Читать книгу Ende einer Lesereise - Jan Spelunka - Страница 5
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ОглавлениеDie Blutung unterm Fuß beruhigte sich, nachdem Andy Mücke den Verband ein weiteres Mal gewechselt hatte. Mit dem Besen kehrte er die tausend Teile der zerbrochenen Apfelsaftflasche zusammen. Beim Putzen musste er nachher höllisch darauf achten, dass alle Splitter aufgewischt würden. Es wäre schlimm, wenn Julian sich am Wochenende daran verletzen würde. Im Radio liefen schon die Verkehrsnachrichten, als das Telefon klingelte. Der Wetterbericht hatte zuvor Schneeregen für den Abend prophezeit. Bereits die ersten Märztage waren eine Zumutung gewesen, allmählich reichte es.
»Spreche ich mit Herrn Mücke?«, fragte die unbekannte Stimme.
»Sie haben doch meine Nummer gewählt.«
»Aber Sie haben sich nur mit Hallo gemeldet.«
»Ach so, Entschuldigung! Sie reden mit Andreas Mücke. Und mit wem spreche ich?«
»Da wusste ich schließlich nicht, mit wem ich rede«, verteidigte sich der Mann am anderen Ende der Leitung.
»Das haben wir ja jetzt geklärt.«
»Das stimmt, Herr Mücke.«
»Und was kann ich für Sie tun, Herr …?«
»Töpfer, Herbert Töpfer. Wir brauchen Ihre Hilfe wegen des Mordes in Bad Münstereifel vor zwei Wochen. Sie haben das gewiss mitbekommen.«
»Oh ja, es stand groß in der Presse, und das nicht nur hier bei uns. Eine schreckliche Geschichte.«
»Sie sagen es: eine schreckliche Sache. Es ist so, dass mein Sohn von der Polizei verdächtigt wird. Aber das ist absurd.«
»Ihr Sohn?« Mückes Blick wanderte über die bunte Figurensammlung aus Ü-Eiern auf der Fensterbank. Ein Kung-Fu-Panda war dazu gekommen, das konnte nur Anna gewesen sein.
»Ja, mein Sohn Frank.«
»Wie sieht’s denn mit einem Alibi aus? Hat er eins?«
»Vielleicht, nicht direkt.«
»Also kein Alibi. Und jetzt suchen Sie einen Detektiv, der die Sache aufklären soll?« Die tiefe Schnittwunde schmerzte, aber das war kein Grund, auf die etwas verunsicherte Stimme so gereizt zu reagieren. Mücke riss sich zusammen, zumal er merkte, dass ihn die Geschichte zu interessieren begann.
»Ist das so ungewöhnlich?«
»Nein, natürlich nicht. Hat Ihr Sohn einen Rechtsanwalt, Herr Töpfer?«
»Sie wohnen doch in der Stadt. Ich möchte nichts unversucht lassen.« Ein weiteres Mal hatte Töpfer die an ihn gerichtete Frage ignoriert.
Andy Mücke ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken. Mit der Fernbedienung schaltete er das Radio leiser und kurz darauf ganz aus. Er fragte Herrn Töpfer nach den Vorwürfen und seiner Sichtweise. Mit dem Unterarm verschaffte er sich gleichzeitig Platz auf dem Schreibtisch, zog den karierten Block heran und machte sich Notizen. Ein stichfestes Alibi hatte der Sohn, Frank Töpfer, nicht. Dass er den Abend in der angemieteten Scheune verbracht hatte, um einen alten VW oder was auch immer zu restaurieren, konnte niemand bezeugen. Brennendes Licht und Schleifgeräusche reichten nicht aus. Es sah schwer danach aus, als hätte Mücke die erste größere berufliche Herausforderung vor sich. Er sagte dem Doktor – wie er inzwischen erfahren hatte – zu. Eine reine Bauchentscheidung! Und möglicherweise ein weiterer Schritt nach vorn.
Nach seiner zweiten Scheidung hatte sich Mücke vor Monaten als Detektiv selbstständig gemacht, nachdem er in der Druckerei seines ehemaligen Schwiegervaters nicht hatte bleiben wollen. Daran änderten auch Ralfs bis zuletzt weichmachen wollenden Umstimmungsversuche nichts. Mücke brauchte saubere Verhältnisse, selbst wenn er scheitern sollte. Im neuen Job hatte er keine Berufserfahrung, aber immerhin die erforderlichen Kenntnisse über mehrere Monate durch einen kostspieligen Intensivkurs erworben. Er war jetzt geprüfter Privatermittler mit einem IHK-Zertifikat; dennoch blieb es eine mutige Entscheidung.
Zu seiner Erleichterung kam er finanziell einigermaßen über die Runden. Natürlich verdiente er mit dem Aufdecken von Lohnfortzahlungsbetrügern oder der Beschattung von untreuen Ehemännern keine Unsummen, aber letztlich reichte es schon zum Leben. Mit der Zeit konnte es eigentlich nur besser werden. Dass gerade er nun Licht in einen Mordfall bringen sollte, schmeichelte Mücke. Auf so einen Auftrag hatte er gewartet, der würde ihm einiges abverlangen. Wie und warum Dr. Töpfer auf ihn gekommen war, würde er später erfahren. Wahrscheinlich war es Zufall. Es traf sich gut, dass die aktuellen Observationen abgeschlossen und nur noch ein Bericht sowie zwei Rechnungen zu schreiben waren. Übermorgen würde er zu Töpfer nach Grevenbroich fahren, dann ließe sich in Ruhe über alles reden. Am Telefon war Dr. Töpfer aufgeregt gewesen, man könnte ohne Übertreibung sagen, etwas neben der Spur. Vor allem der Zusammenhang von angeblich harmlosen Fotos und der Erpressung erschien ihm schleierhaft. Bis Freitag wollte Mücke sich alle Zeitungsartikel und sonst verfügbaren Informationen zum Mord an der jungen Frau besorgen. Erst jetzt fiel ihm ein, vor einer Woche gelesen zu haben, dass der Bruder der Getöteten unter Verdacht stand. Hatte Dr. Töpfer etwa vom gleichen Mann gesprochen? Das bedeutete doch auch, dass er der Vater der Ermordeten war. Oder der Stiefvater? Davon hatte er nichts erwähnt, was bei seiner Zerstreutheit nichts besagt. Aber hieß die Tote nicht ganz anders?