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Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht, Mona de la Mare war ihr Name. Vor Mücke lagen rund zehn Artikel, die er in Zeitungen aus seiner Altpapierkiste gefunden und ausgeschnitten hatte. Im Netz war er auf weitere Berichte gestoßen. Deren Ausdrucke lagen gestapelt neben der Tastatur. Der Mord an der jungen Autorin hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt, obwohl sie als Schriftstellerin erst am Anfang ihrer Karriere gestanden hatte und den wenigsten ein Begriff war. Für ein Kölner Boulevardblatt war Mona allerdings der uneingeschränkte Shootingstar unter den Selfpublishern – klar, dass deren Leute wieder mal genau im Bilde waren. Die meisten Artikel wiederholten sich jedoch in Aufmachung und Inhalt. Nach dem fünften Bericht hatte Mücke das Gefühl, alle zu kennen und seine Zeit zu vergeuden. Es kam einfach zu wenig Neues hinzu. Lediglich ein Nachrichtenmagazin erwähnte in einer umrandeten Notiz, dass es sich bei Mona um die Urenkelin des britischen Schriftstellers Walter de la Mare handelt, der mit seinem Tod im Jahre 1956 ein imaginäres Werk hinterlassen habe, das teilweise ins Deutsche übersetzt worden war. Wie die Ermordete habe sich auch der britische Autor erst mit dreißig auf die Schriftstellerei konzentriert. Er sei kein Freund modischer Trends gewesen. Mona de la Mare habe darunter gelitten, hieß es abschließend, weit nach seinem Tod geboren worden zu sein. Sie hätte immer, nicht nur als Autorin, eine kaum zu beschreibende, tiefe Sehnsucht nach ihm verspürt. Irgendwann würde sie an dieser unerfüllten Sehnsucht zerbrechen, hätte sie in Freundeskreisen prophezeit.

Einige Ausschnitte legte Mücke auf den Lederhocker; er würde sie später sortieren und Wichtiges mit einem Textmarker hervorheben. Die anderen Blätter und Schnipsel warf er zu den Zeitungsresten in die Ecke. Zum Wochenende würde er ohnehin aufräumen, wenn Julian kam, sein Sohn aus zweiter Ehe, die seit einem halben Jahr geschieden war. Jetzt musste er erst etwas essen. Zwei Käsebrote und ein bisschen Obst würden reichen, vielleicht noch ein Joghurt und ein Bier dazu. Entgegen dem gängigen Klischee über einsame Detektive war sein Kühlschrank meist gut gefüllt und auch die Drei-Zimmer-Wohnung in der Ashfordstraße drohte nicht zu verwahrlosen. Als Jessica das erste Mal bei ihm war, nannte sie seine Wohnung ein Gedicht. Und damit meinte sie nicht nur die bevorzugte Wohnlage oberhalb Bad Münstereifels, denn sie sprach auch von äußerer Ordnung und innerem Frieden. Das hatte ihn zunächst etwas verwirrt, später fühlte er sich geschmeichelt. Er war nicht der Typ, sich nach einer gescheiterten Ehe erst einmal hängen zu lassen. Das hätte er auch seinen Kindern nicht zumuten wollen. Neben Julian hatte er noch eine Tochter aus der ersten Ehe mit Agnes. Mittlerweile war Anna vierzehn, neun Jahre älter als ihr kleiner Bruder. Sie kam oft zu ihm, aber nicht regelmäßig jedes zweite Wochenende, wie Julian das tat. Anna hatte gerne ihre Freundinnen aus Euskirchen um sich, außerdem sagte sie ganz offen, dass Bad Münstereifel für Jugendliche voll langweilig – oder wie sie es neulich nannte: zum Abkacken – wäre. Anna hatte es inzwischen aufgegeben, ihren Vater zu einem Umzug nach Euskirchen zu bewegen. Andy Mücke wollte das allein wegen seiner beiden Ex-Frauen nicht – er hatte wenig Lust, ihnen ständig zu begegnen. Zwar war die Trennung von Paula für Außenstehende nahezu harmonisch verlaufen. Gemeinheiten hatte es auch bei Agnes nicht gegeben, aber die Distanz von gut vierzehn Kilometern war ihm ganz lieb. Im Übrigen mochte er sein beschauliches Städtchen, wo er bereits zur Schule gegangen war, besonders wenn es ihm abends beim Blick aus dem Fenster erleuchtet zu Füßen lag. Dass man daraus vor Kurzem ein Outlet-Dorf gemacht hatte, hat ihn bis auf die übertriebenen Erwartungen nicht gestört. So gewaltig waren die Veränderungen gar nicht ausgefallen, da der historische Kern innerhalb der Stadtmauer komplett unter Denkmalschutz stand. Jedenfalls hatte die Zeit der leer stehenden Ladenlokale vorerst ihr Ende gefunden. Seitdem wurde Bad Münstereifel neues Leben eingehaucht.

Mücke breitete die beiseite gelegten Blätter und Ausschnitte großflächig vor sich aus. Den PC erlöste er dabei unbeabsichtigt aus dem Ruhemodus, aber das spielte keine Rolle, weil er ihn ohnehin brauchte. Der Zeitungsartikel zu Monas Lesung war ein absoluter Witz. Einige belanglose Zeilen und kein Hinweis auf den Mord, über den auf der Titelseite groß berichtet wurde. Leider wurde kein Foto geschossen, so wiederholten sich überall die gleichen Profilbilder der recht hübschen Autorin. Er markierte trotzdem den Namen des Redakteurs, vielleicht hatte er doch fotografiert oder konnte sich an irgendwas Besonderes erinnern. Andreas Mücke bedauerte, nicht vorher von der Lesung erfahren zu haben. Hätte er die Veranstaltung besucht, gäbe es jetzt bestimmt eine Menge Anhaltspunkte für ihn. Er musste sich eingestehen, dass er zu 99 Prozent sowieso nicht hingegangen wäre. Mücke hatte noch nie eine Lesung besucht, warum hätte er es ausgerechnet bei der unbekannten Mona de la Mare machen sollen? Bis heute hatte er nicht einmal die Leserei betreten, auch in Josef Mütters Buchhandlung war er höchstens drei Mal gewesen. Die wenigen Krimis und Fachbücher, die er sich zulegte, ließen sich bequem im Internet besorgen. Ihm war klar, dass gerade diese Bequemlichkeit dem Einzelhandel das Leben schwer machte. Andy hatte sich oft vorgenommen, sein Kaufverhalten zu ändern. Irgendwann würde das auch klappen, keine Frage.

Bei YouTube war am 20. Februar, gerade zwei Tage nach dem Verbrechen, ein Video der Lokalzeit aus Köln eingestellt worden. Unter anderem war im Innenraum des Café T. gefilmt worden, das Mona am späten Abend noch besucht hatte. Das kannte Mücke bestens, es gab Zeiten, da war er mit Paula mindestens einmal im Monat dort gewesen, obwohl sie ein Haus im rund fünfzehn Kilometer entfernten Großbüllesheim bei Euskirchen bewohnt hatten. Die weibliche Bedienung des Cafés erinnerte sich daran, dass die durchgefrorene Schriftstellerin ein heißes Getränk bestellt hatte. Es trug den Namen Frauenglück, was angesichts ihres nahenden Todes geradezu höhnisch klang. Es muss auch eine kurze, aber laute Auseinandersetzung mit einem älteren Mann gegeben haben. Um die fünfzig sei er gewesen, eventuell älter, so genau hatte sich die Bedienung ihn nicht angeschaut. Soweit sie sich erinnerte, hatte er nichts bestellt und war auch nicht geblieben. Die letzte Tagesabrechnung für diesen Tisch wies tatsächlich nur dieses eine Getränk aus. Von dem Streit wusste Mücke bereits aus den Zeitungen. Die Kripo hatte nach einem Hinweis einen gewissen Jens K. aus Bonn vernommen, ihm aber nichts nachweisen können. Er bestritt, in Bad Münstereifel gewesen zu sein. Mona de la Mare hätte er höchstens zehnmal getroffen, allerdings ausschließlich in Köln. Mücke notierte sich Name und Wohnort. Er würde diesen Jens demnächst ausfindig machen und ihm einen Besuch abstatten. Gegen Ende des Beitrags wurde gezeigt, wo die junge Autorin in den Fluss geworfen worden war, nämlich am Salzmarkt. Die gerade viel Wasser führende Erft spülte Mona noch fünfundvierzig Meter weiter bis zur Flussbiegung am Brauhaus, wo sie sich im Gestrüpp verfing. Von der Fußgängerzone aus war die Leiche unter der Brücke nicht zu sehen gewesen. Sie wurde gegen zehn Uhr vom Personal des Wirtshauses entdeckt, das jeden Tag um diese Zeit öffnet. Mücke wusste, dass man zur Toilette die Treppe hinuntergehen musste. Dort unten war die Erft dann zum Greifen nah.

Das Presseportal der Kreispolizeibehörde Euskirchen hatte für ihn im Netz keine Neuigkeiten parat. Die gängigen Einbruchsdelikte interessierten ihn jetzt nicht. Aber endlich dachte er daran, die Presse-App der Polizei auf sein iPhone zu laden. Das war mehr als überfällig.

Er wechselte zu Facebook und sah, dass Frederik Schmalbauch ihm vor einigen Tagen eine Freundschaftsanfrage geschickt hatte. Frederik war ebenfalls privater Ermittler und maßgeblich an Mückes Entscheidung beteiligt. Als Andy seinen Schulfreund vor anderthalb Jahren in Düsseldorf besucht hatte, zeichnete sich das Ende der Ehe ab. Im Brauhaus Zum Schlüssel hatten sie über seine möglichen beruflichen Alternativen gesprochen. Die Arbeit als Sachbearbeiter in einer Druckerei würde ihm noch immer gefallen, weil sie abwechslungsreich war und man mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun hatte. Im Grunde genau das Richtige für Mücke. Einen vergleichbaren Job im Printgewerbe zu finden, war aber nahezu unmöglich – jedenfalls dann, wenn er in der Nähe seiner Kinder bleiben wollte. Etwas anderes stand nicht zur Diskussion, eher wäre er beim Schwiegervater geblieben. Zu diesem Zeitpunkt hatte er an einen Sprung in die Versicherungsbranche gedacht, das erschien ihm realistisch, wenn auch wenig spannend. Der Job als privater Ermittler war allerdings ebenfalls meist alles andere als aufregend. Stundenlange Observationen erforderten ein hohes Maß an Geduld und Disziplin.

Andreas Mücke klickte das Profil seines Freundes an, um ihm eine Nachricht zu schicken: Hi Frederik, alter Schnüffler, hat FB dich nun doch gekriegt? Komm bloß nicht auf die Idee, unsere Jugendsünden zu posten! Bei mir ist soweit alles okay, auch im Job. Wenn du gerade etwas brauchst, ich hätte einen Auftrag abzugeben. Nichts Besonderes: Einlasskontrolle bei einem Event in Köln. Wäre etwas für drei Tage oder so: 225 pro Tag plus Spesen, wahrscheinlich nichts für dich … Bis demnächst!

Dann suchte er nach Mona de la Mare. Ihre Seite war noch nicht gelöscht worden. Ganz oben hatten einige ihrer 2.432 Freunde ihre Trauer und Fassungslosigkeit ins Profil gepostet. Juli Sternenbraut schrieb: Das ist doch nicht wahr, was wir lesen? Mona schreib sofort, dass das nicht wahr ist! Weiter unten meinte eine andere, die sich Leseratte Magenta nannte: Habe es gerade bei den Buchstabenjunkies erfahren. Vorgestern um diese Zeit hast du dich noch so über die Buchbesprechung gefreut. Wir sind alle unendlich traurig!

In Monas öffentlichen Beiträgen ging es fast nur um ihre Bücher und die Lesereise. Mücke hätte gerne erfahren, was sie nur ihren Facebook-Freunden mitgeteilt hatte, aber dazu war es jetzt wohl zu spät. Das vermutlich letzte Foto von ihr zeigte sie am Fenster der Münstereifeler Buchhandlung. Es befanden sich viele Kommentare unter ihrem Beitrag, einige ergänzende auch von Mona. Den Link zu einer Rezension hatte sie in mehrere Gruppen geteilt. Im Beitrag darunter hatte sie den Tisch im Bistro beschrieben, an dem sie hungrig wie ein Zirkuspferd auf den Salat wartete und fragte, ob denn niemand ihrer Freunde in der Nähe wäre. Davor hatte sie sich über den Fuzzi vom Käseblatt beklagt, der nur blöde Fragen gestellt und wie abgestandene Milch gestunken habe. Weiter unten stand, dass der Buchhändlerin Monas Bücher ausgegangen waren. Ärgerlich, überall die gleiche übertriebene Vorsicht.

Am Tag vor dem Unglück war Mona in Koblenz gewesen. Sex in my mouth!, sie hatte einige Fotos von der Lesung und ihrer wohlverdienten Pizza am Abend gepostet. Einer hatte darunter geschrieben, dass es in Deutschland gar keine richtigen Pizzen gäbe. In Italien würden sie auf riesigen Blechen gebacken, in viereckige Stücke geschnitten und ganz klassisch nach Gewicht berechnet. Damit hatte der Schreiber eine regelrechte Pizza-Diskussion entfacht – die folgenden Beiträge drehten sich um nichts anderes. Mücke schüttelte den Kopf; solche kleinkarierten Typen gingen ihm gehörig auf den Geist.

Als er sich weiter durch ältere Beiträge scrollte, traf eine Nachricht von Frederik ein: Hallo Freund Anfänger, weißt du, dass du uns die Preise versaust? So wird das nichts! Oder wolltest du mir bloß die Hälfte geben, dann wär’s in Ordnung! Also, mein Lieber, nicht so zaghaft, unter vierhundert am Tag läuft nichts! F.

Ende einer Lesereise

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