Читать книгу Der Lotuskrieg 2 - Kinslayer - Jay Kristoff - Страница 14
1 DAS MÄDCHEN, DAS ALLE GILDENMÄNNER FÜRCHTEN
ОглавлениеMit der Eleganz fetter Säufer, die auf den Abtritt zu torkeln, brummten drei Gildenschiffe über den blutroten Himmel. Riesig waren sie, schwer gepanzert – sie gehörten zu den wuchtigsten Schlachtschiffen, die binnenlands in den Werften gebaut wurden. Ihre Ballons hatten die Farbe von Feuer. Geschütztürme ragten wie Stacheln auf, und die Maschinen spien schwarze Abgase in den vergifteten Himmel.
Das Flaggschiff war dreißig Meter lang. Drei mit Lotusblüten bestickte rote Flaggen flatterten am Heck. Sein Name war in breiten, schwungvollen Kanji auf den Bug gemalt – eine Warnung an alle Narren, sich ihm nicht in den Weg zu stellen.
Izanamis Hunger.
Bruder Jubei ließ sich nicht anmerken, ob ihm beklommen dabei zumute war, auf einem Schiff zu dienen, das nach den Gelüsten der dunklen Mutter benannt worden war. Trotz des eisigen Windes war ihm warm in seinem Atmos-Panzer. Er versuchte, das nervöse Flattern seines Magens zu ignorieren und durch tiefe Atemzüge seinen Herzschlag zu beruhigen. Stumm wiederholte er das Mantra – »die Haut ist stark, das Fleisch ist schwach, die Haut ist stark, das Fleisch ist schwach« – und rang darum, seine Mitte zu finden. Doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, das Gefühl der Unzufriedenheit niederzukämpfen.
Der Kapitän der Flotte stand an der Reling und schaute auf das Iishi-Gebirge hinab. Verschlungene Muster schmückten seinen Atmos-Panzer, stahlgraue Einlegearbeiten, die in Messing und Kolben eingelassen waren. Ein Mech-Abakus saß auf seiner Brust: ein Gerät, das aus Stäben, Perlen und Elektronenröhren bestand und unermüdlich zirpte wie ein Aufziehinsekt. Ein Dutzend präparierte Tigerschwänze hingen an den Schulterstücken des Kapitäns. Es wurde gemunkelt, sie seien ein Geschenk des großen Flottenmeisters des Tora-Kapitelhauses selbst gewesen, des alten Kioshi.
Der Name des Kapitäns lautete Montarō, doch für seine Mannschaft war er die Geißel der Gaijin. Er war ein Veteran der Invasion Morchebas; als Oberbefehlshaber über die Gildenflotte hatte er die Bodentruppen des Shōgunats gegen die rundäugigen Barbaren jenseits des östlichen Meeres unterstützt. Doch dann war der Shōgun ermordet worden, die Offensive war zusammengebrochen, und das Kapitelhaus Kigen hatte den Kapitän zurückgerufen, um ihn im eigenen Land auf einen neuen Feind anzusetzen. Zu Bruder Jubeis großem Stolz hatte die zweite Blüte Kensai unter all den Neuerwachten in Kigen ihn dazu ausgewählt, Montarō zur Hand zu gehen.
»Kann ich etwas für dich tun, Kapitän?« Jubei stand in respektvollem Abstand hinter der Geißel, den Blick gesenkt. »Brauchst du etwas?«
»Mit einer Spur unserer Beute wäre ich vollauf zufrieden.« Das knisternde Summen, das aus den Lautsprechern drang, klang ein wenig ärgerlich. »Das schwache Fleisch selbst«, er klopfte sich auf die Brust, »braucht keine besondere Aufmerksamkeit.« Dann legte er einen Schalter um und sprach in sein Handgelenk. »Siehst du was von da oben, Shatei Masaki?«
»Es bewegt sich nichts, Kapitän.« Die Antwort drang nur schwach zu ihnen durch, obwohl sich der Ausguck lediglich zehn Meter über ihnen befand. »Aber das Blätterdach da unten ist auch so dicht wie Nebel. Selbst mit dem Fernrohr hat man kaum eine Chance, es zu durchdringen.«
»Kluges Kaninchen«, zischte die Geißel. »Hat unsere Maschinen gehört und ist in ein Loch gekrochen.«
Steuerbords zog eine Felsspitze vorbei wie ein schwarzer Eisberg, der in einem Meer aus Ahorn und Zedern schwamm. Die Gipfel des Gebirges waren mit gefrorenem Schnee verkrustet, Schleierwolken hatten sich daran verfangen. Das Donnern der Maschinen und das Knattern der Propeller echote unter ihnen durch den Wald. Der Herbst hatte bereits die Arme ausgebreitet, um die Iishis kalt zu umschlingen. Zögerlich begannen die Blätter, sich an den Rändern rot zu färben.
Die Geißel seufzte, hallend und metallisch. »Selbstverständlich ist das nur eine Regung meines schwachen Fleisches … Doch muss ich zugeben, dass ich den Himmel über Shima vermisst habe.«
Jubei war überrascht. Wurde von ihm erwartet, dass er mit seinem befehlshabenden Offizier plauderte? Ein unbehaglicher Augenblick verstrich, dann kam der junge Gildenmann zu dem Schluss, dass es unhöflich wäre, nichts zu erwidern.
Zaghaft fragte er: »Wie lange warst du in Morcheba stationiert, Kapitän?«
»Acht Jahre lang. Und es gab die ganze Zeit über nichts anderes zu jagen als Bluttrinker und Hautdiebe …«
»Ist es wahr, dass der Himmel über den Ländern der Rundaugen blau ist?«
»Nein.« Die Geißel schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Heutzutage ist er eher blasslila.«
»Irgendwann würde ich ihn gern einmal sehen.«
»Tja, wenn wir unser Kaninchen rasch erlegen, steht dem nichts im Wege.« Finger in Panzerhandschuhen trommelten auf die Reling. »Ich hatte gehofft, wir würden es erwischen, ehe es die Iishis erreicht. Aber es ist findig.«
Jubei blickte sich zu den Schiffen an ihren Flanken um. Sie strotzten vor Waffen und Söldnern. Unzufrieden biss er die Zähne zusammen, bevor er sich einen Ruck gab.
»Entschuldige, Kapitän«, sagte er vorsichtig. »Darf ich dich fragen … Natürlich weiß ich, dass der Sohn des alten Kioshi ein Verräter ist. Er hat dem Donnertiger Flügel gebaut, und dafür muss er bestraft werden. Aber diese Flotte … So viel Mühe, nur um einen einzigen Jungen unschädlich zu machen, das scheint mir …«
»Übertrieben?«
»Hai.« Jubei nickte langsam. »Ich habe gehört, dass der alte Kioshi und die zweite Blüte Kensai wie Brüder gewesen sein sollen. Dass Kensai-sama den Verräter wie einen Sohn aufgezogen hat. Aber, und bitte vergib mir meine Kühnheit … Kommt es dir nicht auch so vor, als gäbe es wichtigere Beute zu jagen?«
»Du sprichst von Yoritomos Attentäterin.«
»Und den Kage-Rebellen, die sie verstecken.«
Der Kapitän warf ihm einen Blick zu. »Verstecken?« In seiner Stimme schwang grimmige Belustigung mit. »Diese junge Dame versteckt sich nicht vor uns, junger Bruder. In den letzten zwei Wochen ist sie in allen vier Clan-Hauptstädten aufgetaucht. Hat die Hautlosen beinahe zur offenen Rebellion getrieben. Und vergiss nicht, dass sie den Shōgun dieser Nation umgebracht hat, indem sie ihn bloß angeschaut hat.«
»Haben wir da nicht einen Grund mehr, sie zur Strecke zu bringen?« Jubei bebte vor rechtschaffenem Zorn. »Die Leute auf der Straße sagen, wir in der Lotusgilde hätten Angst vor ihr! Vor so einem schmächtigen Ding. Einem Kind! Weißt du, wie sie sie nennen, Kapitän? Die Hautlosen, meine ich. Wenn sie sich in ihren dreckigen Spielhöllen oder in ihren Rauchhöhlen versammeln … Weißt du, welchen Namen sie ihr gegeben haben?«
»Sturmtänzerin«, erwiderte die Geißel.
»Viel schlimmer!«, fauchte Jubei. »Sie nennen sie das Mädchen, das alle Gildenmänner fürchten!«
Ein kurzes hohles Lachen drang aus dem Helm der Geißel. »Nicht dieser Gildenmann.«
Jubei starrte auf seine Stiefelspitzen hinunter und fragte sich, ob er sich zu viel herausgenommen hatte. Der Kapitän blickte zu einem der anderen Schiffe hinüber, der Lotuswind, die in anderthalb Kilometern Abstand folgte. Sie zog zwei blauschwarze Abgasstreifen hinter sich her; Backbord- und Steuerbordmaschine arbeiteten tadellos. Montarō berührte einen anderen Schalter auf seiner Brust und sprach wieder in sein Handgelenk. In seiner Stimme blitzte Stahl.
»Kapitän Hikita, Bericht!«
»…ne Spur.« Die Antwort war so schwach, dass sie durch das statische Rauschen kaum zu hören war. »…ber wir sind fast genau über der Stelle, an der die Gl… und Gloria im Somm… das … tsune-Mädchen an Bord genommen ha… Der Stützpu… sollte in der Nähe sein.«
»Er muss hier irgendwo sein«, knurrte die Geißel. »Erst letzte Nacht hat er den Fluss verlassen, und zwar zu Fuß. Lass deine Waffenmeister eine Feuerblockade vorbereiten. Hundertfünfzig Meter lang, vom Ufer aus. Es wird Zeit, dass wir das Häschen aufscheuchen.«
Die Bestätigung kam knisternd und hallend über die Funkverbindung.
Die Lotuswind legte sich gemächlich auf die Seite, wendete dann und flog zurück nach Süden. Das eintönige Surren ihrer Propeller entfernte sich. Jubei sah, wie die Feuermannschaft über das Deck schwärmte – aus der Ferne sahen die Männer wie gepanzerte Ameisen aus. Sie bereiteten Brandbomben und Anzündladungen vor. Als Jubei gerade versuchte, durch das undurchdringliche Blätterdach zu spähen, meldete der Kapitän der Lotuswind, alles sei bereit.
Die Stimme der Geißel zischelte über alle Funkkanäle. »Auf den Ausgucken: Augen auf! Kapitän Hikita, beginne mit dem Bombardement.«
Jubei beobachtete, wie ein Schwarm schwarzer Umrisse aus dem Bauch der Lotuswind fiel und im Laub verschwand. Eine Sekunde später erschütterte eine Folge dumpfer Explosionen den Frieden des Waldes. Stichflammen loderten zwischen den Bäumen auf. Sie schossen dreißig Meter in die Höhe, und die Hitzewellen warfen die Hunger herum, als sei sie das Spielzeug eines kleinen Kindes. Jubeis metallene Haut vibrierte schwach. Die Lotuswind kreuzte über dem Flussufer und steckte große Stücke des Waldes in Brand.
Die Flammen leckten mit fiebrigen Zungen über trockene Blätter und breiteten sich rasch aus. Eine erstickende Wolke aus Ruß und Asche wälzte sich durch den Wald. Auf der Steuerbordseite ließ das zweite Geleitschiff, die Stimme aus dem Abgrund, ebenfalls Feuerbomben auf die uralten Bäume hinabregnen. Die Echos der Explosionen dröhnten durchs Flusstal. Kreischend stoben Vogelschwärme auf, und alle Arten von Tieren flohen durch das Unterholz nach Norden, um den gierigen Flammen zu entkommen. Fasziniert beobachtete Jubei, wie die machtvolle Gildentechnologie in wenigen Augenblicken Baumriesen verschlang, die Jahrhunderte lang gewachsen waren.
»Irgendein Zeichen von ihm?«, fragte die Geißel über Funk.
»Negativ«, berichteten die Späher auf der Lotuswind.
»Nichts zu sehen«, kam es aus dem Ausguck der Hunger über ihnen.
Die Antwort von der Stimme war mit schwachem Rauschen unterlegt. »Wir haben Sichtkontakt. Dreihundert Meter Nordnordost. Bestätigung?«
»Ich sehe ihn!«, meldete ihr eigener Späher. »Siebzig Grad steuerbord!«
Der Steuermann brachte die Maschinen auf Hochtouren, und das Lied der Propeller steigerte sich um eine Oktave. Der Bug schwang herum. Jubei griff nach seinem Fernrohr und suchte das Blätterdach nach Lücken ab. Schweiß lief ihm in die Augen, und kurz verschwamm das Bild. Zwischen den moosbewachsenen Mammutbäumen stiegen Rauchschwaden auf. Fallende Blätter, fliehende Vögel. Ein Königreich aus Rinde und Stein. Aber endlich sah er ihn, er sah ihn – eine schmale Gestalt, die in schmutziges Grau gekleidet war und zwischen zwei großen knorrigen Ahornbäumen hindurchhuschte.
»Da!«, rief er. »Da ist er ja!«
Kurzes dunkles Haar. Blasse Haut. Und schon war er wieder fort.
»Bodentruppen, bereitet euch auf die Verfolgung vor.« Der Befehl der Geißel war so ruhig wie ein Mühlenweiher. »Werfer-Mannschaften in volle Alarmbereitschaft. Auf Geheiß der zweiten Blüte ist das Ziel sofort zu liquidieren.«
Die Geschützpforten in der Bordwand der Stimme öffneten sich, dann die der Hunger. Die Rohre der Shuriken-Werfer schoben sich hindurch. Rasiermesserscharfe Wurfsterne sprühten aus den Flanken der Schiffe und zerfetzten das Blättermeer unter ihnen. Abgetrennte Zweige stürzten zu Boden, das Knattern der Werfer übertönte selbst das Brüllen der hungrigen Flammen. Jubei glaubte, ihre Beute durchs Unterholz rennen zu sehen, durch einen Hagel glitzernden Metalls. Die Marineinfanteristen an Bord überprüften ein letztes Mal ihre Waffen; in wenigen Minuten würden sie über dem Wald abspringen. Feuer im Süden. Beschuss von oben. Söldner, die den Wald zu Fuß durchkämmten. Gepanzerte Kriegsschiffe am Himmel.
Jubei lächelte still. Die Flammen spiegelten sich auf seiner Messinghaut. Das Kaninchen hatte ihnen Zeit abgetrotzt, so viel war sicher. Aber zu guter Letzt hatte das Glück Kioshis Sohn doch noch verlassen.
Die Geißel wandte sich von der Reling ab. Als er sprach, war ihm die Genugtuung anzuhören. »Gut möglich, dass du Morcheba schneller zu sehen bekommst, als du …«
Ein Lichtblitz flammte auf.
Blendend. Weiß wie brennendes Magnesium. Es dauerte eine Sekunde, bis die Schockwelle das grelle Leuchten eingeholt hatte. Hell, hell, hell! Lichtreflexe auf Messinghaut. Dann folgte der Donner – ein bebender, markerschütternder Knall, der die Hunger seitlich über den Himmel stieß. Die Maschinen heulten und qualmten protestierend. Jubei verlor das Gleichgewicht und klammerte sich zu seiner grenzenlosen Beschämung am Arm der Geißel fest, um nicht lang hinzuschlagen.
Eine Welle heißer Luft. Gequältes Metall kreischte. Weitere Explosionen, ausgelöst durch die erste. Jubei drehte sich um, und der Atem stockte ihm. Er begriff nicht, was er sah.
Das Schlachtschiff steuerbords. Die Stimme aus dem Abgrund. Eine Besatzung, die aus zwanzig Gildenmarineinfanteristen bestand, zwölf Lotusmännern, vier Werkmeistern, sechs Offizieren und dreißig Mannschaftsmitgliedern.
Sie stürzten ab.
Der Ballon war nicht mehr da; stattdessen schwoll ein lang gezogener Feuerball in dem schwarz verkohlten Exoskelett an. Flammen fraßen sich an der Takelage hinab und steckten das Deck in Brand. Trossen rissen und die Maschinen wimmerten, als das Schiff sich unter ungebremstem Schub aufbäumte. Der Bug zeigte in den Himmel, doch die Stimme fiel weiter. Über Funk hörten sie entsetzliche Schreie: Winzige brennende Gestalten stürzten über die Reling und auf die Felsschlünde zu, die Hunderte Meter unter ihnen klafften. Ein paar Mannschaftsmitglieder kämpften tief geduckt mit dem Rettungsboot am Heck. Dann ein weiteres ohrenbetäubendes Krachen: Die Chi-Reserven der Stimme hatten sich entzündet. Das Heck explodierte, flammende Bruchstücke der Hülle schossen durch die Luft, und das Schiff überschlug sich – so wirbelte es seinem Untergang entgegen.
»Im Namen der ersten Blüte!«, bellte die Geißel. »Was war das? Bericht!«
An Bord der Hunger herrschte Chaos. Marineinfanteristen hasteten über das Deck, um die zusätzlichen Shuriken-Werfer zu bemannen. Befehle wurden gebrüllt. Alles rannte. Schützen schrien, dass sie die Zielkoordinaten bräuchten; die Männer in den Ausgucken versuchten, mit ihren Fernrohren durch den wabernden Qualm zu spähen; Asche fiel wie Regen vom Himmel. Jubei sah den blau-weißen Lichtschein von Raketendüsen: Brüder, die die Explosion überlebt hatten und denen es gelungen war, von der Stimme zu entkommen.
»Da!«, schrie er. »Überlebende!«
Zehn, vielleicht zwölf Meter war der vorderste Shatei noch von der Reling der Hunger entfernt, da schimmerte inmitten des Rauches etwas Weißes auf. Metall kreischte. Ein erstickter Aufschrei. Und dann sah Jubei, wie das blaue Feuer der Düsen flackerte und erstarb. Ein Nebel aus feinen, roten Tröpfchen, und der Bruder fiel vom Himmel – zuerst die Beine und dann, mit einiger Verspätung, der Oberkörper.
»Erste Blüte, rette uns!«, flüsterte Jubei.
Die Hunger erbebte. Ein tiefes Grollen hallte über den blutroten Himmel. Das Fleisch in seiner Haut schlotterte erbärmlich. Nieten ächzten und stöhnten, und das Deck zitterte wie ein ängstliches Kind in der Finsternis. Ein Donnerschlag, unverkennbar. Und doch war der Himmel, vom Qualm einmal abgesehen, so klar wie poliertes Glas …
»Gefechtsstationen!«, brüllte die Geißel. »Alle Mann auf Gefechtsstation!«
Erneut knatterten die Werfer, Shuriken-Salven pfiffen durch die Luft, Druckgas entwich zischend, Munitionsgurte klapperten dumpf. Überall glitzerte Stahl in der Luft, blind in den Rauch geschossen. Der Mech-Abakus auf Jubeis Brust surrte und klackte: Das Kapitelhaus in Kigen verlangte nach Informationen. Er konnte jedoch die Hände nicht ruhig genug halten, um zu antworten.
Wieder Schreie. Dazwischen Rufe: »Sichtkontakt! Sichtkontakt!« Eine winzige Flamme hinter ihnen. Jubei schaute gerade rechtzeitig zurück, um eine weiße Gestalt zu erblicken, die um den Ballon der Lotuswind herumschoss. Eine geflügelte Bestie. Ihre Klauen zerfetzten das verstärkte Segeltuch des Schwesterschiffes wie feuchtes Reispapier.
Kurz erstarrte die Welt – eine Reglosigkeit wie die Todesstille zwischen zwei Herzschlägen. Jubei schaute über den Abgrund hinweg, der sich zwischen ihm und der weißen Bestie auftat. Über den Himmel aus sirrendem Stahl und beißendem Rauch. Und in diesem flüchtigen Augenblick sah er sie: eine schwarze Silhouette auf dem Rücken der Bestie. Ihr langes Haar flatterte im Funkengestöber, sie duckte sich zwischen metallenen Schwingen. Die Bestie, ein Fabelwesen, das es unmöglich wirklich geben konnte, zerfetzte noch immer den Ballon. Die Reiterin hielt etwas in der Hand: eine Leuchtfackel, an deren Ende eine orangerote Flamme brannte. Ihre Finger öffneten sich. Sie ließ die Fackel fallen.
Dann kam das Licht. Die furchtbare Explosion.
Die Hunger krängte nach Steuerbord, die Druckwelle fegte übers Deck und schleuderte vier Marineinfanteristen über die Reling. Eine Feuerkugel – der Ballon der Lotuswind platzte wie eine übervolle Blase. Holz barst. Erstickender Qualm stieg auf. Die Geißel bellte Befehle. Die Shuriken-Werfer ratterten, die angeschlagenen Maschinen kreischten. Das gepanzerte Kriegsschiff drehte sich wie ein Kreisel. Der Shuriken-Hagelsturm schien die weiße Bestie nicht weiter zu beeindrucken: Sie ging im Sturzflug nieder, riss die Backbordmaschine ab und verschwand dann hinter der Lotuswind.
So schnell. Wie kann sie so unglaublich schnell sein?
»Bündelt das Feuer! Alle Werfer: Feuer! FEUER!«
Die Bestie hielt sich hinter dem abstürzenden Schiff, bis sie außer Reichweite der Shuriken-Werfer war, dann tauchte sie hinter eine hoch aufragende Felsspitze aus schwarzem Stein. Im nächsten Augenblick schlug die Lotuswind im Tal auf. Mit einem donnernden Krachen explodierten die Chi-Tanks, und das Wrack des Schlachtschiffs glühte auf wie eine zweite Sonne. Es steckte alles um sich her in Brand. Der Steuermann der Hunger warf das Ruder herum, und die Nase des Schiffs schwang in die Richtung, in die das weiße Ungeheuer verschwunden war. Jubei sah im dichten Qualm Raketendüsen leuchten, hörte das Rauschen von Flügeln – und dann einsame, furchtbare Schreie. Dazu Shuriken-Salven. Metallstiefel auf Holzplanken. Die Geißel brüllte dem Funker Befehle zu: Er solle den Feindkontakt melden, Verstärkung anfordern. Über den offenen Kanal stürzte ein Tumult aus überschnappenden Stimmen auf Jubei ein.
»Hast du es gesehen?«
»Meldet eure Position!«
»Was war das?«
»Ich brauche Munition! Werfer vier, bin bei zwanzig Prozent.«
»Werfer sieben, fünfzehn Prozent!«
»Konzentriert euch auf den Himmel! Sie haben bisher von oben angegriffen!«
»Siehst du irgendetwas?«
»Arashitora!«
»Hier spricht Kapitän Montarō!« Die Stimme der Geißel schnitt durch das Stimmengewirr wie ein Kettensägenkatana. »Ruhe, aber sofort! Der nächste Bruder, der dazwischenfunkt, landet vorzeitig in der Inochi-Grube!«
Augenblicklich herrschte Stille. Das statische Rauschen klang beinahe furchtsam.
»Die Werfer nachladen, auf der Stelle. Den Ballon im Auge behalten, Auftriebskompensatoren bemannen. Steuermann, bring uns aus diesem verfluchten Qualm raus. Hart nach Backbord. Maschinen volle Kraft. Dreißig Meter aufsteigen.«
Der Kapitän marschierte zum Rand des Steuerstandes hinüber, sodass die Mannschaft ihn sehen konnte. Der Lärm der Maschinen schwoll an, ein tiefes, bebendes Heulen, unterlegt vom dumpfen Knattern der Propeller. Der Rauch wurde dünner. Asche häufte sich auf dem Deck, grauen Schneeverwehungen ähnlich.
»Ich kenne euch, Brüder. Seit Jahren dienen wir zusammen auf diesem Schiff. Die Gaijin sprechen nicht umsonst voller Furcht von der Izanamis Hunger, Schrecken der Lüfte. Noch nie ist sie im Kampf besiegt worden! Ich sage euch: Nein, wir werden nicht verzagen, auch nicht angesichts dieses …«
»Sichtkontakt! Backbord! Backbord! In der Höhe!«
»Aus der Sonne! Sie kommen aus der Sonne …«
»FEUER!«
Wieder erklang jener furchtbare Donnerhall, bei dem sich Jubeis Magen verkrampfte. Die Hunger sackte ab, als hätten zornige Götter ihr einen Stoß gegeben. Jubeis Beine waren weich wie Pudding, sein Mund so trocken, als sei er mit Asche gefüllt. Er klammerte sich verzweifelt an der Reling fest, seine Panzerhandschuhe gruben Rillen in das Holz. Er wollte, er könne sich den Helm vom Kopf reißen und sich das Salz aus den Augen reiben. Dann ginge es ihm wenigstens einen Augenblick lang ein wenig besser …
Die unklaren, verworrenen Visionen seines Erwachens fielen ihm ein, der Blick auf die Zukunft, die ihn erwartete – gesetzt den Fall, er besäße die innere Stärke, sie auch zu ergreifen. Von dem, was er in der Rauchkammer gesehen hatte, hatte er nur das Wenigste verstanden. Nichts hatte jedoch darauf hingedeutet, dass er über einhundert Kilometer von seiner Heimat entfernt auf diesem Schiff verbrennen oder in den schwarzen Schluchten des Gebirges zu Tode stürzen würde! Und als die Shuriken-Werfer wieder zu rattern begannen, die Späher in Panik gerieten und das weiße Ungeheuer aus der Sonne auf sie zugestürzt kam, spürte Jubei, wie etwas in ihm zerriss. Ein roter Nebel stieg vor seinen Augen auf, die Furcht erstickte jede Vernunft. Alle Mantras und Lehrsätze waren vergessen, nur eine einzige Wahrheit flammte hell in seinem Geist.
Er war nicht dazu bestimmt, hier zu sterben.
Also rannte er los. Den gebrüllten Befehl der Geißel hörte er gar nicht. Verängstigt fummelte er an seinem Handgelenk herum und suchte den Knopf, der die Raketendüsen zündete. Kaum hatte er ihn gefunden, sprang er auf die Reling. Seine Metallsohlen rutschten über das polierte Holz, die Schwerkraft griff nach ihm, zerrte an ihm, aber blau-weiße Flammen fingen ihn auf. Die Vibration des Raketenantriebs schüttelte ihn durch. Hinter ihm flackerte ein schreckliches grelles Licht auf. Ohrenbetäubender Donner verriet ihm, dass der Ballon der Hunger explodiert war. Über Funk hörte er das Brüllen der Feuersbrunst und die Todesschreie qualvoll verbrennender Männer. Er schaltete den Empfänger aus. Nun summte ihm nur noch der panische Hochfrequenz-Datenstrom seines Mech-Abakus in den Ohren, die drängende Forderung, jemand – irgendjemand! – möge Bericht erstatten.
Er drehte die Düsen voll auf, schoss davon und ließ das dem Untergang geweihte Schlachtschiff hinter sich zurück. Sah es nicht am Berghang zerschellen, hörte nur die Explosion und ihren lang anhaltenden, donnernden Widerhall. Vor seinem geistigen Auge stand das Bild der Bestie, eine Lithografie, mit Tusche aus Angstschweiß und Adrenalin zu Papier gebracht. Schillernde Metallschwingen, die Flügelspannweite gewaltig. Gefiedert an Kopf und Hals, Augen in der Farbe geschmolzenen Bernsteins, die Vorderbeine eisengrau. Schneeweißes Fell an den Hinterläufen, pechschwarze Streifen, der lange Schwanz eine Peitsche. Der Schnabel, die Klauen. Ein Greif, den Legenden entsprungen und über und über mit dem Blut seiner Gildenbrüder bedeckt.
Jubei betete. Zum ersten Mal in seinem Leben. Zu Göttern, die es nicht gab und die ihn deshalb wohl auch nicht erhören würden. Hirngespinste, Krücken für die Hautlosen. Die Unwissenden. Aberglauben, dem kein Gildenmann wirklich anhing. Und doch betete er mit einer Inbrunst, mit der es kein Priester hätte aufnehmen können. Lasst mich schneller fliegen, flehte er stumm, bringt mich fort! Oh, bitte, erlaubt nicht, dass sie mich kriegen … Sein Puls hämmerte so hart, dass er fürchtete, seine Adern könnten platzen. Und doch – wäre sein Herz ein Motor gewesen, hätte er ihn zur Höchstleistung angetrieben, auf die Gefahr hin, ihn zu überlasten. Wäre Chi in seinen Venen geflossen, hätte er sie geöffnet und noch den letzten Tropfen in seine Kraftstofftanks geleert, um nur einen halben Meter weiterzukommen.
Trotzdem holten sie ihn ein.
Ein Rauschen hinter ihm, der Donner schlagender Trommeln. Als er über die Schulter zurückblickte, waren sie schon da. Sie prallten gegen ihn, und Funken regneten auf ihn herab. Panisch bäumte er sich im Griff des monströsen Greifen auf, die Arme konnte er nicht bewegen. Seine Haut kreischte wie eine verwundete Aasratte, und er schrie sich die Kehle wund, bis ihm endlich aufging, dass er zwar in den Klauen der Bestie hing wie der Leichnam eines Gaijin über der Inochi-Grube, dem Tier und seiner Reiterin vollkommen ausgeliefert – aber er war noch am Leben.
Sie hatten ihn nicht umgebracht.
Eine Ewigkeit verstrich. Sie flogen nach Süden über Bergkämme, die den Himmel berührten. Unter ihnen erstreckte sich ein grüner Ozean, der sich flammend rot zu färben begann, ein endloser gewellter Teppich, gewebt aus flüsternden Bäumen und verschneiten Bergspitzen. Endlich sanken sie tiefer und kreisten um einen ebenen, schneebedeckten Felsvorsprung. Darunter die grauen Gebirgsausläufer. Hier waren die Iishis zu Ende.
Fünf Meter über dem Felsvorsprung ließen sie ihn fallen. Sein Panzer dröhnte wie eine Glocke, als er aufschlug, Funken stoben und Metall knirschte. Sein Schädel prallte von innen gegen seinen Helm, und er biss sich auf die Zunge. Auf dem Rücken seiner Haut rutschte er über den rauen Felsen und blieb kaum einen halben Meter vor dem Abgrund liegen.
Verängstigt, wie er war, wagte er es nicht gleich, sich zu rühren.
Sie landeten hinter ihm. Die Klauen des Ungeheuers knirschten auf Raureif. Der Wind heulte. Schwerfällig rollte sich Jubei auf die Seite, und da war die Bestie: Massig ragte sie über ihm auf, das schneeweiße Fell von oben bis unten scharlachrot gesprenkelt. Sein Blick irrte zwischen dem Schnabel und den Klauen hin und her. Schließlich sah er, dass zusammengesunken auf dem Rücken des Greifen Kioshis Sohn saß – das Kaninchen, das sie mit drei Schlachtschiffen über die ganze Insel gejagt hatten. Er umklammerte seinen blutenden Arm. Zwar war er bleich und schweißgebadet, doch eindeutig am Leben. Schmutzige graue Kleider, kurze dunkle Stoppeln auf dem Kopf, intelligente graue Augen. Viel her machte er nicht. Ganz sicher kam er Jubei nicht wie ein Rebell vor, der seine Herkunft verraten und sich gegen seine Familie gestellt hatte. Seinetwegen sollte eine ganze Flotte vernichtet worden sein?
Aber dann vergaß er Kioshis Sohn wieder, denn das Mädchen – nur ein Mädchen! – schwang sich vom Rücken der Bestie. Die Sturmtänzerin. Federleicht setzte sie auf dem Boden auf. Ihr Hakama und ihre Uwagi waren schwarz und weit geschnitten, langes dunkles Haar umfloss ihre Schultern. Ihre blasse Haut war mit Asche überstäubt und mit Blut befleckt. Sie hatte sich eine polarisierte Schutzbrille umgeschnallt und trug ein altmodisches Katana auf dem Rücken. In ihrem Obi steckten Leuchtfackeln. Sie war schlank, hübsch und unglaublich jung.
»Nimm das ab«, sagte sie kalt und deutete auf seinen Helm. »Ich will dein Gesicht sehen.«
Jubei fummelte gehorsam an den Verschlüssen an seinem Hals herum und zog sich den Helm vom Kopf. Eisiger Wind biss ihm ins Fleisch. Er spuckte Blut in den Schnee. Wie hell es war! Das grelle Sonnenlicht tat ihm in den Augen weh.
Sie zog ihr Katana – die Klinge sang, als sie aus der Scheide glitt –, marschierte auf ihn zu und setzte sich rittlings auf seine Brust. Der Arashitora knurrte warnend, ein tiefer, grollender Ton, der die Platten seiner Haut zum Schwingen brachte. Das Mädchen streifte die Schutzbrille ab, sodass Jubei ihm in die Augen sehen konnte: Sie sahen aus wie schwarzes Glas und funkelten vor Zorn. Das Mädchen setzte ihm die Klinge an die Kehle.
»Du weißt, wer ich bin.«
Er schluckte schwer. »Hai.«
»Du hast gesehen, wozu ich in der Lage bin.«
»H-hai.«
»Lauf rasch nach Hause zu deinen Herren. Erzähl ihnen, was du hier gesehen hast. Und sag ihnen auch: Wenn sie das nächste Mal ein Himmelsschiff auch nur in die Nähe des Iishi-Gebirges schicken, schneide ich dem Kapitän den Namen meines Vaters in die Brust, ehe ich den Himmel mit seinem Blut tünche. Verstehst du mich?«
»Ja. Ja, ich verstehe …«
Sie lehnte sich nach vorn, und die Schneide ihrer Klinge sank in sein Fleisch. Jubei erstarrte. Er wagte nicht zu atmen. Blutstropfen rannen ihm den Hals hinunter. Ihr Gesicht spiegelte ein wildes Gefühl, das ihn zutiefst erschreckte: Sie wollte ihm die Kehle aufschlitzen. Wollte in dem Blut baden, das aus seiner Halsschlagader sprudeln würde, sich die Hände mit dem blutigen Schaum aus seiner Luftröhre einseifen. Sie bleckte die Zähne, und er spürte, wie die Klinge sich bewegte; sie beugte sich über ihn wie eine Schreckensgestalt aus einem Kinderbuch, ein Albtraum, der zum Leben erwacht war.
Das Mädchen, das alle Gildenmänner fürchten.
»Bitte«, flüsterte er. »Bitte …«
Einsam und klagend heulte der Wind zwischen den Felsspitzen, ein dünnes Wehgeschrei, das vom Tod zu künden schien. Von hungrigen Wölfen. Er hörte darin die Schreie seiner sterbenden Brüder. In ihren Augen sah er das Ende. Das Ende aller Dinge. Und er fürchtete sich.
Da meldete sich der Junge auf dem Rücken des Donnertigers zu Wort.
»Yukiko?«, fragte er. Er klang besorgt.
Sie verengte die Augen, ohne den Blick von Jubei zu wenden.
»Er hieß Masaru«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne. Mit dem Handrücken schmierte sie sich Blut über die Wange. »Mein Vater hieß Masaru.«
Und dann stand sie auf. Sie keuchte, als sei sie gerannt. Den Griff ihres Katanas umklammerte sie so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Dann wirbelte sie das Schwert herum und rammte die Spitze neben seinem Kopf in den Boden. Zitternd blieb die Waffe im Schnee stecken. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab, ging zu der Bestie zurück und kletterte auf ihren Rücken. Ihr Haar flatterte wie ein langes schwarzes Seidenband hinter ihr her. Das Kaninchen legte seine Arme um ihre Taille und lehnte sich gegen sie. Und mit einem Rauschen und jenem furchtbaren Donnerknall sprang der Greif in den Abgrund und schraubte sich auf thermischen Luftströmungen in die Höhe. Eine wirbelnde Aschespur folgte ihnen.
Jubei beobachtete, wie sie am rauchverhangenen Horizont immer kleiner wurden. Erst als er sie nicht mehr sehen konnte und da nur noch der rote Himmel, die grauen Wolken und der ferne schwarze Qualm waren, schaute er das Schwert an. Eine blasse Spur seines eigenen Blutes zog sich über den Stahl.
Er schloss die Augen.
Vergrub das Gesicht in den Händen.
Und dann weinte er.