Читать книгу Wie ich Betti nach drei Monaten im Schrank wiederfand - Jannik Winter - Страница 9
6. Kellerraum, 17. März
ОглавлениеAnfangs wirkte es wie ein Nebelfleck, der in der Mitte gelblich und an den Seiten grau leuchtete. Nach endlosen Minuten wurde er zur Scheibe, etwa so groß wie ein Frisbee, nur heller. Das Licht schmerzte und sie musste die Augen fester zudrücken. Überhaupt tat so einiges weh, der Rücken, die Beine, aber absolut unerträglich erschienen die Kopfschmerzen. Sie nahm sich vor, mindestens zwei Aspirin zu schlucken, wenn sie dazu wieder in der Lage sein sollte.
Lider geschlossen halten, nachdenken. Wann war sie abends nach Hause gekommen? Oder war es schon morgens? Doch da war nichts als eine Erinnerungslücke. Was ebenfalls fehlte, war ein Schluck Wasser. Besser zwanzig. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken und kratzig an. Beim Gedanken an ein Riesenglas Sprudelwasser mit einer Zitronenscheibe machte sich die Blase bemerkbar.
Doch was hing da oben? Das war nicht ihre Designer-Schlafzimmerlampe, sondern eine nackte Glühbirne.
Wer zum Teufel hat in meinem Schlafzimmer eine nackte Glühbirne aufgehängt?
Zur Beruhigung musste sie wieder die Augen schließen und mit der rechten Hand auf den Nachttisch greifen. Da sollte die Flasche Wasser stehen. Für Aspirin oder sonst was. Aber da stand nichts. Es gab auch keinen Nachttisch. In dem Moment stieg die erste Panik in ihr hoch. Ruckartig setze sie sich im Bett senkrecht, was dazu führte, dass ihr Magen rebellierte.
Ins Bad, ich muss in zwei Sekunden im Bad sein.
In der Speiseröhre schob sich bereits etwas Säuerliches empor, als ihr in höchster Not die Kloschüssel ins Auge sprang. Nicht ihre eigene, die mit dem Softclose-WC-Deckel in Hochglanzweiß, sondern eine ziemlich schmutzige ohne Deckel und Klobrille. Aufgrund der akuten Notlage verdrängte sie alle hygienischen Bedenken und kniete sich mehr ergeben als überzeugt vor das Unding. Die anschließenden Geräusche und den Geruch fand sie so widerwärtig, dass sie der Schüssel drei Bonuszulagen spendierte.
Das Kratzen im Hals ersetzte ein Brennen, das die Atmung erschwerte. Sie negierte den hygienisch erbärmlichen Zustand des Waschbeckens links neben dem Klo und hielt ohne Rücksicht auf Frisur und Schminke den Kopf unter den Wasserhahn. Sie ließ gefühlte zwei Liter in sich hineinlaufen, bevor ihr der Gedanke kam, dass zu viel Chlor mittelfristig ihrem Teint schaden könnte.
Das ungute Gefühl wurde rasch durch den zunehmenden Druck der Blase überspielt, der zu einer zweiminütigen Pinkelorgie auf der brillenlosen Schüssel führte.
Da anschließend wieder die Kopfschmerzen Oberhand gewannen, startete sie den erneuten Versuch, mit geschlossenen Augen auf der Pritsche die Erinnerungen zurückzurufen. Langsam dämmerte es ihr, dass dies nicht ihr Zuhause war. Auch kein Krankenhaus. Hatte die Bahnhofsmission sie aufgegriffen? Aber selbst die verfügen sicherlich über gastlichere Quartiere. Polizei? Zelle? Haben die Innenzellen ohne Fenster? Und überhaupt, wer hatte sie umgezogen? Das war nicht ihr eigener türkisfarbener Jogginganzug. Den hier hatte sie noch nie gesehen und er entsprach auch nicht ihrem Kleidungsstil. Zusätzlich zierten ihre Füße zwei rosafarbene Plüschpantoffeln mit einem Katzengesicht. Schrecklich.
Wo waren ihre Michael-Kors-Pumps geblieben? Das Vierhundert-Euro-Armani-Kleid und der Neunhundert-Euro-Etro-Mantel? Ein Blick unter den Baumwollanzug bestätigte, dass sowohl der La-Perla-Push-up als auch der String fehlten. Ihre eigenen Kleider, die sie in stundenlanger Shoppingtour zusammengestellt hatte, konnte sie nirgends entdecken.
Aber vielleicht war das hier eine Notunterkunft. Empört rannte sie zur Tür und schlug sich in den ersten drei Minuten die Handflächen rot.
»Hallo! Hilfe! Aufmachen. Ich bin hier drin. Hiiilfe!«
Aber die graue Metalltür gab bei jedem Schlag lediglich ein moderates Wumm von sich. Ansonsten zeigte die sich durch ihre Attacken unbeeindruckt. Auch die Klappe an der Unterseite der Tür ließ sich keinen Millimeter bewegen.
Deshalb fand sie es angemessen, sich zunächst weitere zehn Minuten auf der Pritsche liegend den Kopfschmerzen und den neu hinzugekommenen Prellungen an den Handflächen zu widmen. Tränen hatten ihr bislang oft geholfen, ihren Willen durchzusetzen. Diesmal schienen selbst die niemanden zu interessieren.
Denk nach! Denk nach! Du bist doch nicht blöd! Los erinnere dich! Wie bist du hier hingeraten? Was machst du hier? Wer hat dich gebracht? Wo sind deine Tabletten? Wie überlebst du die nächsten zehn Stunden ohne Aspirin und weißes Pulver? Hat Miriam heute Morgen ihr Müsli bekommen?
Sie bemühte sich, in den weiteren dreißig Minuten die Fragen zu beantworten und gleichzeitig ihre schmerzende Hand zu massieren. Beides blieb ohne erkennbare Ergebnisse. Stattdessen machte sich wieder ihr trockener Hals bemerkbar und sie spendete ihm aus dem mit Infektion drohendem Hahn einen weiteren Liter Chlorwasser.
Wo ist mein Handy? Gibt es hier kein Telefon? Eine Sprechanlage?
Ihr flatternder Blick glitt an den Wänden entlang, doch außer der Installation der Sanitäranlagen und einem zwanzig Zentimeter runden Lüftungsgitter erkannte sie keine Besonderheiten. Bei dem Bett handelte es sich um eine aufklappbare Besucherliege ohne Bezug, jedoch mit einer beigen Fleecedecke. In der Mitte des Raumes stand ein Campingtisch mit einem stoffbespannten Anglerstuhl. Lag dort etwas? Tatsächlich, ein Zettel und ein Bleistift. Das Blatt war weiß im Format DIN-A4 und trug die mit einem Drucker erzeugte Überschrift.
Wie alles im Jahre 2012 begann.
Daraufhin entschloss sie sich zu einem erneuten Schreikrampf.
»Was meint ihr mit ›Wie alles begann‹? Was soll das mit dem Jahr 2012? Macht auf, ihr Arschlöcher, ich will nach Hause.«
Da es darauf weder Antworten gab noch sonst eine Reaktion erfolgte, versuchte sie es mit einem zweiten Weinkrampf. Erfolglose zwanzig Minuten lang. Danach startete sie den Versuch, sich an das Jahr 2012 zu erinnern.