Читать книгу Der Lotuskrieg 2 - Kinslayer - Jay Kristoff - Страница 28
8 NIEMAND
ОглавлениеWohin es einen auch verschlägt – und mag die Küste noch so anders aussehen, der Himmel darüber eine andere Farbe haben –, eine Sache ist überall gleich: Unter der Sonne gibt es drei Arten von Trinkern.
Einmal den heiteren Typ, der gern feiert. An Festtagen trinkt er regelmäßig über den Durst, und während ihm die Röte in die Wangen steigt, wird er immer ausgelassener. Er lallt beim Singen und streitet mit seinen Freunden über den Krieg gegen die Gaijin oder das letzte Spektakel in der Arena. Dabei grinst er die ganze Zeit über. Und obwohl er tief ins Glas schaut, ertrinkt er nicht darin. Wenn er sein eigenes Spiegelbild im Boden des Glases sieht, erkennt er sich und lächelt.
Dann den Typ, der trinkt, als sei es seine Berufung. Still kauert er vor seinem Glas und stürzt auf den Vollrausch zu, so rasch er den Alkohol nur schlucken kann. Er genießt weder die Reise noch findet er Trost in der Gesellschaft auf dem Weg. Doch verlangt es ihn so heftig danach, anzukommen, dass er nicht ruht, bis er sein Ziel erreicht hat: Besinnungslosigkeit. Ein Schlaf, in dem die Träume so tief unter die Oberfläche sinken, dass Geräusche zu Schwingungen werden: Sie gleichen dem Wiegenlied einer Mutter, gesungen in jener verwischten Vergangenheit, als Worte noch keine Bedeutung hatten.
Niemands Vater hatte dem dritten Typ angehört.
Ein hundsgemeiner Kerl war er gewesen, der die Flasche als Tür betrachtete, die in sein eigenes pechschwarzes Inneres führte. Ein Lösungsmittel, um den Lack von der Maske zu kratzen, sodass darunter Knochen und Blut hervorschimmerten. Zwar nuschelte er Entschuldigungen (das wollte ich nicht, war nicht ich selbst), doch unausgesprochen schwang immer das Versprechen mit, dass sich nichts ändern würde.
Wie er die Lippen gegen die Flaschenöffnung drückte! Als sei es der Mund einer Geliebten. Der Alkohol war ihm ein Balsam, den er nach seiner Rückkehr aus dem Krieg im Ausland entdeckt hatte. Ein Betäubungsmittel, das die Schreie der Gaijin in seinen Träumen erstickte, den Schmerz verlorener Körperteile dämpfte. Und obwohl er ebenfalls ein Spieler war, hoffnungs- und wehrlos, war die Flasche seine erste und wahre Liebe.
Aber auch sie liebte er, auf seine Weise. Ihre Mutter rief er »Schlampe«, ihren Bruder »Bastard«. Doch seine Tochter? Sein Ein und Alles? Seine Blume? Selbst im Suff nannte er sie beim Namen.
Hana.
Ihre frühste Erinnerung an ihre Mutter: Tränen, die aus halb zugeschwollenen, leuchtend blauen Augen quollen. Gebeugte Schultern, zitternde Hände und gebrochene Finger. Geschrei und Beschimpfungen. Offene Wunden, blutige Lippen und ausgeschlagene Zähne.
Manchmal hatten sie tagelang nichts zu essen. Dann wieder folgten kurze Zeitspannen des Überflusses: Der Tisch war plötzlich voll beladen, und ihr Vater schenkte ihnen mit breitem Lächeln, sodass sie seine kaputten Zähne sehen konnten, kleine Spielzeuge (sie bekam Puppen, ihr Bruder Soldaten), die er ein paar Wochen später dem Pfandleiher bringen würde.
Yoshi und sie rannten mit den anderen Waisen, die ihre Eltern an die Flasche, den Lotusrauch oder den Krieg verloren hatten, durch die Gossen der Stadt Yama. Sie sechs, Yoshi sieben. Beide härter als die Haut eines Lotusmannes. Gewalt, Dreck und blutige Fingerknöchel. Der Gestank nach Chi und Fäkalien. Faustkämpfe. Zerbrochenes Glas. Die Leichen von Bettlern verrotteten in Abwasserkanälen. Andere lagen in Durchschlupfen und husteten sich die Lunge aus dem Leib, während die Kinder dort spielten, lachten und alles andere vergaßen, wenn auch nur für einen Augenblick. Und stets hatten sie einander. Was auch geschah, Yoshi und sie konnten aufeinander zählen.
Blutsbande.
Und dann kaufte Vater den Hof. Ein winziges Stück Land nahe der Stadt Kigen, das er in einer Yakuza-Rauchhöhle gewonnen hatte. Der Kriegsheld wurde zum Ackersmann. Und so verließen sie Yama und bestiegen ein Luftschiff nach Süden: Es war das erste und einzige Mal in ihrem Leben, dass sie flog. Die Maschinen brachten ihre Knochen zum Vibrieren, der Wind streichelte ihre Wangen, und sie stand am Bug und sah zu, wie die Welt unter ihnen dahinglitt. Wie sie sich wünschte, dass sie nie würden landen müssten!
Yoshi hasste ihn. Hasste ihn wie die Pest. Aber selbst dann, als sie nicht mehr zählen konnte, wie oft er sie volltrunken verprügelt hatte, liebte sie ihn noch. Sie liebte ihn von ganzem Herzen.
Sie konnte es nicht ändern.
Er war doch ihr Vater.
Vor Sonnenuntergang stand sie auf und schlüpfte widerwillig in ihren Dienstmädchen-Kimono. Auf der Zunge schmeckte sie alte Abgase. Sie wusch sich das Gesicht in dem Eimer mit lauwarmem Wasser und tastete über ihre Wange, die gespaltene Augenbraue. Das Narbengewebe war glatt unter ihren Fingerspitzen. Kerzenlicht und zerbrochenes Glas in ihrer Erinnerung. Speichel und Blut. Sie setzte ihre Augenklappe auf, bändigte ihr wildes, kinnlanges Haar so gut sie konnte und bereitete sich innerlich auf die Nacht vor. Sie warf einen raschen Blick in Yoshis und Jūrōs Schlafzimmer und sah, dass beide noch schliefen. Zum Glück waren keine Katzenexkremente zu sehen.
Mach’s gut, Daken.
Der Kater saß auf dem Fensterbrett, eine schwarze Silhouette vor dem langsam dunkler werdenden Himmel. Er beobachtete sie genau.
… vorsichtig …
Niemand hob den Eisenwerfer auf, der zwischen leeren Flaschen und verstreuten Spielkarten auf dem Tisch lag, steckte ihn in die verborgene Tasche unter ihrer Achsel und klopfte darauf.
Ich bin immer vorsichtig. Ich seh dich dann später!
… seh dich zuerst …
Zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und nach draußen, auf die verdreckte, halb dunkle Straße. Noch gingen Hunderte Menschen eilig ihren Geschäften nach, doch bald würde die nächtliche Ausgangssperre in Kraft treten. Der Gestank der Stadt empfing sie: menschliche Ausscheidungen, schwarzes Meerwasser und Chi-Abgase. Nach der sengenden Hitze des Sommers waren die kühlen Herbstnächte eine Erleichterung, aber die untergehende Sonne glühte noch immer so grell wie das Feuer in einem Hochofen. Sie stülpte sich ihre altersschwache Schutzbrille über, um ihr verbliebenes Auge zu schützen.
Der Lärm lastete auf ihr wie ein Gewicht: die Geräusche der wimmelnden Menge, das Brummen und Röhren motorisierter Rikschas, das tiefe Grollen von Generatoren. Darunter – eher eine Vibration als ein Geräusch – konnte sie die Unzufriedenheit spüren. Den Ärger. Zerbrochenes Glas knirschte unter den Sohlen der Vorbeieilenden, es knisterte wie strohtrockenes Zunderholz, das jeden Augenblick in Flammen aufgehen konnte. Über die Rekrutierungsplakate war Graffiti geschmiert, dieselbe Botschaft in beinahe jeder Straße:
ARASHI NO ODORIKO KOMMT!
Sie überquerte die teerschwarzen Flüsse Shōjo und Shiroi. Auf der Sonnenseite herrschte eine andere Stimmung: Neo-Chōnin wieselten mit ängstlich eingezogenen Köpfen vorbei, die Marktstände waren leer. Als sie den Palast erreicht hatte, verschmolz die Sonne mit dem Horizont. Niemand verneigte sich tief vor den Wachen am Tor und zeigte mit gesenktem Blick ihren Passierschein vor. Das Fäkalienmädchen war natürlich keinen Gruß wert, die Männer öffneten einfach das Tor und traten beiseite. Mit einer Burakumin zu sprechen, wäre gewesen, als richte man das Wort an Abwasser, das durch die Gosse strömte. Es kam ihnen nicht einmal in den Sinn.
Höflinge in farbenprächtigen Gewändern standen in Grüppchen beisammen und flüsterten hinter ihren Atemmasken und vorgehaltenen Fächern. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als Niemand vorbeihuschte. Sie lief zum Flügel des Daimyō hinüber, um ihre nächtliche Runde zu beginnen. Im düsteren Innenhof zerrten drei elendig dürre Tiger an ihren Ketten und keuchten in der giftigen Luft. Im Palast folgte ihr das Zirpen und Knarren des Nachtigallenbodens wie ein Schatten.
Der Boden sollte potenzielle Attentäter abschrecken, da sie nicht damit rechnen konnten, unbemerkt zu bleiben. Die Gilde hatte sich jedoch nicht auf diese Vorsichtsmaßnahme verlassen wollen: Vor einer Woche hatte sie einen Schwarm kleiner Maschinen im Palast ausgesetzt, die offenbar »Spinnendrohnen« genannt wurden. Faustgroß waren sie und jeweils mit einem Aufziehschlüssel und acht segmentierten Beinen ausgestattet, die spitz zuliefen wie Nadeln. Sie krabbelten durch die Flure, über Wände und Decken, und das filigrane Räderwerk in ihrem Inneren tickte leise. Als Niemand sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie neugierig einen der kleinen Apparate aufgehoben, um ihn sich genauer anzusehen. Er hatte in ihrer Hand zu vibrieren begonnen und ein Alarmsignal ausgestoßen; erst als sie ihn wieder abgestellt hatte, hatte er wieder aufgehört. Eine andere Dienerin hatte sie gewarnt, dass die Drohnen alles, was sie sahen, an ihre Meister weitergaben. Seither sah Niemand sich ständig nach den verfluchten kleinen Maschinenwesen um. Der Thron schien Herrn Hiro durch die Unterstützung der Gilde schon beinahe sicher.
Vor der Tür zu den Gemächern des Daimyō blieb Niemand stehen und verneigte sich tief vor den eisernen Samurai, die dort Wache standen. Sie trugen die goldenen Wappenröcke der Elite Kazumitsus – der Leibgarde des Herrschergeschlechts. Nun, nach dem Tod Shōgun Yoritomos, waren sie in Schande gehüllt. Man sah es ihnen nicht an: In ihren beeindruckenden Ōyoroi ragten sie höher als zwei Meter auf. Kolben, Zahnräder und Schulterstücke, so breit und flach wie Dachschrägen. Kettensägenkatanas und Wakizashi kreuzten sich an ihren Taillen. Vor Yoritomos Tod waren ihre Rüstungen schwarz emailliert gewesen, jetzt waren sie knochenweiß: die Farbe des Todes, die lebendigen Männern aufgemalt worden war.
Nachdem zum ersten Mal über Schall berichtet worden war, was die Gilde den Gaijin-Kriegsgefangenen angetan hatte, war es zu Unruhen gekommen. Sie hatte Gerüchte über diese Nacht gehört, Geschichten über eine Legion bleicher Geister, die aus dem Palast geströmt war, um die Inochi-Aufstände niederzuschlagen. Ein junger Hauptmann hatte sie angeführt, mit Augen so grün wie die Feuer der Hölle.
Ein kaum wahrnehmbares Nicken ließ Niemand wissen, dass sie eintreten durfte. Wieder verneigte sie sich tief, schob die Doppeltür auseinander, den Blick gesenkt, die Schultern hochgezogen, und trat ein.
»Versucht es jetzt noch einmal«, sagte eine metallische, zischende Stimme.
Kaum hatte Niemand die lampenbeschienene Szene in sich aufgenommen, da fiel sie auch schon auf die Knie und drückte die Stirn auf die Dielen. Drei Gildenmänner standen um einen Patientenstuhl herum. Zwei waren nicht voneinander zu unterscheiden: Sie wirkten vage feminin und trugen über ihren Panzern enge erdbraune Membranen und lange, mit vielen Schnallen besetzte Schürzen. Beiden saßen silberne Kugeln auf dem Rücken. Je acht funkelnde Gliedmaßen umschwebten sie wie rasiermesserscharfe Koronen. Sie hatten kaum ausgeformte Gesichter und hervortretende Augen, die so dunkelrot schimmerten wie Herzblut.
Den dritten Gildenmann erkannte sie sofort: Es war Kensai, die zweite Blüte des Kapitelhauses in Kigen, Sprecher der Gilde in der Hauptstadt des Tiger-Clans. In seinem muskulös gestalteten Atmos-Panzer aus brüniertem Messing war er eine imposante Erscheinung. Seine Facettenaugen glühten, der Mech-Abakus auf seiner Brust stotterte und schnatterte in der unverständlichen Sprache der Maschinen vor sich hin. Beunruhigenderweise trug die zweite Blüte das Gesicht eines schönen Jünglings. Aus dem Mund, der zu einem ewigen Schrei geöffnet war, ergossen sich segmentierte Eisenleitungen. Wie immer flößte ihr sein bloßer Anblick eiskalte Furcht ein.
»Hiro-sama, ich bitte Euch.« Kensais Stimme hörte sich an wie das Raspeln einer eisernen Feile. »Versucht es!«
Verstohlen sah Niemand zu dem Patientenstuhl hinüber. Der junge Mann, der dort saß, hatte langes dunkles Haar, einen Spitzbart und stechende grüne Augen (die Farbe erinnerte sie an Kitsune-Jade). Hohe Wangenknochen, bronzefarbene Haut. Er war gut in Form: Seine Bauchmuskeln zeichneten sich deutlich ab und sahen aus, als seien sie aus Paulownienholz geschnitzt. Vielleicht hätte er ihr an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit sogar gefallen. Doch unter seinen schönen Augen lagen graue Schatten. Er schien keinen Appetit zu haben: Ihr war aufgefallen, dass er seine Mahlzeiten nicht anrührte. Kein Wunder, dass er mager und hohlwangig war.
Herr Hiro hob den rechten Arm, die Stirn vor Anstrengung gerunzelt, und bewegte einen Finger nach dem anderen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie das Geschenk der Gilde sah, aber sie konnte nicht umhin, es zu bewundern. Die Kugelgelenkfinger mit den gehärteten Spanndrähten. Der komplizierte Mechanismus war ein Kunstwerk aus stumpfem grauem Eisen, schön und schrecklich zugleich. Kolben hoben und senkten sich zischend, Zahnräder griffen sirrend ineinander.
Ein Räderwerkarm.
»Hervorragend«, murmelte Kensai. »Die Reaktionsgeschwindigkeit ist höchst vielversprechend.«
»Werde ich bald in der Lage sein, ein Schwert zu führen?« Herrn Hiros Stimme klang, als sei er in Gedanken weit fort.
»Gewiss.« Eine der Spinnenfrauen nickte. Ihre silbernen Glieder beugten und streckten sich. »Die Prothese ist viel stärker als ein Arm aus Fleisch und Blut. Selbstverständlich liegt es an Euch, Eure Waffe zu meistern. Ihr müsst üben, Hiro-sama. Die Haut ist stark, das Fleisch ist schwach.«
»Der Lotus muss blühen«, intonierte Kensai.
Der Daimyō des Tiger-Clans erhob sich und beugte den Arm. Zischend traten kleine Abgaswolken aus. Eine eiserne Manschette lag um seine Schulter – sie verbarg den Übergang von Fleisch zu Metall. Auf seinem linken Oberarm prangte die Reichssonne und sandte ihre Strahlen über gut ausgebildete Muskulatur. Darunter war ein frisches Irezumi zu bewundern: Die Lotusblüten waren das Symbol seines Ranges als Oberhaupt eines Clans. Er war der Daimyō. Der Herr des Tiger-Zaibatsu.
Eine beeindruckende Errungenschaft für einen Achtzehnjährigen.
Er warf sich eine lockere Seidenrobe über und bemerkte dabei Niemand, die auf dem Boden kniete – und ihn immer noch ansah. Sie spürte, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht wich. Hastig drückte sie die Stirn wieder gegen die Dielen. Das Herz hämmerte ihr in der Brust. Warum hatte sie nicht gewartet, bis alle fort waren? Sie hätte mit den Gemächern der Minister beginnen sollen, anstatt herzukommen und zu riskieren, bemerkt zu werden …
»Kümmere dich um deine Aufgaben, Mädchen«, sagte der Tiger-Daimyō.
»Mein Gebieter.« Rasch stand sie auf und eilte in das schwach beleuchtete Schlafgemach. Sie kniete neben dem Nachttopf nieder und hörte die dröhnende Stimme der zweiten Blüte.
»Die Oberhäupter des Phönix-Clans haben die Einladung zu Eurer Hochzeit angenommen, mächtiger Gebieter. Der schwebende Palast ist bereits auf dem Weg hierher. Aus sicherer Quelle wissen wir, dass die Drachen ihrem Beispiel folgen wollen. Wenn die Ryū und die Fushichō Euren Anspruch anerkennen, werden sich die Kitsune anschließen. Und sollte dem nicht so sein, dann vergessen sie zumindest jeden Gedanken an Rebellion, sobald sie Euer Hochzeitsgeschenk gesehen haben.«
»Hochzeitsgeschenk?«
»Hai. Nächste Woche nehme ich Euch in die Provinz Jukai mit, damit Ihr einen Blick darauf werfen könnt.«
»Ich habe Überraschungen nie sonderlich gemocht, Kensai.«
»Dann erlebt Ihr jetzt zum ersten Mal eine, die Euch gefallen wird, mächtiger Gebieter.«
Langsam erhob Niemand sich, den Nachttopf in den Händen. Hochzeitsgeschenk? Was im Namen des Schöpfers …
Aber sie konnte nicht bleiben, sie war schon viel zu lange hier. Leise verließ sie das Schlafgemach und trug den Tontopf durch das Empfangszimmer. Die Gildenmänner und der Daimyō beachteten sie so wenig wie einen Schmutzfleck auf dem Boden. Die Spinnenfrauen packten ihre Werkzeuge zusammen. Der Daimyō war auf den Balkon hinausgetreten und blickte über seine Stadt. Die Ausgangsperre zeigte Wirkung: Eine unnatürliche Stille breitete sich über die Häuser. Hinter Herrn Hiro ragte die zweite Blüte auf. Der Geruch nach Schmierfett und Chi hing schwer in der Luft.
»Nun denn«, sagte Kensai. »Über eins möchte ich noch mit Euch sprechen. Es geht um diesen … Totenpathos, den Ihr zusammen mit den anderen Mitgliedern der Kazumitsu-Elite beschwört …«
Sie schlüpfte aus der Tür und an den beiden riesenhaften Wächtern aus knochenbleichem Eisen vorbei. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sie musste das Versteck in der Kuro-Straße aufsuchen und Grauwölfin Bericht erstatten. Aber um kein Misstrauen zu erregen, musste sie ihre ganze Schicht absolvieren – ohne eine Miene zu verziehen, sich zu beeilen oder ängstlich zu wirken. Das Mädchen, für das sich niemand interessierte, das niemand kannte. Es mochte wie ein menschliches Wesen aussehen, war jedoch ganz und gar bedeutungslos. Keine Aufmerksamkeit wert. Eine Kakerlake, die durch Ritzen krabbelte.
Ritzen, die sie jeden Tag vergrößerte.
Ich bin ein Nichts.
Ich bin Niemand.
Kurz darauf erschütterte ein Erdbeben den Palast – dreißig Sekunden lang wackelten die Wände, Vasen fielen von ihren Podesten und Wandbehänge von ihren Haken. Eine Weile lang sorgte das außergewöhnliche Ereignis für Ablenkung von den höfischen Ränkespielen, aber wenig überraschenderweise war es hinterher den Dienstboten überlassen, die Unordnung wieder aufzuräumen. Die Hauswirtschafterin war außer sich, und naturgemäß war Niemand diejenige, die am meisten darunter zu leiden hatte.
Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang entkam sie dem Palast. Langsam ging sie durch die Gärten, den Strohhut tief ins Gesicht gezogen. Draußen in der stillen Stadt lief ein Bettler an einer leeren Straßenecke im Kreis. Dabei verkündete er lautstark, das Erdbeben sei ein Zeichen: Der große Schöpfer Izanagi sei nicht einverstanden mit der bevorstehenden Hochzeit des Daimyō. Sie musste mitansehen, wie Bushimänner mit jugendlichen Gesichtern den Bettler umzingelten und mit Stiefeltritten zur Räson brachten. Sie trugen Herrn Hiros Farben. Ihr Hauptmann hielt Niemand an; sie zeigte ihren Passierschein vor und beeilte sich, weiterzukommen.
Sie wechselte auf die Schattenseite. Am östlichen Horizont war noch kein Schimmer Tageslicht zu sehen. Daken erwartete sie an der üblichen Stelle, er kam aus der Gasse geglitten wie eine Klinge aus der Scheide. Schnurrend rieb er sein Gesicht an ihrem. Er roch nach frisch erlegter Aasratte.
… hab dich zuerst gesehen …
Kluger Kater. Willst du wieder mein Späher sein?
… wir gehen zu dem dürren haus …?
Nur kurz. Ich muss mit meinen Freunden sprechen.
… kommt yoshi mit …?
Nein, Daken. Yoshi darf nichts davon wissen. Meine Freunde sind ein Geheimnis, weißt du noch?
… viele geheimnisse …
Du verrätst ihm doch nichts?
… hab dir seine geheimnisse ja auch nicht erzählt … oder …?
Der Kater bedachte sie mit einem selbstgefälligen Blick, wandte sich ab und flitzte in die Dunkelheit davon. Obwohl er so groß war, bewegte er sich lautlos wie ein Schatten. Von den verfallenen Dächern konnte er kilometerweit blicken. Er sah mehr als jeder, der ihr durch das verwinkelte Gassenlabyrinth ins Hafenviertel hätte folgen können. Sie zog die Hände in die Ärmel. Das Gewicht des Eisenwerfers in der Innentasche ihres Kimonos hatte etwas Beruhigendes.
Sie wanderte auf den beißenden Gestank der Kigener Bucht zu. Dabei schlug sie Haken, sah sich an jeder Straßenecke um und beobachtete die Spiegelbilder in dreckigen Schaufensterscheiben – so wie sie es ihr beigebracht hatten. Die Kage hatten sie ohne viel Federlesens aufgenommen: Die Notlage, in der sie sich befanden, hatte kein Zögern zugelassen.
Und Niemand? Nachdem sie gesehen hatte, wie die Sturmtänzerin den Shōgun ums Leben gebracht hatte, war ein Funke in ihr aufgeglommen und hatte einen bis dahin finsteren Winkel ihres Geistes schwach erleuchtet. Nie hätte sie geglaubt, Rebellion könnte möglich sein! Nicht nur abseits zu stehen, sondern gegen die Mächtigen zu arbeiten! Aussichtslos. Doch wie rasch brach eine unerschütterliche Weltanschauung in sich zusammen, wenn man mit eigenen Augen sah, wie ein sechzehnjähriges Mädchen den Herrscher des Inselreiches ermordete. Ein Ereignis dieser Tragweite verwandelte »aussichtslos« in »erreichbar«.
Natürlich hatte sie keine Ahnung gehabt, wie sie mit den Kage in Kontakt treten sollte. Wie fand man Einlass in einen Geheimbund? Der Funke flackerte und wurde schwächer; sie hatte nichts, um ihn zu nähren. Yoshi hielt sie von den Inochi-Aufständen fern. Er hatte ihr geradeheraus gesagt, die systematische Ermordung Tausender Gaijin-Kriegsgefangener gehe keinen von ihnen etwas an. Doch dann war Yoritomo beerdigt worden, und die Sturmtänzerin war in die Stadt zurückgekehrt. Als sie auf dem Marktplatz gestanden und ihre Rede gehalten hatte, hatte sie in die Menge geblickt – und Niemand hätte schwören können, dass sie ihr direkt ins Gesicht geschaut hatte. Da hatte sie gespürt, wie der Funke zu einer hungrigen Flamme geworden war. Die Sturmtänzerin war auf ihrem Arashitora davongeflogen, und obwohl Niemand klar gewesen war, wie gefährlich, wie dumm es war, hatte sie mit Tränen in den Augen die Faust in den Himmel gereckt. Sie hatte einfach gewusst, dass sie etwas tun musste.
Am nächsten Tag war Grauwölfin an sie herangetreten.
Das Versteck der Kage war ein unauffälliges Gebäude, eingequetscht zwischen zwei Lagerhäusern, nicht weit von den hohen Ankertürmen. Die Kuro-Straße war schmal. In der einsetzenden Dämmerung sah sie die sturen Gräser, die sich durch die Risse an die abgasverhangene Luft kämpften. Die Fenster der Häuser waren mit Brettern vernagelt. Straßenkurtisanen hielten Papiersonnenschirme, die der giftige Regen grau gefärbt hatte. In den Rinnsteinen lagen Müll, Lotusjunkies und Bettler mit Rußlunge – für jeden, der nicht wusste, wonach er Ausschau halten musste, unterschied sich die Straße in nichts vom Rest des Hafenviertels.
Niemand nickte einer Späherin zu – einem zwölfjährigen Mädchen, das sich aus unbegreiflichen Gründen den Decknamen »Schlächterin« gegeben hatte und das unflätigste Mundwerk besaß, das Niemand je untergekommen war – und klopfte viermal an die Tür des schmalen Hauses. Ein Augenblick verstrich, dann öffnete ihr eine dünne alte Frau. Sie war dunkel gekleidet, trug das silberne Haar zu einem Zopf geflochten und ein schwarzes Tuch vor Mund und Nase. Ihr Rücken war gebeugt, die Hände abgearbeitet. In die Augenwinkel hatten sich tiefe Krähenfüße gegraben.
»Grauwölfin.« Niemand verneigte sich.
Die alte Frau winkte sie herein.
Sie gingen an einer kleinen Essecke vorbei und stiegen knarrende Stufen in einen schäbigen Keller hinab. Die Wände, die an die Nachbargebäude grenzten, waren eingeschlagen worden, sodass ein großer unterirdischer Bereich entstanden war. Über verschiedene Treppen konnte man in die Lagerhäuser links und rechts gelangen. An den verbliebenen Wänden hingen Karten der Stadt; auf einem langen Tisch war ein beeindruckender Radioapparat aufgebaut. Eine junge Frau mit schläfrigen Augen beugte sich darüber, einen Lötkolben in der Hand. Ein paar andere Leute waren im Raum verteilt; sie verstummten, als Grauwölfin mit Niemand eintrat. Der Größte unter ihnen – ein muskelbepackter Hüne mit Pranken, die an Schaufelblätter erinnerten – richtete einen prüfenden Blick auf sie.
»Wer ist das?«
»Unsere Freundin im Palast«, erwiderte Grauwölfin. »Und jetzt komm rüber und begrüße sie, du unhöflicher Flegel. Du bist nicht so groß, dass ich dich nicht mit dem Holzlöffel verdreschen könnte!«
Der Mann lächelte, kam herübergehinkt und verneigte sich. Er überragte Niemand um mindestens dreißig Zentimeter. Kräftiges Kinn, Stiernacken. Er sah aus, als hätte er sich seit Wochen nicht rasiert. Er hatte einen prächtigen Phönix auf den rechten und die Reichssonne auf den linken Oberarm tätowiert (sie hatte schnell herausgefunden, dass die Kage in den Städten sich ihre Irezumi nicht fortbrannten). Er hatte ein gut aussehendes Gesicht, das von straff geflochtenen Zöpfen eingerahmt wurde, und harte Augen mit tiefen Schatten darunter. Ein Kusarigama hing an seinem Obi. Die Sichelklinge verschwand beinahe in den Falten seines schmuddeligen Hakama.
»Niemand«, sagte Grauwölfin, »darf ich vorstellen? Diesen unrasierten Riesen hier nennen wir den Jäger.«
Hastig verbeugte sich auch Niemand. »Ich bitte euch, mir meine Unhöflichkeit zu verzeihen«, sagte sie, kaum dass sie wieder aufrecht stand, »aber ich habe Neuigkeiten!«
Grauwölfins matronenhaftes Lächeln löste sich in Nichts auf. »Was hast du gehört, Kind?«
»Die Oberhäupter der Fushichō haben sich Herrn Hiro angeschlossen. Sie kommen zu seiner Hochzeit und unterstützen wohl auch seinen Anspruch auf den Titel des Shōgun. Es heißt, auch die Ryū seien bereit, ihre Bäuche zu zeigen.«
Grauwölfin seufzte und schüttelte den Kopf. »Einfach so? Ich hatte gehofft …«
»Ihr Eid bindet sie an die Kazumitsu-Dynastie«, sagte der Hüne. »Wenn das Geschlecht fortbesteht, gilt dasselbe für ihre Treuepflicht. Ohne die Hochzeit gäbe es nicht die geringste Chance, dass die Drachen sich vor jemandem wie Hiro niederwerfen. Ihr Heer ist gewaltig. Und die Phönixe verabscheuen es, sich irgendwem unterzuordnen.«
»Die Kitsune haben noch nicht geantwortet. Vielleicht entscheiden sich die Füchse …«
»Entschuldigung«, unterbrach Niemand, »es geht noch weiter. Die zweite Blüte hat von einem Hochzeitsgeschenk für Herrn Hiro gesprochen. Und von einer Inaugenscheinnahme in der Provinz Jukai.«
Der Jäger hob eine Augenbraue. »Und was ist das für ein Geschenk?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht bauen sie etwas? Eine Waffe?«
Grauwölfin wandte sich an einen der Männer, die um den Radioapparat herumstanden. »Spatz, schick Nachricht in die Iishis. Frag nach, ob der Gildenmann der Sturmtänzerin irgendetwas über die Sache weiß.«
»Wie geht es Michi?«, fragte der Jäger. »Hast du mit ihr gesprochen?«
»Sie steht noch unter Hausarrest. Alle Dienstmädchen der Herrin Aisha sind eingesperrt. Herr Hiro hat seinen Cousin zum Magistrat ernannt, einen Mann namens Ichizō. Er befragt die Mädchen persönlich.«
»Wenigstens ist sie nicht mehr im Gefängnis.« Der Hüne seufzte. »Ich hab’s ihr gesagt, dahin zurückzugehen, war Wahnsinn …«
»Sie hat gesagt, sie könne Aisha nicht …«
… achtung …
Dakens Warnung blitzte in ihrem Geist auf, seine Stimme ein wenig gedämpft durch die Entfernung, aber nachdrücklich. Sie spürte ihn auf den Dächern der Häuser im Norden, dann sah sie kurz die sägezahnartige Silhouette der Stadt durch seine Augen. Die Sonne stieg gerade erst über den Horizont. Ein grausamer Gestank wehte von der Bucht heran.
Was ist los?
… männer in eisenhemden kommen … viele …
Soldaten?
… ja …
»Götter!« Niemand sah sich im Keller um. Ihre Handflächen waren feucht geworden. »Wir müssen hier raus!«
»Was?« Grauwölfin runzelte die Stirn. »Was meinst du …«
»Bushimänner sind auf dem Weg hierher! Eine ganze Menge. Wir müssen hier verschwinden. Sofort!«
»Ich habe keinen der Wächter gehör…«
Ein Pfiff war auf der Straße zu hören, zwei Töne, dünn, aber scharf. Das Signal wiederholte sich, näher jetzt, es hallte im engen Treppenschacht.
»Eine Hausdurchsuchung …«, flüsterte die alte Frau.
Niemand kam es so vor, als dauere der nächste Augenblick ein Menschenalter an. Grauwölfin und der Jäger tauschten einen Blick. Ihre Gesichter waren blass, die Augen geweitet. Dakens drängende Gedanken rannten gegen ihre eigenen an: Bushimänner in blutroten Wappenröcken strömten durch die Gasse auf das Versteck zu. Und dann, mit einem Mal, bewegten sich alle gleichzeitig, sammelten Waffen und die Radioausrüstung ein, rissen Karten von den Wänden.
Der Jäger packte Niemand am Arm und starrte ihr ins Auge. »Ist dir jemand hierher gefolgt?«
»Nein, natürlich nicht!«
»Bist du sicher?«
»Mein Späher ist gut! Er hat die Bushi schneller gesehen als eure Leute.«
Grauwölfin gab den anderen Kage Anweisungen. Ihre Stimme war ruhig wie ein Mühlteich, hart wie gefalteter Stahl. »Ihr wisst, wie es weitergeht! Schaut regelmäßig in eure Geheimbriefkästen und sprecht mit niemandem, ehe ihr von uns hört. Schnell jetzt, schnell!«
Die Kage zerstreuten sich und stiegen eilig über die verschiedenen Treppen in die Lagerhäuser hoch. Ein paar warfen Niemand im Vorbeihasten böse Blicke zu. Der Hüne starrte sie immer noch an. Zorn stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Grauwölfin stach ihm den Zeigefinger in die Brust. »Raus hier, hab ich gesagt! Los jetzt! Und nimm Niemand mit.«
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, knurrte der Jäger. »Auf keinen Fall!«
»Warte mal … Du glaubst, ich hab euch verraten?« Niemand konnte es nicht fassen.
»Ach, die sind wohl alle bloß zufällig hier?«
»Ich hätte den Bushi doch einfach die Adresse geben können! Dann noch herzukommen, wenn ich wüsste, dass die im Anmarsch sind … Das wäre schön blöd!«
»Vielleicht bist du ja blöd«, sagte der Hüne.
Trotzig starrte sie ihn an. »Verzeih, Jäger-sama, aber vielleicht kannst du mich mal …«
Ein Schmerzensschrei über ihnen. Jemand rannte. Schwerter wurden gezogen. Gebrüllte Befehle: »Halt im Namen des Daimyō!« Schlächterin, die fantasievolle ordinäre Beschimpfungen schrie.
Grauwölfin schlug dem Hünen auf den Arm. »Raus hier!«, zischte sie.
»Was ist mir dir?«
»Ich kann selbst auf mich aufpassen. Das Mädchen ist unsere einzige Informantin im Palast. Wir brauchen sie. Bring sie in Sicherheit, Jäger!«
Der Hüne fluchte und blickte zur Decke: Über ihnen splitterte Holz, dann folgten schwere Schritte, Kampfgeräusche und aufsässige Flüche.
»Schon gut, dann komm!«
Er packte ihre Hand. Sie bekam keine Gelegenheit zu protestieren – er schleifte sie einfach hinter sich her, die Treppe zu ihrer Linken hoch und durch das leer stehende Lagerhaus. Obwohl er hinkte, machte er Tempo. Er bugsierte sie durch die Hintertür in eine Gasse. Niemand blinzelte, das erste Tageslicht war unerträglich grell. Aus dem Lagerhaus hörte sie splitterndes Glas und heisere Schreie. Daken huschte über die Dächer; sie schloss ihr verbliebenes Auge und sah, was er sah. Bushimänner kamen aus allen Richtungen. Auf der Straße lagen Menschen auf dem Bauch, manche hatten die Hände im Genick verschränkt, andere bluteten still auf das gesprungene Kopfsteinpflaster. Der Jäger zog sie nach Westen, die Gasse hinunter, aber sie stemmte sich gegen ihn und schüttelte heftig den Kopf.
»Nicht da lang!«
»Was?«
»Da sind zu viele! Komm mit!«
Der Hüne zögerte. Stur. Er war wie ein Eisberg. Sie zerrte an seinem Handgelenk und bewegte ihn schließlich dazu, ihr in die andere Richtung zu folgen. Es stank nach Rattenpisse, schlanke, pelzige Geschöpfe stoben auseinander. Leere Flaschen, menschliche Ausscheidungen, zerknüllte Nachrichtenblätter. Der Jäger hinkte jetzt stärker, und Niemands Herz schlug heftig gegen ihre Rippen. Sie setzte die Schutzbrille auf, als sich rote Sonnenstrahlen in ihr Auge bohrten. Über Rekrutierungsplakate an den Wänden war mit weißer Farbe eine trotzige Warnung gepinselt worden:
ARASHI NO ODORIKO KOMMT!
Sie stießen auf die Hauptstraße und überquerten sie, so rasch sie konnten. Tauchten in eine andere Gasse, mühten sich durch knietiefen Unrat. Niemands Hand drohte aus der des Jägers zu rutschen, so glitschig waren ihre Finger. In der Ferne Rufe. Hell sangen aufeinandertreffende Klingen, untermalt vom Donner eisenbeschlagener Stiefel.
»Woher weißt du, wo du hinmusst?«, keuchte er.
»Vertrau mir!«
Weiter, weiter, so schnell das lahme Bein des Hünen es zuließ. Sein verzerrtes Gesicht war schweißnass. Eine Hand umklammerte ihre, die andere drückte er gegen den rechten Oberschenkel. Blut sickerte durch sein Hosenbein. Zwei Straßen weiter dachte Niemand schon, sie hätten es geschafft, da schickte Daken ihr eine Warnung. Im nächsten Augenblick hallten Schreie und schwere Stiefeltritte zwischen den Häusern wider. Die Leute um sie herum zerstreuten sich hektisch. Zwei Bushimänner kamen auf sie zugestürmt, Naginata in den Händen.
»Halt!«, brüllten sie. »Im Namen des Daimyō!«
Der Jäger fluchte. Seine Schultern sanken herab, und er ließ ihre Hand los.
»Dieses Scheißbein …« Er seufzte, zog das Kusarigama aus seinem Obi und nickte ihr zu. »Lauf weiter, Mädchen. Solltest du uns verpfiffen haben, hoffe ich, dass König Enma dich nach deinem Ableben an die hungrigen Toten verfüttert!«
Und damit wandte er sich den Soldaten zu. Er ließ die Kette seines Kusarigama durch die Finger gleiten, dann wirbelte er sie über seinem Kopf durch die Luft. Mit etwas Glück würde er einen der Bushimänner ausschalten, ehe der zweite ihn aufspießte – aber auf keinen Fall würde er mit dem Leben davonkommen. Niemand sah den unabwendbaren Ausgang vor ihrem geistigen Auge: Der Jäger stürzte zu Boden, ein Loch in der Brust, die Rippen gebrochen. Und sie hockte wieder in ihrer armseligen Wohnung, eine Gefangene ihres unbedeutenden Lebens. Abgeschnitten von den Kage, während alles vor die Hunde ging …
Die Bushimänner waren beinahe heran. Es waren frische Rekruten, nur ein paar Jahre älter als sie. Scharlachrote Wappenröcke über geschnürten Brustpanzern. Die Tücher, die sie vor Mund und Nase trugen, waren brandneu und mit Tigern bestickt. Junge Männer, die wahrscheinlich hier im Viertel aufgewachsen und zum Militär gegangen waren, weil ihnen regelmäßige Mahlzeiten und Zugehörigkeit versprochen worden waren.
Der Jäger schleuderte die Kette seines Kusarigama; sie schlang sich um den Speerschaft des ersten Soldaten. Der Hüne riss daran, der Bushimann verlor das Gleichgewicht und taumelte auf seinen Ellbogen zu, der ihn mit der Wucht einer Backsteinmauer traf und ihm den Kiefer verrenkte. Der Jäger schwang die Sichel und schlug dem jungen Mann die Klinge in den Nacken. Blut spritzte, der Soldat torkelte davon. Sein Kamerad brüllte und stach mit der Klinge seines eigenen Naginata nach dem Herzen des Hünen.
Niemand zog einen unförmigen Klumpen Eisen aus ihrem Kimono.
Der Schuss war ohrenbetäubend laut. Der Rückstoß riss ihr den Arm in die Höhe, und erschrocken schrie sie auf. Der Bushimann umklammerte seinen Hals. Eine rote Blume erblühte zwischen seinen Fingern, er drehte sich um sich selbst, gurgelte und brach zusammen.
Entgeistert starrte der Jäger sie an. Vom Lauf des Eisenwerfers stieg ein dünner Rauchfaden auf.
»Sollte der ehrwürdige Richter die hungrigen Toten auch nur in meine Richtung schicken«, keuchte sie, »trete ich ihm so fest in die Eier, dass er von da an drei Adamsäpfel hat!«
»Wo bei allen Höllen hast du das her?«
… es kommen mehr … weiter weiter …
»Später!«, sagte sie. »Wir müssen hier weg!«
Der Hüne bückte sich, zog mit einem Ächzen die Klinge seines Kusarigama aus dem Nacken des Bushimanns und wischte sich mit einem Ärmel das Blut aus dem Gesicht.
… freund …?
Niemand schaute zu dem Dach über ihnen auf. Sie sah Dakens Silhouette, die sich vor dem roten Himmel abzeichnete, ein schwarzer Schatten in der Dachrinne. Er spähte zu ihnen herunter. Als er die toten Bushimänner sah, leckte er sich das Maul.
Vielleicht … »Jäger, wir müssen weiter …«
»Ich hab eine Wohnung, im nördlichen Teil der Schattenseite.« Der Hüne wickelte die Kette seiner Sichel um sein Handgelenk. »Es ist noch ein Stück zu laufen, aber dort können wir uns eine Weile lang verstecken.«
Niemand warf einen Blick auf sein Bein. Der Blutfleck war größer geworden. »Zu mir ist es näher. Und wir kommen leichter hin.«
»Ist es da sicher?«
»Sicherer, als bei Tageslicht draußen rumzuspazieren.«
Der Jäger sah sich um, dann blickte er auf die Leichname zu seinen Füßen hinab.
… sie kommen …
»Uns bleibt keine Zeit!«, sagte sie. »Wenn du immer noch glaubst, dass ich euch die Bushi auf den Hals gehetzt habe, frag dich mal, warum ich gerade einen vor deinen Augen erschossen hab. Und warum ich dir nicht ins Knie schieße und darauf warte, dass die anderen kommen.«
Er leckte sich den Schweiß von den Lippen. Sah ihr in die Augen. Nickte langsam. »In Ordnung.«
»Ich heiße Hana«, sagte sie. »In Wirklichkeit, meine ich.«
In der Ferne hörten sie Leute rennen. Alarmierte Rufe. Eine eiserne Glocke. Der Hüne schniefte und zog sich den Strohhut tiefer ins Gesicht.
»Akihito«, sagte er. »Meine Freunde haben mich Akihito genannt.«