Читать книгу Ende einer Lesereise - Jan Spelunka - Страница 8
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ОглавлениеAls er losgefahren war, fiel ihm nach wenigen Kilometern ein, nicht danach gefragt zu haben, wie Mona zur Lesung nach Bad Münstereifel gekommen war. Er hielt noch vor Erreichen der A 61 am Straßenrand, tippte Dr. Töpfers Nummer ein, speicherte sie bei dieser Gelegenheit und stellte seine Frage. Der Doc sagte, ein Streifenwagen habe ihr Auto am folgenden Tag auf dem Parkplatz am Bahnhof gefunden. Die Kripo hätte es mitgenommen und Spuren gesichert, allerdings mehr aus Routine – ein Zusammenhang mit der Tat, hieß es, sei unwahrscheinlich. Sein Sohn rief aus dem Hintergrund, dass er den Wagen demnächst in Bonn abholen würde. Andreas hatte Frank Töpfer als unentspannten, gehetzten Mann kennengelernt, der von allerlei Wehwehchen geplagt war und auf der großen Couch der edlen Klubgarnitur hin und her rutschte. Sein freundliches Gesicht stand fast im Widerspruch zu seinem unruhigen Verhalten.
Es war 23 Uhr, als Andy Mücke die Abfahrt Mechernich verließ und seinen schwarzen Golf Richtung Nöthen steuerte. Danach waren es nur noch wenige Kilometer, die ihn von Bad Münstereifel und Jessica trennten. Bereits am frühen Abend hatte er aus Grevenbroich die Verabredung im Landgasthaus Steinsmühle absagen müssen. Sie hatte ihm vor über zwei Stunden geantwortet, dass sie zu Hause allein gegessen habe, er aber noch auf ein Glas Wein vorbeikommen könnte, sofern es nicht zu spät werden würde. Er stellte den Wagen vor seiner Haustür ab, legte vorsichtshalber die Wolldecke über den PC, den Dr. Töpfer ihm mitgegeben hatte, und tippte in sein Smartphone: Bin endlich da. Freue mich auf dich, bis gleich!
Die Straßenlaternen tauchten die Ashfordstraße in ein nebliges, gelbliches Licht. Die wenigen Meter zu Jessica würde er laufen, eine Frage von Minuten. Seit über vier Monaten trafen sie sich und er hatte bereits etliche Male bei ihr übernachtet. Er war sich nicht sicher, ob man schon von einer Beziehung reden konnte. Jess wollte die noch nicht, sie hatten zuletzt in der Neujahrsnacht darüber gesprochen. Das war einige Wochen her. Seitdem hatte er das Gefühl, dass es aufwärtsging mit ihnen.
Kennengelernt hatten sie sich drei Tage vor ihrer Scheidung Ende Oktober in einer kleinen Kneipe im Ortskern, dem Little Bit. Da waren Bernd und er ebenfalls spät dran gewesen. Kein Nachteil, wie sich herausgestellt hatte. Einige Leute von Jessicas Tisch hatten sich lautstark dafür eingesetzt, dass der Wirt die beiden Nachtfalken noch reinlassen sollte. Bernd Bödecker war sein Freund, sein bester eigentlich, dem Andy in der Vergangenheit oft beim Um- oder Ausbau seines Euskirchener Autohauses geholfen hatte. Die ihm bis dahin unbekannte Jessica hatte mit ihren Bekannten aus dem Tennisklub an einem Ecktisch gesessen. Als wenig später zwei Paare nach einem Blick auf die Uhr die Runde abrupt verlassen hatten, wurden Bernd und er gefragt, ob sie sich nicht dazusetzen wollten. Vorher wäre ihnen dieser Tisch zu laut gewesen, doch ihm hatte die zurückhaltende, nachdenkliche Art dieser braunhaarigen Frau mit dem sympathischen Lächeln, den schmalen, dunklen Augenbrauen und der hochgesteckten Frisur gefallen. Die Blickkontakte zwischen ihnen waren mehr geworden. Zur Begrüßung und zum Dank für den nächtlichen Einlass hatten sie zwei Tischrunden spendiert und sich an den Gesprächen beteiligt. Als Rudi, der Wirt, gegen zwei Uhr schließen wollte, waren sie nur noch zu dritt gewesen. Bernds schwache Proteste und die Bitte nach einem letzten Kölsch blieben unbeachtet. Rudi pustete die Kerzen auf der Flussmauer direkt vor seinem Lokal aus, gab allen einen Klaps auf die Schulter, sagte mit gewohnt rauer Stimme noch etwas zweideutig Witziges und schloss mit einem »Maat et joot« die Tür hinter ihnen endgültig ab.
Bernd hatte so getan, als müsste er für den Heimweg unbedingt in die andere Richtung. Eigentlich kam es aufs Gleiche hinaus, aber offensichtlich wollte er Andy mit Jessica alleine lassen, zudem hatte er ordentlich einen im Kahn gehabt. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, bot Mücke Jessica an, sie nach Hause zu bringen. Wie sich herausstellte, lag ihre Wohnung auf seiner Strecke, aber auch ein Umweg hätte ihm in dieser milden Herbstnacht nichts ausgemacht. Das violette T-Shirt mit der Aufschrift Big City Night unter der unvermeidlichen Lederjacke hatte sich nicht als zu dünn herausgestellt. Unpassend war es höchstens, es in Bad Münstereifel zu tragen.
»Hast du die mal gezählt?«, hatte ihn Jess auf den vielen Stufen zur oberen Stadtmauer gefragt, durch die ihr Weg führte.
»Schon oft! Seit ich ihn nicht mehr trage, fragt mich mein Sohn jedes Mal danach, wenn wir hinauf müssen. Aber ich kann mir die Zahl nicht merken, wahrscheinlich komme ich auch jedes Mal zu einem anderen Ergebnis.«
»Wie alt ist dein Sohn?«
»Julian ist gerade fünf geworden.«
»98 Stufen sind es. Jeden Tag muss ich die mindestens einmal bewältigen, und runter natürlich auch, wenn ich zum Bahnhof gehe.«
»Eine Zahl unter 100 wird er mir nie glauben. Julian behauptet sogar, es wären mehr Stufen geworden.«
»Das ist ja süß. Fast wie der Spruch Der Mond hat sein Licht angemacht. Weißt du, aus welchem Film das ist?«
»Im Moment nicht. Willst du mich etwa prüfen?«
»Unsinn, ich komme selbst nicht drauf. Nur das Zitat war plötzlich da, als hätte man es mir gerade ins Ohr geflüstert.«
»Leider war ich nicht der Flüsterer«, scherzte Andy.
Jessica blieb stehen und blickte entspannt zum Himmel. »Am Ende war es der Mond selbst – unser einziger Begleiter, wenn wir von den Sternen absehen.«
»Der Sternenhimmel über uns ist wirklich grandios.«
»Ich weiß«, antwortete sie mit sanfter Stimme.
Vor Jessicas Haustür hatten sie sich für die folgende Woche verabredet, nachdem sie keine Anstalten gemacht hatte, ihn nach oben in ihre Wohnung zu bitten.
»Gleicher Tag, gleiche Uhrzeit, gleiches Lokal«, hatte Andreas ihr vorgeschlagen. Nicht gerade einfallsreich von mir, hatte er Sekunden später gedacht, aber besser, als gar nicht zu fragen. Eigentlich wollte er bis zum Wiedersehen keine volle Woche verstreichen lassen, doch ihm fehlten plötzlich die richtigen Worte. Dafür hatte er trotz seiner zweiundvierzig Jahre ein Kribbeln verantwortlich gemacht. Vielleicht dieses gleichermaßen verfluchte wie schöne Kribbeln im Bauch, wie es in einem Song aus seiner Jugendzeit besungen wurde.
»Komm besser früher, damit Rudi dich diesmal sofort reinlässt. Wir werden ihn nicht jedes Mal umstimmen können.« Sie hatte ihre Sporttasche abgestellt und ihn kurz gedrückt – gerade so, dass sich ihre Wangen leicht berührten.
»Als könnte dir einer etwas ausschlagen! Ist acht früh genug?«
»Das ist es, ich komme gegen neun. Wäre nett, wenn du mir einen Platz frei halten würdest.«
»Gut, dass du es sagst«, so ganz waren ihm die Worte doch nicht abhandengekommen.