Читать книгу Wie ich Betti nach drei Monaten im Schrank wiederfand - Jannik Winter - Страница 12
9. Küche Klamm
ОглавлениеEs riecht süßlich. Die Parfümmarke ist ihm entfallen, aber seine Verlobte hatte vor drei Jahren eine ähnlich penetrante Duftnote benutzt, die er ihr ausreden konnte. An der Garderobe hängt ein roter String-Tanga und auf dem Küchentisch steht ein halb volles Sektglas.
»Kommen Sie rein, Herr Kommissar. Ist Ihnen die Küche recht? Haben Sie meine Schwester gefunden? Nein? Es heißt doch, nach fünf Tagen sinkt die Chance unter zehn Prozent. Schade, ich habe so an ihr gehangen.«
Sie streicht mit roten Fingernägeln über den Satinmorgenrock und legt ihre nackten Füße auf den Stuhl, auf den er sich setzen wollte. Als er bemerkt, dass ihr Morgenrock entschieden zu hoch gerutscht ist, entscheidet er sich für einen Platz auf der Eckbank gegenüber.
»Die Chance sinkt statistisch gesehen auf acht Prozent. Aber das hängt davon ab, ob es auf dem Land oder in der Stadt passiert ist.«
Sie nickt ihm anerkennend zu.
»Wow, acht Prozent. Das ist ja so gut wie tot. Arme Betti. Prost! Auf dass die Füchse dich nicht annagen.«
Er runzelt die Stirn.
Sie leert das Glas in einem Zug. An ihrem schleppenden Ausdruck erkennt er, dass sie leicht alkoholisiert ist. Dabei fallen ihm die Sprüche der Mutter ein: Kindermund tut Wahrheit kund und Alkohol lockert die Zunge. Er entscheidet sich, darin ein positives Vorzeichen seiner Befragung zu sehen.
»Füchse? Welche Füchse denn?«
»Hunde, Wölfe, Füchse, eben alles, was so im Wald herumläuft und ihre Leiche ausscharrt.«
Muckel starrt mit offenem Mund auf die freie Seite in seinem Notizbuch, nimmt den Stift in die Hand und sieht sich die Spitze an.
»Sie sind Judit Klamm, geborene Hofer, neunundzwanzig Jahre alt, Hausfrau, verheiratet mit Doktor Lars Klamm, Chirurg. Sie sind die Schwester der vermissten Bettina Hofer-Rohwinkel, ist das korrekt?«
Er hat sich entschieden, auf der Seite entsteht ein neues stilisiertes Sektglas. Das vermittelt Kontinuität.
»Fast alles richtig. Nur ›vermisst‹ stelle ich infrage. Nach fünf Tagen ist sie hin. Acht Prozent bedeutet das doch. Oder was denken Sie? Tut mir leid, der Kaffee ist aus. Darf ich Ihnen ein Gläschen Sekt anbieten?«
»Vielen Dank, ich trinke kein Alkohol und bin außerdem im Dienst. Sie haben recht. Die Wahrscheinlichkeit, Ihre Schwester zu finden, sinkt mit jedem Tag. Deswegen ist auch die kleinste Spur wichtig. Hatten Sie denn ein gutes Verhältnis zu ihr?«
Die Frage veranlasst Judit Klamm, unschlüssig in ihr leeres Glas zu schauen, zum Kühlschrank zu gehen und sich nachzuschütten.
»Verhältnis? Das allerbeste, das man mit einer Schwester haben kann, die mir schon in der Schule die Jungs ausgespannt hat. Und Sie möchten nicht ein klitzekleines Gläschen mittrinken? Nur so zur Gesellschaft?«
Er schüttelt den Kopf und blickt auf ihre zitternde Hand.
»Nein, vielen Dank. Kennen Sie Mata Hari?«
Sie wirft die Haare zurück und legt die Arme in den Nacken.
»Mata Hari. Was für ein Vorbild! Sexy, klug, reich und für alle Angebote offen. Leider wurde ihr das zum Verhängnis. Wie so vielen schönen Frauen. Herr Kommissar, finden Sie mich ebenso attraktiv wie diese Spionin?«
»Bleiben wir bei Ihrer Schwester Bettina. Sie stehen also nicht besonders gut zueinander?«
Sie hat bemerkt, dass sie ein wenig zu offenherzig wirkt und schließt den dritten Knopf von oben. Als sie ihre Beine auf den Stuhl legt, vergisst sie, den Morgenrock hochzuziehen. Muckels Versuch misslingt, einen stilisierten String-Tanga auf das Blatt zu bringen. Er wird eine Banane, der ein Heftpflaster überklebt wurde.
»Doch, doch, wir standen perfekt zueinander. Ich habe oft versucht, ihr nachzueifern. Sie wissen schon, Erfolg bei Männern und so. Aber da ist sie mir meilenweit überlegen. Ich kann einfach nicht die falsche Schlange spielen, das liegt mir nicht. Dafür bin ich zu ehrlich. Obwohl … für hingehauchte Liebesschwüre Kohle zu kassieren, das hat was. Sagte ich schon, dass sie mir da meilenweit überlegen ist? Entschuldigung … war.«
Die Zeichnung einer sich kringelnden Schlange gelingt ihm deutlich besser als der String-Tanga.
»Was meinen Sie denn mit ›für Liebesschwüre Kohle kassieren‹?«
»Ich meine überhaupt nichts, ich weiß es. In der Schule hat sie es für die Lösung der Matheaufgaben gemacht. An der Uni hat nach drei Semestern selbst der notgeilste Professor herausgefunden, dass ein 1-A-Fick keine Klausur mit leerem Blatt ersetzt. Aber es laufen ja so viele einseitig gepolte Männer herum, dumm und mit Taschen voller Geld. Sie nennt sich ja auch nicht Prostituierte, obwohl es darauf hinausläuft. Sie begleitet die Herren auf ihren geschäftlichen und gesellschaftlichen Anlässen. Sechshundert pro Tag habe ich gehört. Die Nacht ist dabei inklusive. Nein, selbst wenn ich wollte, so etwas könnte ich nicht.«
Der letzte Satz klang ein wenig traurig. Aus den Worten ›geschäftliche und gesellschaftliche Anlässe‹ vermeinte er, Eifersucht herausgehört zu haben. Seine Schlange auf dem Blatt bekommt einen Blitz zugewiesen, der in Richtung eines großen ›B‹ geschleudert wird.
»Sie meinen, Ihre Schwester arbeitet als Edelprostituierte?«
»Escort-Dame, es heißt Escort. Aber wenn Sie es genau wissen wollen, müssen Sie ihren Chef Paolo fragen. Der besorgt ihr die Kunden.«
Auf dem Blatt entsteht ein ›P‹, das mit einem Pfeil auf ›B‹ zeigt. Sie erkennt seinen fragenden Blick.
»Moment, hat Ihnen Jens etwa erzählt, sie sei Assistentin der Geschäftsführung? Ja, er prahlt gerne mit ihr. Geschäftsführung, dass ich nicht lache. Das ist ein Vier-Mann-Laden und Bettina ist dort als Billigtippse angestellt. Wenn Sie mich fragen, ist das eine Scheinfirma und Paolo verdient ausschließlich im Rotlicht. Aber nicht so billige Lampen im Schaufenster, nein, es ist ein Luxusrotlicht unter dem Mohair-Mantel. Sie verstehen?«
Muckel starrt fasziniert auf ihre Zunge, die über die Oberlippe züngelt.
»Ein Licht unter einem Mantel? Ein neues Polysem. Aber noch habe ich es nicht durchschaut.«
»Wie bitte?«
»Weiß denn ihr Mann Jens Rohwinkel von der Angelegenheit?«
»Jens? Der ist doch zu einfältig, um in ihr die Schlange zu durchschauen. Wenn Sie mich fragen, sie bleibt nur bei ihm, weil so eine Familie eine perfekte Tarnung darstellt. Dabei hätte Jens etwas viel Besseres verdient als so eine Schlampe.«
Muckel erspart sich die Frage, wer denn diese Bessere sein könnte. Er sieht in sein Notizbuch, das ihm für den heutigen Tag mit Buchstaben, Bananen, Schlangen und Blitzen überfrachtet erscheint. Daher verabschiedet er sich höflich.
»Das sollte an Informationen reichen. Noch mehr wird mir Frau Doktor mir auf keinen Fall gestatten.«
»Sie haben die Erlaubnis, mich alles über Bettina zu fragen, was Sie möchten. Das bin ich ihr schuldig.«
»Erlaubnis? Sie meinen, ich dürfte dann doch noch mehr …?«
Ihre Hand greift nach dem Sektglas, er erhält ein Lächeln und ein Nicken. Vergeblich versucht er, eine Querverbindung zwischen Judit Klamm und seiner Therapeutin zu erkennen.
»Nein, Sie dürfen mir überhaupt keine Erlaubnis erteilen. Dazu ist eine jahrelange Ausbildung nötig.«
Sie haucht ihm ins Ohr. Ihr Alkohol steigt ihm in die Nase, sodass er niesen muss.
»Ich brauche keine Ausbildung, ich bin ein Naturtalent.«
Als sie ihn zur Haustür begleitet, bemerkt sie an der Garderobe ihren roten Slip.
»Oh, Herr Kommissar, Sie benötigen dringend ein Lesezeichen für Ihr wichtiges Buch. Damit werden Sie den Fall blitzschnell lösen.«
Er sieht sich das rote Teil näher an, denn die Frage scheint berechtigt. Dann kommt er zum Entschluss, dass ein derartiges Hilfsmittel bei vier ausgefüllten Seiten im Notizbuch nicht zwingend notwendig sein wird.
»Vielen Dank. Ich soll mich nur auf das Wesentliche konzentrieren.«
Sie lässt den roten Slip vor seinen Augen hin und her pendeln. Hinter ihm erklingt bis zur Haustür ihr vulgäres Gackern. Wie hört sich dann erst das Lachen der Frau an, die sie als Schlange bezeichnet hat?