musterte ihn mit neugierigen Augen.

»Schon mal gehört, aber sonst …« Andreas Mücke hoffte, dass sich die Nervosität bald legen würde. Ihm ging es nicht besser als Dr. Töpfer, der es ihm bestimmt nicht negativ auslegen würde. »Finden dort nicht immer die Straßenmaler-Wettbewerbe statt?«

»Richtig, es ist ganz nett dort, doch man muss Geldern nicht unbedingt gesehen haben.«

»Da fallen mir aber noch ganz andere Orte ein.«

»Stimmt, und meistens ist die eigene Stadt auch dabei. Wenn etwas fehlt, müssen Sie es sagen. Die Auswahl beim Bäcker war leider nicht mehr sehr groß«, er sagte das entschuldigend. »Ich wäre besser früher einkaufen gegangen.«

»Das sieht doch klasse aus!« Außer einem Joghurt hatte Andy noch nichts gegessen. Der Anblick der Teilchen weckte seinen Appetit.

»Greifen Sie zu, ich wollte Ihnen sowieso noch erzählen, warum mein Sohn in Verdacht stand. Ich möchte das sofort tun, bevor er hier ist. Über das Geschäftliche können wir dann später reden, wenn es Ihnen recht ist.«

»Okay, das können wir so machen. Darf ich vorher noch fragen, ob Mona de la Mare seine Schwester war?«

»Ja, natürlich. Mona ist … Mona war seine Schwester. Ramona heißt sie richtig. Mir fällt es schwer, in der Vergangenheit zu sprechen. Und sie war natürlich auch meine Tochter!«

»Aber sie hieß doch de la Mare?«

»Das ist ihr Künstlername!«

»In der Zeitung stand, dass sie die Enkelin oder Urenkelin des Schriftstellers Walter de la Mare war.« Andy Mücke ärgerte sich über sein Oder – als Ermittler sollte er es genau wissen.

»Das ist purer Blödsinn. Entschuldigung, Herr Mücke, wenn ich das so sage. Soweit ich es beurteilen kann, lebte Mona in einer Scheinwelt oder im Wolkenkuckucksheim, wie es früher bei uns hieß. Sie hat sich immer wieder Dinge eingeredet, die ihr gefielen. Deshalb stand auch Frank, also mein Sohn, in Verdacht, sie getötet zu haben. Mona hatte ihn in der Hand. Wegen einer Lappalie!«

Davon hatte Mücke gelesen. Dass sie dagegen nicht wirklich de la Mare geheißen hatte, erstaunte ihn. Darauf war kein Zeitungsartikel eingegangen. Und den Hinweis, dass sie die Urenkelin von Walter de la Mare gewesen sein soll, hatte er nicht der Boulevardpresse, sondern einem Nachrichtenmagazin entnommen.

»Wissen Sie, Mona konnte schon sehr launisch sein und aus allem ein Drama machen«, fuhr der Doktor fort.

»Sie sagten gerade, Frank stand in Verdacht. Jetzt nicht mehr?«

»Die Kriminalpolizei glaubt nicht ernsthaft daran, wie ich erfahren konnte. Aber dennoch möchten wir, dass Monas Mörder gefasst wird. Es ist nicht so, dass wir das der Polizei nicht zutrauen …«

»Was heißt: Mona hatte ihn in der Hand?«

»Erpressung käme mir als Ausdruck übertrieben vor.«

»Könnte man aber so sehen?«, wollte Mücke wissen.

»Könnte man, ja.«

»Wie ich gehört habe, wird Ihrem Sohn sexueller Missbrauch seiner kleinen Schwester vorgeworfen. Auch von Kinderpornografie ist die Rede gewesen. War das der Grund dafür?«

»Mona hat für ihre Karriere alles getan. Ihr schien jedes Mittel recht, wenn es nur die richtigen Schlagzeilen einbrachte. Sexueller Missbrauch passte da prima rein.«

»Wie die Erfindung des Urgroßvaters?« Mücke wischte sich einige Kuchenkrümel vom Mund.

»Genau. Eigentlich war sie mir immer rätselhafter geworden. Über vieles hat sie mit uns nicht geredet oder wir haben zu wenig oder zu selten nachgefragt«, Dr. Töpfer zuckte mit den Schultern. Er schaute Mücke ins Gesicht, »auch deshalb würde ich Sie gerne engagieren.«

»Was wurde Ihrem Sohn denn jetzt konkret vorgeworfen?«

Bevor er weiter erzählte, fummelte der Doc kurz an seinem Kragen herum: »Tatsächlich existieren neun heimlich aufgenommene Fotos, die Frank vor Urzeiten von Ramona und vier ihrer Freundinnen an unserem Pool da hinten gemacht hatte. Damals waren die Mädchen dreizehn oder vierzehn, Frank schon um die zwanzig, aber irgendwie war er … na ja – verklemmt eben. In Bezug auf Frauen, meine ich. Es kann sein, dass er das von mir hat. Bei ihm war es allerdings extrem ausgeprägt. Ich bin davon überzeugt, dass Michaela bis heute seine einzige Frau ist. Sie verstehen, was ich damit sagen will?«

Mücke betrachtete ihn gelassen. »Verstehe. Und Michaela ist seine Ehefrau, nehme ich an.«

»Exakt.« Auch Dr. Töpfer hatte sich jetzt im Griff. Innerhalb eines Jahres hatte er zunächst seine Frau und vor zweieinhalb Wochen seine Tochter verloren. Sein Sohn wurde zwischenzeitlich von einigen als Scheusal dargestellt, glücklicherweise hatte die Kripo in Bonn wenig Details weitergegeben. Auf Andy machte Töpfer den Eindruck eines gebrochenen alten Mannes. Seine Tränensäcke waren dunkel verfärbt. Irgendwie mochte er ihn.

»Und Frank hat die Mädchen damals nackt fotografiert. Das war alles?«

Dr. Töpfer winkte ab. »Es waren nicht einmal richtige Nacktaufnahmen!«

»Heißt?«

»Einige frühreife Brüste sind zu erkennen, hier und da Pobacken, weil die Mädchen die Bikini-Unterteile zu Tangas umfunktioniert hatten. Mehr war da nicht. Ich heiße das Fotografieren nicht gut, überhaupt nicht, aber unter Missbrauch stellt man sich wohl Schrecklicheres vor.«

»Das stimmt. Solche Fotos könnte man an jedem Badestrand schießen, auch damals schon.«

»Es ist übrigens erst rausgekommen, als sich Mona vor zwei Jahren Franks Laptop ausgeliehen und dabei die Fotos entdeckt hatte.«

»Dann hat er die Bilder nachträglich digitalisiert?«

»Das war die größere Dummheit, wenn Sie mich fragen. Aber das hat er mit allen Fotos gemacht. Tausende müssen das gewesen sein, ich weiß es nicht genau. Frank hat immer massig fotografiert, wir haben ihm viele Erinnerungsstücke zu verdanken.«

Andreas Mücke schielte auf das Kuchentablett, das verführerisch in der Mitte des Tisches stand.

»Natürlich, greifen Sie zu!«

Er nahm sich ein zweites Stück Mohnkuchen, während Töpfer beiden Kaffee nachgoss. Der Doktor wartete einen Augenblick, lehnte sich in den Sessel zurück und fuhr fort.

»Ich kann mir sogar vorstellen, dass Mona ihren großen schüchternen Bruder damals absichtlich provozieren wollte. Sie war ein gut gelauntes, zu Späßen aufgelegtes Mädchen, das überall beliebt war und reichlich Freundinnen und Freunde hatte. Frank war das genaue Gegenteil, er trug immer etwas Quälendes oder Melancholisches mit sich herum. Wir konnten mit ihm darüber nicht sprechen, das wollte er nicht. Meine Frau glaubte lange Zeit, er sei homosexuell, dass er sich dafür schäme und sich nicht offenbaren wolle. Dabei wäre das für uns kein Problem gewesen. Höchstens in dem Bewusstsein, dass es ihm dadurch im Leben schwerer gemacht werden würde. Haben Sie auch Kinder?«

»Ja, zwei. Ein Mädchen, ein Junge.«

»Wie bei uns, dann verstehen Sie solche Sorgen?«

»Klar doch.« Mücke war sich inzwischen sicher, dass er für die Töpfers arbeiten wollte.

»Mona hatte sich dauernd über ihn lustig gemacht, das mag in diesem Alter verständlich sein. Erst als Michaela in sein Leben trat, taute unser Sohn so nach und nach auf. Das war vor etwa zehn Jahren. Wir freuten uns über diese Entwicklung, denn bis dahin sahen wir in Frank schon den lebenslangen Einzelgänger. Ramona blieb distanziert, etwas hatte sie an ihrem Bruder immer auszusetzen gehabt. Als Michaela und Frank das erste Kind bekamen, erzählte sie mir, dass sie sich niemals für einen Partner so verbiegen würde. Der wäre bis auf seine Kaspernase doch gar nicht mehr er selbst. Sie lachte mich aus, nannte es eine verstaubte Pazifisten-Weisheit, als ich sagte, ohne Kompromisse gehe es im Leben nicht.« Eine Spur Resignation lag in seiner Stimme.

»Klingt fast so, als hätte sie an Frank das vermisst, was ihn vorher so seltsam machte.«

Dr. Töpfer nickte. Das hätte er beispielsweise gemeint, als er sagte, Ramona wäre ihm in vielen Dingen so fremd gewesen.

Ende einer Lesereise

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