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6 SCHATTENSEITENSEGEN

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Die anderen Diener riefen sie nie beim Namen.

Für ihre achtzehn Jahre war sie klein und so mager, als hätte sie eine Hungersnot hinter sich. Sie hatte ein schelmisches Gesicht, aber ihre Wangen waren hohl und das Kinn spitz. Ihr rabenschwarzes Haar war kinnlang, unordentlich geschnitten und feucht von Schweiß. Rechts trug sie eine Augenklappe, unter der ein wenig blasses Narbengewebe hervorlugte. Durch die Braue zog sich eine tiefe, haarlose Furche. Ihr gesundes Auge war riesig, beinahe unnatürlich rund und von so dunklem Braun, dass es fast schwarz wirkte.

Ein Besucher des Palastes hätte einen Blick auf ihren winterblassen Teint geworfen und angenommen, sie sei eine Kitsune – bleich wie alle Mitglieder des Fuchs-Clans. Doch hätte sie den rechten Ärmel hochgeschlagen, hätte sich gezeigt, dass ihren Oberarm keine Tätowierung zierte: Sie war von niederer Geburt und durfte somit nur die geringsten und unreinsten Arbeiten verrichten.

Daher ihr Spitzname.

»Du da!«, rief eine Frauenstimme. »Fäkalienmädchen!«

Sie blieb so plötzlich stehen, dass sie in ihren Sandalen ein kleines Stück über die polierten Dielen rutschte, und wandte sich um. Die mollige, stark gepuderte Hauswirtschafterin kam auf sie zumarschiert. Demütig senkte sie den Blick und faltete die Hände. Als die Frau sich vor ihr aufbaute, konzentrierte sie sich auf das Dielenbrett zwischen ihren Zehen. Die Nacht brach an, doch in den Gärten hörte sie einen einsamen Spatzen zwitschern – oder eher röcheln –, die Lunge mit öligem Lotusrauch verklebt. Die Blätter der verkümmerten Bäume hingen schon traurig herab. Der Herbst hielt Einzug in Kigen, färbte bei Tag alles grau und rostrot. Das Fäkalienmädchen jedoch wanderte nur nach Anbruch der Dunkelheit durch den Palast: Je weniger man im unversöhnlichen Licht der Sonne von ihm sah, desto besser.

»Wie kann ich dienen, Herrin?«, fragte sie.

»Sag mir erst einmal, wohin du unterwegs bist.«

»Zu den Dienstbotenzimmern, Herrin.«

»Die Nachttöpfe im Gästeflügel müssen geleert werden, wenn du dort fertig bist.«

Sie verneigte sich. »Hai.«

»Fort mit dir.« Die Frau wedelte mit einer Hand in der Luft herum. »Und nimm morgen ein Bad, um des Schöpfers willen! Im Augenblick mag es keinen Shōgun geben, aber das hier ist immer noch der Palast des Shōgun. Hier dienen zu dürfen, ist eine Ehre. Besonders für eine wie dich.«

»Das werde ich tun, Herrin. Ich danke dir, Herrin.«

Sie verneigte sich tief und wartete, bis die Hauswirtschafterin fort war; dann huschte sie weiter. Im Dienstbotenflügel zirpten und knarrten die lockeren Dielen des Nachtigallenbodens unter ihren Füßen. Vor jeder Tür wartete ein Nachttopf: im Brennofen gehärteter Ton, schwarz lackiert, ein bisschen kleiner als ein Armvoll. Und alle enthielten Geschenke, nur für sie. Einen Topf nach dem anderen schleppte sie zur Latrinengrube im hintersten Winkel des Anwesens, leerte den übel riechenden Inhalt aus, spülte den Topf und trug ihn zurück in den Palast. Dabei beobachtete sie das langsame, orchestrierte Chaos: Minister, Soldaten und Magistrate, die allesamt nach Macht strebten und in kleinen, murmelnden Grüppchen zusammenstanden.

Und sie. Geringer als der Geringste unter ihnen.

Die Hauswirtschafterin hatte recht: Niemand von niederer Geburt brauchte damit zu rechnen, Arbeit im Palast zu finden. Burakumin wie sie waren der Bodensatz der Gesellschaft – sie standen noch unterhalb des Kastensystems Shimas. Ihnen wurden lediglich Tätigkeiten zugestanden, die gewöhnliche Bürger als unappetitlich empfanden. Ein clanloser Mann konnte immerhin der Armee beitreten. Nach zehn Jahren hatte er sich eine Clan-Tätowierung verdient. Doch selbst wenn das Fäkalienmädchen den selbstmörderischen Wunsch verspürt hätte, sich als Futter für die Blitzkanonen der Gaijin anzubieten – dieser Weg stand einer Frau nicht offen. Außerdem hatte ihr Vater nicht gerade viel Erfolg mit dieser Nummer gehabt …

Und deshalb war sie jetzt hier und leerte Nachttöpfe im Palast des Shōgun, wo man sie verlachte. Mied. Stets wurde sie daran erinnert, dass sie unwürdig war. Doch Burakumin oder nicht – in den zwei Jahren, die sie nun schon durch die opulenten Flure wanderte, hatte sie eine schlichte Wahrheit bestätigt gefunden: Wie ehrenwert der Hintern auch war, Scheiße stank immer gleich.

Zurück im Dienstbotenflügel schob sie einen Nachttopf nach dem anderen durch die Aussparungen in den Zimmertüren. Die Türen waren mit glänzenden neuen Schlössern ausgestattet: Die Dienstmädchen der Herrin Aisha standen alle unter Hausarrest. Vor Kurzem erst waren sie aus dem Gefängnis geholt und hergebracht worden. Recht viele Angehörige der Dienerschaft waren nach dem Tod Shōgun Yoritomos eingesperrt worden; man verdächtigte sie, entweder bei dem Anschlag geholfen oder absichtlich nichts dagegen unternommen zu haben. Aber das Fäkalienmädchen? Clanlos, wertlos, mit unreinem Blut, in uralten Kleidern, die mehrmals weitergereicht worden waren? Niemand kümmerte sich um sie. Sie war, was sie immer gewesen war: unsichtbar.

Alles in allem war das nichts Schlechtes.

Vor der letzten Tür im dunklen Flur kniete sie nieder, griff in ihren Kimono und holte einen kleinen Stapel Reispapierfetzen und ein verkohltes Holzstäbchen hervor. Rasch sah sie sich um, dann kritzelte sie hastig ein paar Kanji auf das oberste Papier und schob es unter der Tür durch.

Daiyakawa, hatte sie geschrieben.

Der Name einer kaum bekannten Provinz im nördlichen Territorium der Tora. Vor Jahren war es dort zu einem Bauernaufstand gekommen, den die Soldaten des Shōgunats niedergeschlagen hatten, ohne Aufsehen zu erregen. Den meisten würde der Name nichts sagen. Dem Mädchen auf der anderen Seite der Tür jedoch bedeutete er alles.

Einen Augenblick später kam eine Notiz zurück, die Schriftzeichen mit Lippenstift gemalt.

Wer bist du?

So fing es an: Mit jenem Papierfetzen, der zu ihr zurückkam. Sie las die Frage und schrieb ihre Antwort auf die Rückseite.

Du kannst mich Niemand nennen, Michi-san. Kaori lässt grüßen.

Das Mädchen im Zimmer schrieb wieder, und sie lauschte auf Schritte.

Kenne ich dich?, fragte Michi.

Arbeite seit zwei Jahren im Palast, aber du würdest mich nicht erkennen. Bin den Kage vor ein paar Wochen beigetreten.

Warum jetzt?

Ich hab die Sturmtänzerin auf dem Marktplatz sprechen hören. Sie hat gesagt, ich soll die Faust heben. Deshalb bin ich hier.

Eine kurze Pause.

So wie ich.

Kannst du aus dem Zimmer raus?

Hab’s versucht. Die Deckenplatten sind festgeschraubt, die Fenster verriegelt.

Warum bist du zurückgekommen? Du musst gewusst haben, dass sie dich festnehmen würden.

Ich konnte Aisha nicht zurücklassen.

Mutig!

Ich habe Gerüchte gehört … Sie soll Herrn Hiro heiraten?

Das stimmt. Die Einladungen an die anderen Daimyō sind verschickt. Das Datum steht fest: in drei Wochen.

Aisha würde nie einwilligen.

Sie hat keine Wahl.

Kann ich mit ihr sprechen?

Der Flügel des Shōgun wird bewacht wie ein Gefängnis. Aisha kommt nie aus ihren Gemächern.

Ich muss hier raus.

Magistrat Ichizō hat den einzigen Schlüssel.

Wieder eine Pause.

Das wird sich ändern.

Da hörte Niemand Schritte, die gemurmelte Unterhaltung zweier Bushimänner.

Ich muss gehen! Stell eine brennende rote Kerze ins Fenster, wenn du reden kannst.

Rasch stand sie auf, den Nachttopf in den Armen, und eilte mit gesenktem Kopf und gekrümmten Schultern den Flur hinunter. Das Herz hämmerte ihr in der Brust. Sie unterdrückte das Zittern ihrer Hände und zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen …

Es wäre nicht nötig gewesen. Die Wachen schlugen einen weiten Bogen um sie und ihre stinkende Fracht. Keiner von beiden würdigte sie eines Blickes; alle wussten, wer sie war. Man übersah sie geflissentlich. Das war das Schicksal der Clanlosen Shimas – behandelt zu werden, als sei man kein Mensch. Ihr Leben lang war sie eine wandelnde Abwesende gewesen. Man sprach selten zu ihr. Berührte sie nie. Übersah sie.

Alles in allem war das nichts Schlechtes.

Als kleines Mädchen hatte Niemand geglaubt, die Schornsteine würden die Wolken machen. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit ihrem Bruder um die Mauern der Raffinerie in Yama herumgeschlichen war. Wenn die Dampfpfeife ertönte, waren schmutzige Kinder durch das schmiedeeiserne Tor gekommen und gegangen, und Niemand war neidisch auf sie gewesen, weil sie an einem solch magischen Ort arbeiten durften. Jetzt trottete sie durch die heruntergekommenen Straßen auf der Schattenseite und schämte sich ihrer kindlichen Naivität.

Die Chi-Raffinerie wucherte wie ein Geschwür an der Kigener Bucht, ein Koloss aus gewaltigen Rohren und riesigen Tanks, der mit trüben Glasaugen finster auf das Gassenlabyrinth herabzublicken schien. Schornsteine, über und über mit brennenden Flutlichtern besetzt, spien Teer in den Himmel und erstickten die eingesunkenen, verfallenen Gebäude ringsum unter einer schwarzen Dunstglocke. Eine rostige Rohrleitung, so hoch wie die Häuser selbst, wand sich aus dem Inneren der Raffinerie heraus und nach Norden, über die zähflüssigen schwarzen Wasser des Flusses Junsei. Marode Mietwohnungen und altersschwache Anbauten säumten die ölig glatten Straßen: Die Schattenseite war mit Abstand das billigste und schäbigste Viertel der Stadt Kigen. Man musste schon bettelarm oder vollkommen verzweifelt sein, um in Erwägung zu ziehen, hier zu leben.

Seit nunmehr achtzehn Jahren war Niemand beides.

Über ihrer Dienstmädchenkleidung trug sie einen fadenscheinigen Umhang und vor Mund und Nase ein schmutziges Tuch. Sie hatte sich einen breiten Strohhut tief ins Gesicht gezogen, musste aber trotzdem im Licht der aufgehenden Sonne ihr verbliebenes Auge zusammenkneifen. Als sie um die Ecke des Mietshauses bog, in dem sie lebte, kam auf leisen Pfoten ein Tier aus den Schatten geschlichen, unhörbar wie der letzte Atemzug eines Sterbenden. Es war stämmig und beinahe so groß wie ein Säugling. Ihm fehlten beide Ohren und der halbe Schwanz, sein Fell war so blauschwarz wie Lotusrauch. Es hatte ein übel zugerichtetes Gesicht: Fellbüschel wuchsen zwischen Narben, die kreuz und quer verliefen, und aus dem Maul ragten schiefe Zähne. Seine Art war in Kigen so selten wie Diamanten. Seine Augen hatten die Farbe von Urin auf frischem Schnee.

Ein Kater. Und ein dämonischer Bastard noch dazu.

Niemand kniete auf dem Kopfsteinpflaster nieder und kraulte ihn hinter einem seiner fehlenden Ohren.

»Hallo, Daken. Hast du mich vermisst?«

»Mrrrrau!«, erwiderte er und schnurrte wie eine Kettensägenklinge.

Mit Daken im Schlepptau stieg sie das enge Treppenhaus hinauf. Die Wände waren mit Plakaten zugekleistert, die für den Eintritt in die Armee warben. Sie waren nur wenige Tage nach dem Tod Yoritomo no Miyas aufgehängt worden: eine Rekrutierungskampagne, die sich an die Armen und Clanlosen richtete. Die Plakate versprachen drei Münzen Lohn am Tag, ein sauberes Bett und die Aussicht, einen verwaisten Thron mit dem eigenen Leben zu verteidigen.

Im vierten Stock musste Niemand über eine dürre, grauhäutige Gestalt klettern, die in einer Lache ihrer eigenen Ausscheidungen lag. Sie hatte die lotusroten Augen verdreht. Wie irgendjemand weiterhin rauchen konnte, war ihr schleierhaft – mittlerweile wusste wirklich jeder, wie die Pflanzen gedüngt wurden. Sie würdigte den Elenden keines weiteren Blickes, schloss ihre Wohnungstür auf und trat ein.

»Schwesterchen.« Yoshi schaute von seinen Karten auf. »Wie läuft’s denn so?«

Er hockte auf dem Boden vor einem niedrigen Tisch, über den Karten und Münzen verstreut lagen. Sein schwarzes Haar war zu Reihen aufwendiger Zöpfe geflochten, die ihm über die Schultern fielen. Trotz seiner Blässe und der scharfkantigen Züge sah er gut aus: Er hatte das gleiche spitze Kinn und die gleichen runden dunklen Augen wie seine Schwester, die wie Shuriken unter seinen Brauen glitzerten. Leichter Flaum spross auf Wangen und Oberlippe. Er war so schmutzig wie ein Wolkenwandler und in dreckige Lumpen gekleidet. Ein Kegelhut aus Stroh mit einem zackigen Riss darin saß ihm schief auf dem Kopf. Mager war er, hatte jedoch harte Muskeln und lange Gliedmaßen. Er war ein Jahr älter als sie. Noch ein Jüngling, verwandelte er sich zusehends in einen Mann.

»Wie soll’s schon laufen?«, seufzte sie. »Mir geht’s gut. Ich kann gar nicht glauben, dass ihr noch wach seid …«

»So alt bist du noch nicht, Mädchen … Ich warte schon noch, bis du heimkommst.« Yoshi griff nach der Flasche billigen Reisweins, die auf dem Tisch stand. »Außerdem haben wir ja noch ein Drittel übrig!«

Sie schnitt eine Grimasse und wandte sich dem anderen Jungen zu. »Ziehst du schon wieder meinen Bruder ab, Jūrō?«

Jūrō saß auf der anderen Seite des Tisches. Seine Finger schwebten über seinem Stapel Kupferspäne. Er war in Yoshis Alter, aber kleiner, und sein Teint war dunkler. Ein leicht gewellter schwarzer Pony hing ihm in die Augen. Seine Wangen waren gerötet vom Wein, und eine leere Pfeife baumelte ihm von den geschürzten Lippen. Um seinen muskulösen Arm wand sich ein wunderschöner Tiger: Eine Tätowierung wie diese sah man auf der Schattenseite gewöhnlich nicht, es sei denn, sie zierte eine Leiche mit leeren Taschen.

»Ich, Yoshi abziehen? Immer!« Jūrō schenkte ihr sein Herzensbrecherlächeln, drehte eine Ahornkarte um und stupste gegen Yoshis Kegelhut. »Glückshut, dass ich nicht lache!«

Yoshi fluchte und schob seine Späne über den Tisch. Das Wohnzimmer war winzig. Der niedrige Tisch und ein paar schimmelige Kissen waren die einzigen Möbel. Eine schmutzige Glühlampe flackerte an der Decke. Auf dem Boden stand ein Schallapparat: billiges Blech und wirre Kupferdrähte. Sie hatten ihn im letzten Winter vom Wagen eines Hausierers gestohlen. Ein kläglicher Luftzug und die Geräusche der erwachenden Stadt drangen durch ein schmales Fensterchen: Automatische Ausrufer rollten durch die Straßen, Dampfpfeifensignale wehten aus der fernen Raffinerie heran.

Niemand warf eine Handvoll Kupfermünzen auf den Tisch zwischen die Spielkarten. Die Kōka waren rechteckig, zwei zusammengeflochtene Streifen angelaufenen Metalls. Es hatte oft die Hände gewechselt. Jūrō pfiff. »Bei Izanagis Klöten … Für diesen Hungerlohn hast du einen ganzen Monat lang Kackwürste geschleppt? Da kämst du ja besser weg, wenn du auf der Straße betteln würdest, Kleines!«

»Ich könnte ja auch dich und deine Dienste im Hafen anbieten! Ich meine, wenn du dir solche Sorgen um mich machst …«

»Dann könnten wir uns nach vierzehn Tagen wie feine Herrschaften zur Ruhe setzen.«

Sie lachte, und Jūrō grinste, die leere Pfeife noch im Mund. Er rauchte nicht mehr, seit er wusste, woraus Inochi bestand, hatte sich aber nicht abgewöhnen können, auf dem Pfeifenstiel herumzukauen.

»Hast du nicht was vergessen?«, fragte Yoshi und hob lässig eine Augenbraue.

Niemand seufzte, ließ sich neben ihm nieder und kratzte an dem Narbengewebe, das unter ihrer Augenklappe hervorlugte. Dann zog sie einen Klumpen Metall aus ihrem Kimono und wog ihn in ihrer Hand. Eine kurze Nase, ein daumendicker Lauf – das Gebilde war so hässlich wie eine abgehalfterte Hure, die für ein paar Kupfermünzen zu haben war. Durch Symmetrie zeichnete sich die Waffe nicht aus: Sie bestand aus gewundenen Röhren, Nieten und Düsen. Eine bleischwere Drohung. Der Griff war aus poliertem Eichenholz gefertigt und mit kunstvollen goldenen Einlegearbeiten in Form von Tigern geschmückt, hatte jedoch einen Sprung: Der ehemalige Besitzer hatte die Waffe vor Niemands Füßen aufs Kopfsteinpflaster fallen lassen, als er gestorben war.

Shōgun Yoritomos Eisenwerfer.

Schwer war er. Scheinbar kalt und tot lag er in ihrer Hand. Aber sie war da gewesen, als der Shōgun abgedrückt und den Schwarzen Fuchs erschossen hatte. Hatte gesehen, was die Waffe anrichten konnte. Und auch, wozu ein einzelnes kleines Mädchen fähig war.

So hatte es angefangen.

»Gib her«, sagte Yoshi. »Du schießt dir noch in den Fuß.«

Sie reichte ihm die Waffe mit einem finsteren Blick und dem gemurmelten Hinweis, wo er sie sich hinschieben konnte.

»Ich versteh nicht, warum du das Ding immerzu mit dir rumschleppst«, sagte Jūrō.

»Du bist ja auch kein Mädchen, das nachts allein durch die ganze Stadt wandern muss«, erwiderte sie.

»Wir könnten es verkaufen!«, schlug er vor. »Uns eine goldene Nase verdienen.«

»Da gibt’s bessere Wege.« Yoshi warf Jūrō einen vielsagenden Blick zu. »Außerdem – welcher Pfandleiher wäre blöd genug, sich die Finger am Besitz des Shōgun zu verbrennen?« Er nahm einen Schluck aus der Flasche und sah dann wieder Niemand an. »Wie war die Arbeit?«

Sie zuckte mit den Schultern. »In der Küche reden sie bloß noch über den Zwist zwischen den Clans. Die Drachen rüsten sich, um die Füchse anzugreifen. Es heißt, die Bushimänner wollen heute die Gaijin-Händler aus dem Hafen vertreiben … Entweder die Rundaugen segeln zurück nach Morcheba, oder die Bushi stecken ihnen in der Bucht die Schiffe an.«

»Machst du im Palast eigentlich noch irgendwas anderes als zu tratschen?« Jūrō grinste.

»Ich tratsche nicht.« Sie schmollte. »Ich hör bloß zu.«

Daken kam zum Tisch herübergeschlichen und bedachte beide Jungen mit einem lauernden Blick. Seine pissgelben Augen glommen im Licht der Glühbirne. Der Kater schniefte, als hätte er am Geruch des billigen Alkohols einiges zu beanstanden. Dann sprang er aufs Fensterbrett und starrte in die Morgendämmerung hinaus. Sein Stummelschwanz zuckte.

Jūrō bot Niemand die Flasche an. Brauner Reiswein schwappte darin, ein tödliches Gebräu, das die Ortsansässigen liebevoll »Seppuku« nannten.

»Willst du einen Schluck?«

»Du kennst die Antwort.«

Der Junge zuckte mit den Schultern und stellte die Flasche wieder auf den Tisch. Sie hörten sechs Schläge einer eisernen Glocke: ein automatisierter Gilden-Ausrufer, der auf Gleisketten aus Gummi durch die Straßen fuhr und die Stunde des Phönix einläutete. Niemand bückte sich, schaltete den kleinen Schallapparat ein und suchte die Kurzwellenfrequenzen durch.

»Bei Izanagis Klöten, nicht schon wieder die Kage …«, stöhnte Yoshi.

»Sie senden eine Stunde die Woche«, knurrte sie. »Ich muss mir alle zwei Tage deine Serienmelodramen anhören! Also blas dich mal nicht so auf.«

Yoshi ballte die Faust und hielt sie sich wie ein Mikrofon vor den Mund. »Ihr hört Raaaaadio Kage!«, spottete er. »Die nächsten fünf Minuten lang erzählen wir euch, wie wunderbar euer Leben ohne den Shōgun ist … Zumindest bis uns die Gilde die Tür eintritt! Dann müssen wir nämlich wegwuseln wie die Flöhe, wenn der Hund sich kratzt. Danke fürs Einschalten!«

»Wenigstens tun sie was«, murmelte sie. »Stehen für was ein. Sie kämpfen für eine bessere Welt, Yoshi!«

»Mädchen, die labern nur Scheiße. Wenn du dir damit weiter den Kopf vollhauen lässt, wird noch irgendwann dein Auge braun …«

»Jetzt soll ich wohl sagen, mein Auge ist braun, was?«

»O ihr Götter, wann ist denn das passiert?«

Er grinste schief, und sie warf ihm einen säuerlichen Blick zu.

»Ach, komm schon, Schwesterchen!« Yoshi umarmte sie und gab ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange. »Du weißt doch, ich mache bloß Spaß.«

Jūrō nahm Yoshi die Flasche ab. »Ernsthaft, Mädchen. Wie du deine Ohren aufstellst, wenn die senden … Demnächst erzählst du uns noch, dass du bei den Spinnern mitmachen willst.«

»Verrückt ist sie ja.« Yoshi feixte. »Aber so verrückt auch wieder nicht!«

Niemand schürzte die Lippen und sagte nichts. Sie musste lange suchen, bis sie eine kleine Veränderung im statischen Rauschen wahrnahm. Konzentriert verengte sie die Augen und drehte behutsam am Regler, bis sie das Signal gefunden hatte.

Die Übertragung war nicht gerade klar. Trotzdem stellte sie den Ton leiser und beugte sich zum Lautsprecher hinunter. Die Stimme des Sprechers war ihr fremd, aber sie war auch noch nicht lange bei den Kage. Sie kannte nur den einen Treffpunkt in der Kuro-Straße und eine Handvoll Mitglieder. So war die Sache weniger riskant – für die Kage und für sie selbst. Aus demselben Grund stellten sie sich einander auch nicht vor: Alle hatten Decknamen, um den Schaden zu begrenzen, falls jemand gefangen genommen wurde. Als Grauwölfin sie gefragt hatte, wie sie genannt werden wolle, hatte sie zuerst an etwas Romantisches gedacht. An einen Namen, der exotisch oder gefährlich klang. Den Namen einer Heldin aus einer Kindergeschichte. Aber sie war zu dem Schluss gekommen, dass »Niemand« besser zu ihr passte.

Sie leckte sich die trockenen Lippen und lauschte der leisen Stimme.

»… noch immer eine nächtliche Ausgangssperre, acht Wochen nach Yoritomos Tod. Wie lange will die Regierung die Bürger in ihren eigenen Wohnungen einsperren? Gewährleisten sie eure Sicherheit, indem sie Kinder und alte Frauen verprügeln, die nach Einbruch der Dunkelheit ohne Erlaubnis draußen erwischt werden? Oder fürchten sie nur, ihr unterdrückerisches Regime könnte zusammenbrechen und ihre Angst vor dem eigenen Volk letzten Endes doch gerechtfertigt sein?

Gerade jetzt berät sich die Sturmtänzerin mit der Kage-Führung. Gemeinsam planen sie den nächsten Schlag gegen jene mörderische Regentschaft, die unser Reich zwei Jahrhunderte lang im Würgegriff hatte. Sie ist der Sturm, der die Reste der Kazumitsu-Dynastie hinwegfegen wird! Ein strahlendes neues …«

Auf der Straße waren plötzlich schwere Schritte zu hören. Niemand fuhr zusammen und drehte die Lautstärke noch weiter hinunter. »Halt, im Namen des Daimyō!«, bellte jemand, dann folgten Geräusche einer Auseinandersetzung und ein dumpfer Aufprall auf Kopfsteinpflaster. Ein Schmerzensschrei.

»Mach das lieber aus«, sagte Yoshi. »Oder möchtest du die Bushi auf einen Schluck hochbitten?«

Niemand seufzte, legte einen kleinen Schalter um und brachte so den Schallapparat zum Verstummen. Sie setzte sich wieder auf das Kissen neben ihrem Bruder, und Daken sprang vom Fensterbrett auf ihren Schoß. Das Mädchen streichelte das lotusrauchfarbene Fell des großen Katers und kraulte die Höcker, die von seinen Ohren übrig geblieben waren. Unter den Fingerspitzen spürte sie die Narben, die seinen ganzen Körper bedeckten. Der Kater schloss die Augen und schnurrte wie eine motorisierte Rikscha.

»Er stinkt wie eine tote Ratte«, sagte Yoshi stirnrunzelnd.

»Komisch.« Vorsichtig schnupperte sie an dem Tier.

»Letzte Nacht hat er wieder in unser Bett gemacht!«

Niemand lachte. »Oh, ich weiß.«

Yoshi wedelte mit dem Eisenwerfer in der Luft herum. »Du kannst ihm sagen, wenn er das noch mal macht, riskiert er mehr als nur seine Ohren!«

»Darüber macht man keine Witze.« Sie starrte ihren Bruder bitterböse an und drückte den Kater an ihre schmale Brust. Daken öffnete die Augen und sah dem Jungen direkt ins Gesicht. Ein tiefes Knurren vibrierte in seiner Brust.

»Du machst mir keine Angst, mein Freund.« Yoshi hielt dem Kater den Eisenwerfer vor die Nase.

Sie schnitt eine Grimasse. »Kleiner Junge, große Wumme.«

Yoshi hob eine Augenbraue und nahm noch einen Schluck Reiswein. Missbilligend sah Niemand ihrem Bruder beim Trinken zu, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Mit ihrem einen Auge konnte sie die meisten Leute niederstarren. Yoshi zog es vor, ihrem Blick auszuweichen. Sie legte sich Daken um die Schultern und stand mit einem Seufzen auf.

»Ich geh schlafen.«

»Was?«, rief Jūrō. »Du bist doch gerade erst zur Tür rein!«

»Lieber schlafe ich, als euch beiden dabei zuzugucken, wie ihr euch besauft und dann übereinander herfallt.«

»Vielleicht solltest du mal ausgehen und dir einen schönen Mann suchen.« Jūrō wackelte mit den Augenbrauen. »Dann kannst du auch mal über wen herfallen.«

»Ich hab doch schon einen Mann, stimmt’s, Daken?« Sie küsste den Kater auf den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Ja, habe ich. Meinen großen, starken, mutigen Mann!«

»Mrrrau!«, erwiderte Daken.

Yoshi starrte ihren Rücken an, einen missvergnügten Ausdruck auf dem Gesicht. »Da will man sich doch glatt die Augen aus den Höhlen pflücken, wenn man bloß drüber nachdenkt«, knurrte er. Er warf dem Kater auf den Schultern seiner Schwester einen Blick zu und drohte ihm mit der Reisweinflasche. »Ich mein’s ernst, du kleiner Mistkerl. Mach noch mal in unser Bett, und ich verfütter dich an die Aasratten!«

Der große Kater blinzelte einmal. Licht tanzte in seinen Augen, als spiegelte es sich auf Scherben. Seine Gedanken waren ein Schnurren im Kopf der Geschwister, das Flüstern schwarzen Samtes auf Seidenlaken:

… an deiner stelle würde ich heute nacht lieber nicht mit offenem mund schlafen …

Der Lotuskrieg 2 - Kinslayer

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