Читать книгу Der Lotuskrieg 2 - Kinslayer - Jay Kristoff - Страница 20
4 DOPPELGÄNGERIN
ОглавлениеDie Ohrfeige gelang ihm perfekt. Sie war kräftig genug, dass der Kopf des Mädchens zurückflog und ihm Tränen in die geröteten, verschwollenen Augen schossen, aber nicht so kräftig, dass die Lippe aufgesprungen wäre. In einer Stunde würde keine Spur der Misshandlung mehr zu sehen sein.
»Antworte mir, du kleine Schlampe!«, bellte der Wärter, und sein Speichel spritzte dem Mädchen ins Gesicht.
Es ließ den Kopf hängen und weinte; sein wirres Haar verbarg sein Gesicht wie ein Vorhang. Die Schluchzer hallten von den feuchten Steinwänden der Gefängniszelle wider. Der Boden war mit dürrem Stroh ausgestreut. Eiserne Schellen lagen um die Handgelenke des Mädchens, über seine Unterarme zogen sich verschorfte Messerwunden. Auf einer Wange hatte es eine Platzwunde, die langsam heilte, die nackten Beine waren mit Blutergüssen und frischen Blessuren übersät. Ein aufmerksamer Beobachter hätte vielleicht bemerkt, dass sie verdächtig wie Rattenbisse aussahen.
Die Geduld des Wärters war gefährlich nahe daran zu reißen. Die Dienstmädchen in seinem Gewahrsam waren allesamt von Adel. Theoretisch konnten ihre Familien den Daimyō des Tora-Clans bedrängen, sie zurück nach Hause zu schicken – immer vorausgesetzt, es wurde ein neues Clansoberhaupt bestimmt. Sie mochten verhaftet worden sein, aber das zerfallende Justizwesen hatte keine offizielle Anklage erhoben. Daher war der Wärter in der unglückseligen Lage, seine Gefangenen verhören zu müssen, ohne auf bewährte Methoden zurückgreifen zu können. In Kigens Gefängnis waren das gemeinhin glühende Eisen und die Wasserfolter.
Wahrlich, solch widrige Umstände konnten einen Mann in den Suff treiben.
Der Wärter packte das Mädchen am Hals und zwang es, ihm in die Augen zu blicken. Er sah nackte Angst in seinem Gesicht. Die Pupillen waren geweitet, die geröteten Wangen nass von Tränen.
»Du hast der Herrin Aisha gedient.«
Das Mädchen röchelte leise, als er ihm die Kehle fester zusammendrückte.
»Deine Herrin hat Stunden mit dem Kitsune-Mädchen verbracht und die Ermordung ihres Bruders geplant! Du warst in all das eingeweiht!«
»Sie h-hat uns … immer … fortgeschickt«, keuchte das Mädchen. »Immer …«
»Du bist eine Spionin der Kage! Ich will Namen von dir hören, ich will …«
»Wärter!«
Scharf und gebieterisch hallte der Ruf durch die Zelle. Der Wärter wandte sich um und sah zwei Bushimänner in schwarzen geschnürten Brustharnischen in der Tür stehen. Sie flankierten einen Mann in einem maßgeschneiderten tiefroten Kimono und einer formellen Überjacke.
Die Haare des Mannes waren zu einem aufwendigen Zopf geflochten und mit goldenen Haarnadeln geschmückt. Er war ein gut aussehender Bursche mit einer gelehrten Ausstrahlung. Die Augen in dem hübschen Gesicht waren immer ein wenig verengt, als verbrächte er zu viel Zeit damit, bei Lampenschein zu lesen. Er trug ein gekreuztes Kettensägendaishō im Obi, das ihn als adeliges Mitglied der Militärkaste auszeichnete. In einer Hand hielt er einen schön gearbeiteten eisernen Fächer. Eine teure Räderwerkatemmaske bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts, der Wärter wusste jedoch, dass seine Wangen und das spitze Kinn darunter glatt rasiert waren – er hatte den Mann nie anders gesehen. Er seufzte stumm. Der Besucher war höchstens Anfang zwanzig, aber sein Rang entsprach dem eines Mannes, der zwei Jahrzehnte älter war.
»Magistrat Ichizō.« Der Wärter ließ das Mädchen los und verneigte sich. »Dein Kommen ist uns nicht angekündigt worden.«
»Das ist kaum zu übersehen.« Der Mann warf einen Blick auf das geduckte Mädchen. »So behandelst du diejenigen, die sich in deiner Obhut befinden? Die Hofdamen? Du bringst Schande über dich und entehrst unseren Herrn.«
»Verzeih mir, ehrenwerter Magistrat.« Der Wärter verneigte sich. »Aber mir wurde befohlen, die Spione der Kage zu enttarnen …«
»Und Dienstmädchen zu foltern, bringt dich diesem Ziel näher?«
»Diese Mädchen haben alle der verräterischen Hure gedient, der Herrin Aish…«
Der Magistrat bewegte sich so schnell, dass der Wärter kaum dem Bogen folgen konnte, den sein eiserner Fächer beschrieb. Er traf ihn ins Gesicht und hinterließ einen Schnitt auf seiner Wange. Auf das scharfe Geräusch des Hiebes folgte eine schwere Stille. Nur das leise Schluchzen des Mädchens war zu hören.
»Du sprichst von der letzten Tochter des Kazumitsu-Geschlechts«, zischte Ichizō. »Das Blut des ersten Shōgun fließt in ihren Adern, und sie wird den nächsten Thronerben des Reiches unterm Herzen tragen.« Er schob den Fächer in seinen Ärmel. »Also hüte deine Zunge.«
Der Wärter tastete über den Schnitt in seiner Wange und senkte den Blick. »Ich bitte um Vergebung, Magistrat. Aber der oberste Schatzmeister hat verlangt …«
»Schatzmeister Nagahara ist vor zwei Stunden von seinem Amt zurückgetreten. Die beruflichen Belastungen haben leider seiner Gesundheit schwer geschadet. Er hat sich mit dem Segen unseres Herrn, Daimyō Hiro, auf sein Landgut zurückgezogen.«
Abermals musste der Wärter ein Seufzen unterdrücken. So ist das. Wieder eine Machtverschiebung.
Zuletzt hatten drei Adelige die Führung des Tora-Zaibatsu für sich beansprucht: zwei ältere Minister und jener junge Samurai, der Yoritomo no Miya mit seinem Leben beschützt hatte. Oder doch beinahe mit seinem Leben. Seinen Arm hatte er jedenfalls verloren. Nun, so schien es dem Wärter, war die Zeit der Diplomatie vorüber. Hiros Fraktion hatte in den letzten beiden Wochen vier hochrangige Minister ermordet – zwangsläufig hatten Duelle und Attentate den Platz der üblichen höfischen Machenschaften eingenommen. Einfache Soldaten wie der Wärter saßen zwischen den Stühlen. Zwar waren alle durch Eidschwur an den Daimyō gebunden, aber noch herrschte die größte Unsicherheit, wer bei allen neun Höllen nun eigentlich der Daimyō war.
»Diese Barbarei hat nun ein Ende.« Der Magistrat sah sich in der Zelle um. »Die Dienstmädchen der Herrin Aisha werden zum Palast zurückgebracht und unter Hausarrest gestellt. Und du kannst dir gewiss sein, dass ich persönlich mit jedem der Mädchen über die Behandlung sprechen werde, die sie hier erfahren haben.«
»Diese hier war schon verletzt, als sie hergebracht wurde«, murmelte der Wärter. »Ich habe sogar den Apotheker kommen lassen, damit er ihre Wunden versorgt und sie keiner Infektion zum Opfer fällt.«
»Und die Rattenbisse?«
»Ich …«
»Ich weiß, woher ihre Verletzungen stammen, Wärter. Ich habe den Bericht gelesen. Mehrere Messerwunden. Blutig geschlagen, die Wange aufgesprungen, sie war tagelang bewusstlos. Denkst du nicht auch, dass sie von Glück sagen kann, der Sturmtänzerin lebendig entkommen zu sein? Und doch glaubst du, sie hat mit dem Kitsune-Mädchen gemeinsame Sache gemacht?«
»In den Gemächern der Hu…« Der Wärter räusperte sich. »Der Herrin Aisha gab es viele Geheimnisse. Ein paar der Dienstmädchen müssen eingeweiht gewesen sein.«
»Dieses Mädchen ist gerade siebzehn Jahre alt.«
»Halten zu Gnaden, Magistrat, aber Yoritomo no Miyas Attentäterin ist erst sechzehn.«
»Und du hast geglaubt, du könntest die Geheimnisse der Aufständischen aus einem Mädchen herausprügeln, nachdem eben jene Attentäterin es bereits halb zu Tode geprügelt hat?«
»Man hat mir befohlen, Nachforschungen in alle …«
»Deine Loyalität ehrt dich, Wärter. Aber deine offensichtliche Verwirrung, wem du sie schuldig bist, erregt meine Besorgnis. Du solltest über deine Zukunft nachdenken.« Die Augen des Magistrats funkelten über seiner Atemmaske. »Mein ehrenwerter Cousin, Daimyō Hiro, wäre sicher bekümmert, müsste ich ihm berichten, dass auch du dich aus Sorge um deine Gesundheit … zurückgezogen hast.«
»Ich verstehe, hoher Magistrat.« Der Wärter nickte eilfertig. »Ich danke dir für den weisen Rat.«
»Nimm ihr auf der Stelle die Ketten ab.«
Der Wärter schloss die Schellen an den Handgelenken des Mädchens auf. Er fühlte, wie ihm das Blut aus den Wangen wich, als er die blauen Flecken sah, die die Fesseln hinterlassen hatten. Ichizō drängte ihn beiseite und legte dem Mädchen seine Haori um die Schultern, um seine Blöße zu bedecken. Er führte es aus der Zelle und schnalzte dabei missbilligend mit der Zunge.
»Es ist vorbei, meine Liebe.« Seine Stimme war sanft wie eine Feder. »Nun ist alles vorbei.«
Das Mädchen weinte weiter, die Arme um sich selbst geschlungen. Der Magistrat geleitete es den Gang hinunter. Der Wärter hörte schwere Schritte: weitere Bushimänner, die ins Gefängnis marschiert kamen und seine Männer anschnauzten, die übrigen Dienstmädchen freizulassen. Er konnte es spüren: Das Schicksal des Reiches stand auf Messers Schneide. Es drohte ein blutiger Krieg zwischen den Clans, Kage-Rebellen durchseuchten die Stadt, und Samurai bekamen Tobsuchtsanfälle wie kleine Kinder, weil sie nichts anderes mehr kümmerte, als den leeren Thron zu besteigen.
Der Wärter seufzte laut. Wie er sich die gute alte Zeit zurückwünschte! Alles war einfacher gewesen. Ein Soldat hatte gewusst, wem er Gefolgschaft schuldete. Was er zu tun hatte. Aber dann war die Sturmtänzerin gekommen und hatte all das zunichtegemacht.
Er trat aus der Zelle, bereit, sich dem Suff zu ergeben.
»Dein Zimmer, wenn ich nicht irre.«
Der Magistrat und sie standen in einem der Flure des Palastes, flankiert von vier Bushimännern. Der stinkende Qualm der motorisierten Rikscha hing noch in ihren Kleidern. Die ganze Fahrt über hatte sie aus dem Fenster gestarrt, die Stirn gegen das Glas gedrückt, und die Stadt Kigen war in ihrem ganzen Elend an ihr vorbeigezogen. Die Marktstände, leer und verlassen. Knirschendes Glas unter den Rädern. Menschen in edlen Gewändern waren durch die Straßen geeilt, die Schultern hochgezogen. Ängstlich hatten sie sich immer wieder umgeschaut, die Augen hinter maßgefertigten Schutzbrillen verborgen. Sie waren an der Arena mit dem blutbefleckten Boden vorbeigekommen und schließlich durch die hohen eisernen Tore gefahren, die aufs Palastgelände führten. Verkümmerte Gärten hinter hohen grauen Steinmauern mit Glasscherbenkronen. Der Herbst hatte endlich die schreckliche Sommerhitze in die Flucht geschlagen, doch wohin sie auch blickte, sah sie Feuerrot. Roch den Zunder, der nur auf einen Funken wartete.
Auf die lodernden Flammen.
Magistrat Ichizō schob die Tür zu ihrem Dienstmädchenzimmer auf, und sie blickte in den vertrauten kleinen Raum. Das Bett war ungemacht. Die Schubladen waren aus der Kommode gezogen und ausgeleert worden, Kleider lagen über den Boden verstreut. Auf einer der Bambusmatten war deutlich ein getrockneter Blutfleck zu sehen; unwillkürlich berührte sie ihre verschorfte Wange. Die Erinnerung an die Messerklinge auf ihren Unterarmen, an den wuchtigen Schlag ins Gesicht war noch frisch.
»Ich hoffe, du verzeihst die Unordnung«, sagte Ichizō. »Ein anderer Minister muss wohl angeordnet haben, deine Besitztümer zu durchsuchen. Der letzte Monat war sehr … turbulent. Sicher wird es nicht lange dauern, ein wenig aufzuräumen.«
»Ich danke dir vielmals, Herr.«
»Du … erinnerst dich nicht an mich, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Vergib mir, Herr.«
»Wir haben einander beim letzten Frühlingsfest kennengelernt.« Ein leises Lächeln klang in seiner Stimme mit. »Beim Bankett des Seii Taishōgun. Wir haben uns über Poesie unterhalten. Wir waren uns einig, dass Hamadas Werk dem Noritoshis vorzuziehen ist. Ich habe den Abend in schöner Erinnerung …«
Da sah sie zu ihm auf. Sie hielt noch immer seine Überjacke um ihre Schultern zusammen. Ihr Gesicht schmolz wie Wachs in einem Kaminfeuer. Sie warf ihm die Arme um den Hals und drückte das Gesicht gegen seine Brust, um ihre heftigen Schluchzer zu ersticken. Erschrocken stand er da, unsicher, ob er sie gewähren lassen oder von sich schieben sollte. Schließlich gab er den Bushimännern ein Zeichen, sich ein Stück zurückzuziehen, um ihr weiteren Gesichtsverlust zu ersparen.
»Aber, aber, meine Liebe.« Er tätschelte ungeschickt ihre Schulter. »Du machst dir Schande.«
»Es war so schrecklich.« Heiße Tränen sickerten in scharlachrote Seide. »Ich e-erinnere mich n-nur daran, wie das Kitsune-Mädchen mich ge-geschlagen hat. Dann bin ich in der Zelle aufgewacht, und s-sie haben mich angebrüllt und mich eine V-V-Verräterin genannt! Ihr Götter, keine Dienerin war Yoritomo no Miya treuer als ich …«
»Schon gut.« Er unternahm den schwachen Versuch, sie gleichzeitig zu halten und sich von ihr zu lösen, scheiterte aber kläglich. »Niemand wird dir mehr wehtun. Du darfst dein Zimmer nicht ohne Begleitung verlassen, aber du wirst nicht weiter misshandelt werden. Ich schwöre es bei meiner Ehre.«
»Vielen Dank, Herr Ichizō. Die Götter sollen dich segnen.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ Küsse sanft wie Sommerregen seine Wange hinabwandern. Als sie seine Lippen erreichte, verharrte sie einen Augenblick und schmiegte sich an ihn. Mit einem nervösen Lächeln trat er zurück und strich seinen Kimono glatt.
»Schön, schön.« Er räusperte sich. »Ist diese Aufgabe also glücklich erledigt.«
Er schob sie ins Zimmer. Sie tupfte hilflos mit dem Ärmel über ihr tränennasses Gesicht. Ichizō verneigte sich und zog sich rückwärts in den Flur zurück. Seine Wangen waren rosig. Er schloss und verriegelte die Tür hinter sich. Sie stand in dem Durcheinander und schluchzte weiter, gerade laut genug, dass man sie durch die dünnen Wände hören konnte. Die Schritte der Männer entfernten sich. Als sie verklungen waren, zählte sie einhundert Herzschläge, immer noch weinend. Dann endlich ließ sie die Hände sinken, und ihre Tränen versiegten, als hätte jemand einen Hahn zugedreht.
Die Augen geschlossen, starrte sie in die warme Dunkelheit hinter ihren Lidern, während sie der Leere in ihrem Kopf lauschte. Still und stumm in der relativen Freiheit ihres eigenen Zimmers. Endlich regte sie sich, watete durch die Kleider am Boden in den Waschraum, auf sauberes Wasser und duftende Seife zu. Sie wollte sich das Gefängnis vom Leib schrubben.
Ihr Blick blieb an ihrem Spiegelbild hängen, und einen furchtbaren Augenblick lang glaubte sie, eine Fremde vor sich zu sehen. Oh, die schlanke Gestalt, das lange dunkle Haar und den vollen Schmollmund erkannte sie wieder. Das Gesicht jedoch schien jemand anderem zu gehören: einem Mädchen, das sie nicht kannte und auch nicht kennen wollte. Einem schwächlichen Geschöpf, dessen Haut sie nur übergestreift hatte.
Sie ließ die Haori des Ministers zu Boden fallen und schlüpfte aus ihren zerlumpten Kleidern. Die Spuren falscher Tränen glitzerten noch auf ihren roten, geschwollenen Wangen – sie hatte hineingekniffen, bis sie so ausgesehen hatten. Über ihre Arme zogen sich die Messerwunden, die sie sich selbst zugefügt hatte. Das Gesicht hatte sie sich an der Ecke ihrer Kommode aufgeschlagen. Sie dachte an die zappelnden, quiekenden Ratten, die sie gegen ihre Beine gedrückt hatte – alles, um Mitleid zu erregen. Zuerst wollte sie ihre Herzen erweichen. Und sie ihnen dann aus der Brust reißen.
Das Bedürfnis, ihr Spiegelbild zu zerschlagen, war stark. Sie starrte ihre Doppelgängerin an, das schmale, gebrochene Mädchen, das sie zu sein vorgab, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
»Du bist der Tod«, flüsterte sie. »Eisig wie die Winterdämmerung. Gnadenlos wie die Sonnengöttin. Spiel deine Rolle. Spiel sie so gut, dass du selbst auf dich hereinfällst! Aber vergiss nie, wer du bist. Was du bist.«
Sie deutete auf den Spiegel, und ihr Flüstern war so scharf wie eine Messerklinge.
»Du bist Michi von den Kage!«