Читать книгу Der Lotuskrieg 2 - Kinslayer - Jay Kristoff - Страница 22
5 ENTPUPPUNG
ОглавлениеKalte Übelkeit stieg in Yukiko auf.
Aus der dunklen Grube starrten blutrote Augen zu ihr hoch – poliertes Glas, eingesetzt in ein glattes, mundloses Gesicht. Die Membran, die den metallenen Leib bedeckte, war braun wie altes Leder, geschmeidig – und sie glänzte. An den Gelenken wirkte sie zerknittert. Der Gildenmann hatte einen mit Transistoren besetzten Mech-Abakus auf der Brust. Kabel wanden sich um seinen Körper. Die dünnen, verchromten Glieder auf seinem Rücken ließen ihn wie eine abscheuliche Spinnenkreatur aussehen.
»Was ist das?«, raunte sie.
»Ein Erschaffer.« Kins Stirn war gerunzelt. Er fuhr sich mit einer Hand über seine Haarstoppeln.
»Ein was?« Yukiko warf dem Jungen einen Blick zu, die Hand noch am Griff ihres Tantō. Buruu, an ihrer anderen Seite, spähte mit schmalen Augen in die Grube. Sein Fell strahlte Wärme ab, er roch nach Moschus und Ozon. Elektrizität knisterte leise in der Luft und brachte ihre Haut zum Kribbeln.
»Sie bauen die Fleisch-Apparate für die Gilde.« Kin zuckte mit den Schultern. »Die Diensteinheiten, die im Kapitelhaus arbeiten. Die Stadtausrufer, die durch die Straßen fahren und die Stunde verkünden. Außerdem führen sie Operationen durch … Zum Beispiel setzen sie Neugeborenen Implantate ein. So was.«
Vier Augenpaare starrten ihn an, als spräche er in der Zunge der Gaijin.
»Sie bauen Maschinen, die Lebewesen ähnlich sind.« Er wedelte mit einer Hand in der Luft herum. »Erschaffer. Sie erschaffen künstliches Leben.«
»Ihr Götter im Himmel!«, murmelte Atsushi.
»Und was macht der nun hier?«, fragte Isao.
»Sehe ich aus wie ein Gedankenleser?«, fragte Kin.
Isao warf Yukiko einen Blick zu. »Wenn wir hier alleine wären, würde ich dir ganz genau verraten, wie du aussiehst, Gildenmann.«
Kin wollte ihm antworten, kam aber nicht dazu. Ein heiseres, zischelndes Krächzen stieg aus der Grube auf. Es klang, als würde es aus dem Magen einer verrosteten Metallschlange hochgewürgt. »Gildenmann?« Das unheimliche Wesen legte den Kopf schief. »Dann bist du Kioshi?«
Den Namen zu hören, verstärkte Yukikos Unwohlsein. Es war eine unwillkommene Erinnerung daran, wer Kin früher gewesen war. Kioshi war Kins Erbe, der Name seines verstorbenen Vaters, eines Lotusmannes von Rang und Ansehen. Wie es in der Gilde Brauch war, war der Name nach dem Tod des Vaters auf den einzigen Sohn übergegangen. So hatte Kin sich genannt, als er noch seine Metallhaut getragen hatte. Es war der Name eines Fremden. Ihres Feindes. Kioshi war er gewesen, bevor sie den Jungen unter dem Messing kennengelernt hatte. Bevor er …
»Halt dein Maul!« Isao hob seinen Tetsubō, offenbar überrascht, das Spinnenwesen sprechen zu hören. »Sonst hau ich dir den Schädel ein, du Dreckskerl!«
Der Erschaffer hob die Hände. Sieben seiner Metallarme hoben sich ebenfalls; vom achten regneten Funken. Zuckend hing er neben seinem Bein herab.
»Ich möchte niemandem von euch schaden«, zischelte er. »Das schwöre ich im Namen der ersten Blüte!«
»Was bei allen Höllen ist eine erste Blüte?«, fauchte Isao.
»Der Anführer der Lotusgilde«, erklärte Kin. »Die zweite Blüte jedes Kapitelhauses erstattet ihm Bericht.«
»Und ihr Leute schwört in seinem Namen, als sei er ein Gott?«
Kin starrte den Jungen einen Augenblick lang wortlos an, dann wandte er sich wieder dem Geschöpf in der Grube zu. »Was machst du hier?«, fragte er.
»Ich habe nach dir gesucht, Kioshi-san.«
Yukiko spannte sich an. Warum?
»Ich heiße Kin.«
»Du … trägst nicht länger den Namen deines Vaters?«
»Sein Name geht dich gar nichts an.« Yukiko musste die Worte durch zusammengebissene Zähne hervorstoßen. »Du bist nicht in der Position, Fragen zu stellen. Wenn dir dein Leben lieb ist, sagst du uns jetzt langsam mal, was wir wissen wollen!«
Der Erschaffer senkte den Blick. Yukiko hätte schwören können, dass er zusammengezuckt war. »Verzeih mir, Sturmtänzerin.«
»Was bei allen neun Höllen machst du hier draußen? Was willst du?«
Eine kleine, hilflose Geste, die durch sieben Silberarme lief. »Ich möchte mich euch anschließen.«
»Dich uns anschließen?« Sie lachte ungläubig.
»Kiosh…« Er stockte. »Kin-san träumt nicht als Einziger schon lange davon, die Gilde hinter sich zu lassen. In den Kapitelhäusern des Inselreiches gibt es viele, die insgeheim an Rebellion denken. Es hat nur niemand für möglich gehalten. Niemand war mutig genug, es zu wagen.« Das Spinnenwesen blickte zu Kin auf. In seiner Stimme lag Bewunderung. »Bis er es gewagt hat.«
»Wir sollten ihn wirklich lieber umbringen, Sturmtänzerin.« Atsushi deutete mit seinem Speer in die Grube. Regen rann an der scharfen Klinge hinunter. »Wir können ihm nicht trauen!«
»Bitte …«, flüsterte der Erschaffer. »Ich bin so weit gekommen …«
Kin blickte Atsushi finster an. »Wenn die Haut eines Gildenmannes schweren Schaden nimmt, sendet der Mech-Abakus ein Notsignal. Dann weiß die Gilde genau, wo wir sind!«
»Kannst du das Notsignal deaktivieren?« Yukiko deutete auf den Werkzeuggürtel aus Messing, den er sich um die Taille geschlungen hatte.
»Das könnte ich.« Kin runzelte die Stirn. »Aber du willst doch nicht …«
Yukiko sah Isao an. »Holt ihn raus.«
Sie warfen ihm ein Seil hinunter. Angeekelt sah Yukiko zu, wie der Gildenmann sechs Meter daran in die Höhe kletterte. Wenn die silbernen Glieder auf seinem Rücken sich bewegten, machten sie rasselnde, klickende Geräusche, als seien sie hohl und die Heimat Tausender krabbelnder Insekten. Die glühenden Augen verliehen seinen Messingwangen einen rötlichen Glanz. Die Haut wirkte nicht feucht, es klebten aber weder Schmutz noch Staub daran.
Der Gildenmann trug eine lange, mit Schnallen besetzte Schürze und hatte Schwierigkeiten, die Beine über den Rand der Grube zu schwingen. Schließlich packte Isao einen der menschenähnlichen Arme, zerrte ihn das letzte Stück in die Höhe und stieß ihn dann zu Boden. Atsushi setzte dem Geschöpf die Klinge seines Naginata an die Kehle. Yukiko trat ein paar Schritte zurück, um außer Reichweite der Spinnenglieder zu bleiben. Der Gildenmann nahm jedoch keine drohende Haltung ein. Er hob alle funktionstüchtigen Arme (die Spinnenglieder machten dabei wieder ihr ekelhaftes Insektengeräusch) und stand langsam auf. Den Blick hatte er gesenkt, und er zitterte am ganzen Leib. Sein Mech-Abakus saß ein wenig höher auf seiner Brust als bei den Gildenmännern üblich, direkt über der Rundung seiner …
Ihr Götter!
»Ein Mädchen!« Yukiko sah Kin an. »Das ist ein Mädchen!«
Kin zuckte mit den Schultern. »Alle Erschaffer sind weiblich.«
»Ich wusste nicht, dass es Frauen in der Gilde gibt!«
»Woher kämen sonst die kleinen Gildenmänner?« Er lächelte verlegen.
Yukiko machte ein grimmiges Gesicht und deutete auf den Mech-Abakus der Gildenfrau. Das Gerät ratterte. Perlen glitten über das Gebilde aus Kondensatoren, Kühlkörpern und blinkenden Transistoren.
»Leg das ganze Ding lahm.«
Kin trat auf die Gildenfrau zu und zog einen Schraubenzieher und eine Zange aus seinem Werkzeuggürtel. Er wirkte ein wenig befangen, als er eine Hand auf ihre Brust legte. Sie hielt den Blick gesenkt, während er eine Handvoll Schrauben löste. Schließlich hob er eine Deckplatte ab, und Dutzende isolierte Kabel quollen hervor.
»Ähm …« Er hielt ihr die Deckplatte hin. »Kannst du das bitte kurz halten?«
Die Erschafferin gehorchte stumm. Ihre Spinnenglieder bebten, als sie die Metallplatte ergriff. Yukikos Magen drehte sich um. Sie schluckte krampfhaft und schmeckte Galle im Mund. Ihre Beine zitterten. Tränen schossen ihr in die Augen. Spatzen zwitscherten in der Ferne – in ihren Ohren klang es nicht wie Gesang, sondern eher wie Geschrei. Drei Affen kletterten über ihnen in den Bäumen herum, kreischten und rüttelten an den Zweigen. Es war so heiß. Sie ballte die Hände zu Fäusten.
GEHT ES DIR GUT, SCHWESTER?
Prima.
»Wie heißt du?«, fragte Kin die Gildenfrau.
»Rede nicht mit ihr!«, knurrte Yukiko.
Er warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Ist das nicht der Sinn der Übung?«
Yukiko wischte sich heftig das regennasse Haar aus den Augen. Kin wandte sich wieder der Erschafferin zu, zog mehrere Kabel ihres Mech-Abakus aus dem Loch in ihrem Panzer und begann, am Innenleben des Gerätes herumzuwerkeln. Dabei streifte er wieder die Metallbrüste und sah die Gildenfrau entschuldigend an.
»Wie heißt du?«, fragte er noch einmal.
»Der Name meiner Mutter lautete Kei«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Nun trage ich ihn, wie es Sitte ist.«
Er hielt inne und blickte in die ausdruckslosen Glasaugen. »Aber wie heißt du?«
Die Erschafferin war lange still. Yukiko mahlte mit den Zähnen. Sie hörte das Schluchzen Abertausender Gaijin-Kinder, die im Innern des gelben Kapitelhauses auf die Inochi-Grube zugetrieben wurden. Die furchtbaren Schreie, die von den brennenden Scheiterhaufen bei den Brandsteinen aufstiegen. Menschen wie sie, mit der Gabe des Gespürs, bei lebendigem Leibe verbrannt, nur weil die Gilde ihre lächerliche Doktrin durchsetzen wollte: den »Weg der Reinheit«. Die Antwort der Gildenfrau hörte sich an, als zische ein ganzes Nest wütender Klapperschlangen.
»Ayane.«
»Aus welchem Kapitelhaus kommst du?«
»Dem in Yama.«
»Die Ländereien der Füchse sind weit entfernt.« Kin hob eine Augenbraue. Er hatte jetzt eine Kabelzange in der Hand. »Wie bist du hergekommen? Ihr Erschaffer könnt doch nicht fliegen.«
»Ich habe mich im Hafen von Yama auf ein Gildenschiff geschlichen und das Rettungsboot gestohlen.« Die Spinnenglieder krümmten sich, eine silberne Welle. »Damit bin ich so weit geflogen, wie ich konnte. Dann bin ich gelaufen.«
»Woher hast du gewusst, in welche Richtung du laufen musst?« Kin blickte von seiner Arbeit auf. Funken spiegelten sich in seinen Augen.
»Die Gilde kennt die ungefähre Lage der Kage-Hochburg, seit sie euch beide nach dem Absturz der Donnerkind aus den Wäldern gerettet hat. Damals hat sie Triangulationstürme um die Iishis herum aufgestellt. Immer wenn die Kage eine Radioübertragung senden, bestimmen sie eure Position etwas genauer.«
»Wenn sie so viel wissen, warum haben sie dann noch nicht ihre Flotte geschickt, um die Wälder niederzubrennen?«, fuhr Yukiko sie an.
Die Erschafferin wich ihrem Blick weiterhin aus. »Ein Großteil der Flotte ist noch in Morcheba und beaufsichtigt den Rückzug der Truppen. Der Gildenmann, dessen Leben du verschont hast, hat deine Nachricht nach Yama gebracht, Arashi no odoriko. Der Verlust dreier schwerer Kriegsschiffe hat den hohen Blüten zu denken gegeben. Der Kapitän, den du umgebracht hast, war ein Kriegsheld, wusstest du das? Kigens dritte Blüte. Flottenmeister.«
»Na und?«
»Sie haben Angst vor dir.« Sie schluckte. »Vor dir und deinem Donnertiger.«
Kin schaute sie an, und sie glaubte, die Erinnerung an einhundert tote Gildenmänner in seinen Augen zu sehen. Sie leckte sich die Lippen. Es schauderte sie, als die Spinnenglieder der Erschafferin wieder zu beben begannen. Sie strich Buruu über den Nacken und vergrub die Finger tief in seinen warmen Federn.
Ich traue ihr nicht.
VERNÜNFTIG.
Es ist zu schön, um wahr zu sein … Dass es mehr Gildenmänner wie Kin geben sollte.
DEN TEIL IHRER GESCHICHTE FINDE ICH GLAUBHAFT.
Eine Rebellion innerhalb der Gilde? Nein. Sie erzählt uns bloß, was wir gern hören wollen.
IN DIE GILDE WIRD MAN HINEINGEBOREN. DIE GILDENLEUTE HABEN KEINE WAHL. KEINE MACHT ÜBER IHR SCHICKSAL. GUT MÖGLICH, DASS MANCHE DIESES JOCH ABSCHÜTTELN WOLLEN.
Ich glaube nicht, dass einer dieser Unzufriedenen sich einfach aus seinem Kapitelhaus schleichen und den ganzen Weg hier rauskommen würde, bloß um Kin zu suchen. Dieses Ungeheuer war wahrscheinlich bei der Flotte dabei, die wir zerstört haben. Es lügt, um seine Haut zu retten.
WIR HABEN NUR EINEN AM LEBEN GELASSEN, YUKIKO. DAS WEIẞT DU SO GUT WIE ICH.
Das ergibt alles keinen Sinn. Es lügt.
DU MEINST, SIE LÜGT.
Ich meine, was ich sage. Es.
Sie musterte die Erschafferin und rümpfte die Nase. »Unterstützen deine Anführer deshalb Hiro? Weil sie zu wenig Rückgrat haben, um selbst herzukommen? Lieber schicken sie Männer mit Frauen und Kindern in die Schlacht gegen mich, was? Sollen doch die sterben und nicht noch mehr ihrer kostbaren Shatei!«
»Ich komme aus Yama.« Alle neun intakten Arme hoben und senkten sich, und Yukiko begriff angewidert, dass die Erschafferin mit den Schultern gezuckt hatte. »Ich weiß nichts über die politischen Entscheidungen, die im Ersten Haus getroffen werden. Und warum die erste Blüte Shateigashira Kensai angewiesen hat, den jungen Tora-Samurai zu unterstützen, weiß ich auch nicht. Aber ich weiß, dass vor vier Wochen siebzig Prozent unserer Kriegsgerätbauer von Kigen angefordert worden sind.«
Yukiko sah sie verständnislos an.
»Die Kriegsgerätbauer bauen Maschinen, die von Menschen bedient werden«, erklärte Kin. »Motorisierte Rikschas, Häcksler, Himmelsschiffsmaschinen und so weiter. Wie ich früher.«
Yukiko verengte die Augen. »Woran arbeiten sie?«
»Das weiß ich nicht, Sturmtänzerin.« Wieder das groteske, vielarmige Schulterzucken.
»Nenn sie nicht so!« Kin pflückte drei der Transistoren von dem Mech-Abakus ab. »Ihr Name ist Yukiko.«
Er schnitt noch ein paar Drähte durch, sammelte das Innenleben des Gerätes ein und stopfte es zurück in das Loch im Panzer. Dann schraubte er die Abdeckplatte davor und trat ein paar Schritte zurück. »Fertig.«
Die Erschafferin schielte auf Atsushis Klinge hinunter, die vor ihrer Kehle schwebte. Der Junge packte den Speer fester. Ein Wort von Yukiko, und er würde ein Blutbad anrichten. Kin sah sie flehentlich an. Sie starrte zurück, die Arme verschränkt, die Augen verengt. Es regnete heftiger: Dicke, klare Tropfen trommelten auf die Blätter und durchnässten sie alle bis auf die Haut.
Von der Erschafferin einmal abgesehen natürlich.
»Ich habe noch nie Regen gesehen, der nicht schwarz war.« Das Spinnenwesen kehrte die Handflächen nach oben. Regen strömte über seinen Panzer, perlte und rann daran hinunter wie Quecksilber. »Wie wunderschön.«
Yukikos Blick hing an der Klinge in Atsushis Händen. Die Regentropfen glitzerten auf dem Stahl wie geschliffene Diamanten.
Wir sollten einfach alles aus ihr herausholen, was wir wissen müssen, und sie dann eliminieren.
Buruu knurrte. UND WENN SIE DIE WAHRHEIT SAGT? WENN SIE DIE IST, DIE SIE ZU SEIN VORGIBT?
Niemand hat je die Gilde verlassen. Das weiß doch jeder.
ABGESEHEN VON DEINEM KIN.
Nenn ihn nicht so.
IHM HABE ICH AUCH NICHT GETRAUT, WEIẞT DU NOCH? ABER OHNE IHN WÄREN WIR BEIDE JETZT NICHT HIER.
Das weiß ich.
DANN WEIẞT DU AUCH, DASS WIR DAS MÄDCHEN NICHT UMBRINGEN KÖNNEN, NUR WEIL WIR IHM MISSTRAUEN.
Yukiko fauchte und rieb sich mit den Fäusten über die geschlossenen Augen. Der Lärm. Die Hitze. Wie ein Fuchs auf leisen Pfoten pirschte sich der Schmerz an, bezog in ihrem Hinterkopf Quartier und lauerte, bleischwer, mit angehaltenem Atem.
»Raus aus deiner Haut«, sagte sie zu dem Spinnenwesen.
»Was?« Kin sah verwirrt aus. »Warum?«
»Wir nehmen kein Ortungsgerät mit zurück. Es legt die Haut und den Mech-Abakus ab, und wir begraben beides hier.«
»Der Mech-Abakus funktioniert nicht mehr…«
»Das ist die Bedingung, Kin. Wir begraben seine Haut – oder es.«
»Sie ist kein ›Es‹.« Kin runzelte die Stirn. »Sie heißt Ayane.«
Isao starrte ihn böse an.
Yukiko wandte sich an die Erschafferin. Ihr Blick und ihre Stimme waren kalt. »Du kannst es dir aussuchen. Ich will nicht grausam klingen, aber schlafen kann ich heute Nacht so oder so.«
Die Gildenfrau warf Atsushis Waffe einen Blick zu, dann Kin. Wortlos begann sie, an den Flügelschrauben zu drehen, die ihren Panzer besetzten. Sie verdrehte die Arme nach hinten und fummelte an der silbernen Kugel auf ihrem Rücken herum, von der die Spinnenglieder herabhingen. Einen Augenblick kämpfte sie mit einem Mechanismus, dann fragte sie:
»Kannst du mir bitte helfen, Kin-san? Es ist so schwierig, das alleine zu machen.«
Zögerlich trat Kin hinter sie und löste die Bolzen, die ihre Wirbelsäule hinabliefen. Sie erklärte ihm, welche Schließen er öffnen musste, und Yukiko hörte, wie ein leises Knacken durch den öligen, glänzenden Panzer lief. Darauf folgte ein nasses Sauggeräusch: Luft, die in ein Vakuum strömte. Die Haut wurde schlaff, als sei sie plötzlich eine Nummer zu groß. Das Spinnenwesen zog an einer Schnur an seinem Hinterkopf, dann an einer in seinem Kreuz. Yukiko, Atsushi und Isao sahen zugleich angeekelt und fasziniert zu, wie die Erschafferin sich vorbeugte und dann – wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft – ihre Haut abstreifte.
Das Mädchen, das zum Vorschein kam, trug einen hautengen, dünnen Anzug aus hellem Gewebe. Seine Haut war so blass, dass sie durchscheinend wirkte. Es hatte eine Glatze, keine Wimpern und keine Augenbrauen. Lange, schlanke Glieder, zarte Finger, anmutige Kurven. In seiner Haut saßen glänzende Bajonettverschlüsse aus schwarzem Metall. Es war siebzehn, höchstens achtzehn Jahre alt. Die Lippen waren so voll, als hätte etwas Giftiges hineingestochen, die Gesichtszüge fein und vollkommen: eine Porzellanpuppe, die zum ersten Mal an die Sonne geholt worden war. Das Mädchen kniff die Augen zusammen und hob eine Hand, um sie abzuschirmen.
Unbegreiflicherweise sank Yukiko das Herz.
Oh … Sie ist schön.
Isao und Atsushi stierten. Kin warf ihnen einen tadelnden Blick zu, schlüpfte aus seiner Uwagi und legte sie dem blassen Mädchen um die Schultern. Yukiko sah, dass die Anschlüsse in seiner Haut an genau den gleichen Stellen eingelassen waren: an den Handgelenken, den Schultern, auf der Brust, an den Schlüsselbeinen, am Rückgrat. Dem Mädchen saß noch immer die melonengroße silberne Kugel auf dem Rücken. Die zuckenden Spinnenglieder verursachten unablässig jenes widerliche, fremdartige Geräusch.
Yukiko wies darauf. »Nimm die Dinger auch noch ab.«
»Ich kann nicht.« In Wirklichkeit hatte das Mädchen eine leise, liebliche Stimme, in der eine bebende Furcht lag. »Sie sind Teil von mir. Mit meiner Wirbelsäule verbunden.«
»Lüg mich nicht an!«
»Bitte … Ich lüge nicht.« Das Mädchen rang die Hände, die Augen immer noch zusammengekniffen. Seine Augen waren erdbraun, die Pupillen winzig. »Ich kann sie so wenig abnehmen wie meine Beine.«
EINS MIT DER MASCHINE. WELCH WAHNSINN.
Düster betrachtete Yukiko die unruhigen silbernen Arme. Sie hatten klumpige Gelenke und liefen in scharfen Nadelspitzen aus. Regen rann an ihnen hinab. Schließlich senkte Yukiko den Blick und starrte die bloßen Füße der Erschafferin an. Sie hatte die Zehen in die Erde gegraben, als müsse sie sich festhalten. Yukiko war schlecht. Der Kopfschmerz hatte ihren Hinterkopf fest im Griff und arbeitete sich zu ihren Schläfen vor. Einem Flüstern nicht unähnlich. Einem Versprechen.
»Fessel ihr die Arme.« Sie nickte Atsushi zu. »Alle Arme.«
Kin sah verletzt aus. »Yukiko, das brauchst du wirklich nicht zu machen.«
»Bitte sag mir nicht, was ich brauche, Kin.«
Das Mädchen verschränkte die Arme auf dem Rücken, und die funktionsfähigen Metallglieder krümmten sich zusammen wie die Beine eines sterbenden Insekts. Der beschädigte Arm baumelte neben ihrem Schienbein, schlaff wie ein toter Fisch. Atsushi schlang ein Seil um ihren Oberkörper und fixierte so alle Arme. Das Mädchen atmete tief durch und hob dann den Blick. Zum ersten Mal sah es Yukiko in die Augen. Der raunende Regen verschluckte beinahe seine Worte.
»Ich danke dir für dein Vertrauen«, sagte sie.
»Ich traue dir nicht.«
»Dann … Dann danke ich dir, dass du mich am Leben lässt.«
»Brechen wir auf.« Yukiko wandte sich den Jungen zu. »Isao, vergrab die Haut so tief du kannst. Atsushi, du begleitest uns. Ich muss mit Daichi sprechen.«
Isao nickte und begann, Herbstblätter beiseite zu räumen. Atsushi stieß dem Mädchen den Schaft seines Naginata in den Rücken. Es stolperte. Kin fing es auf.
»Beweg dich!«, knurrte Atsushi.
Yukiko ging mit Buruu voraus. Ihre Haut kribbelte unangenehm, und in ihrem Kopf pulsierte der Schmerz. Als sie einen Blick über die Schulter warf, sah sie, dass Kin eine Hand unter Ayanes Ellenbogen gelegt hatte und ihr half, auf dem unebenen Grund das Gleichgewicht zu halten. Atsushi marschierte mit grimmigem Gesicht hinter ihnen her.
Ayane hielt den Blick gesenkt, aber ihre Lippen bewegten sich. Sie sprach leise, verstohlen und ganz offenkundig furchtsam. Yukiko tastete mit ihrem Geist durch den Wald. Sie nahm den Schmerz in Kauf, der wie eine Flutwelle anstieg und sie zu ertränken drohte – dafür konnte sie jedes Wort hören, das die Gildenfrau sagte. Sie sah das Mädchen durch einhundert Augenpaare. Spürte einhundert Herzschläge in ihrer Brust.
Blut tropfte ihr aus der Nase.
»Ich danke dir, Kin-san«, flüsterte Ayane.
Der Junge schüttelte leicht den Kopf. »Du musst dich nicht bei mir bedanken. Hier packen wir die Dinge anders an. Wir tun das Richtige. Yukiko ist ein guter Mensch, sie ist bloß misstrauisch, wenn es um die Gilde geht. Sie hat viel verloren, der Gilde und der Regierung wegen. Den meisten hier geht es genauso.«
»Du sprichst von ihrem Vater.«
»Auch von Freunden.«
»Glaubst du, dass sie mich verabscheuen werden? Die Kage, meine ich?«
»Wahrscheinlich.« Kin schaute zurück zu Atsushi und seinem Speer. »Sie trauen Leuten wie uns nicht … Ich meine Leuten, wie wir es früher waren.«
»Warum bleibst du dann bei ihnen?«
Es dauerte eine Weile, bis Kin antwortete. In der Stille prasselte der Regen aufs Blätterdach; es klang, als trommelte in weiter Ferne eine Armee mit hohlen Bambusrohren auf die Erde. Yukiko ging weiter vor ihnen her, aber durch fremde Augen sah sie, wie Kin sie anschaute. Dann blickte er sich zwischen den Bäumen um, die sich langsam rostrot färbten. Endlich zuckte er mit den Schultern.
»Weil ich manches hier liebe. Und weißt du, es ist auch meine Welt … Ich habe so lange untätig zugeschaut, wie es ihr schlechter und schlechter ging. Immer habe ich gehofft, jemand anderes würde sie retten.«
»Also willst du sie nun retten, Kin-san? Ganz allein?«
»Nicht allein.« Er schüttelte den Kopf. »Das geht uns alle an. Mehr Leute müssen das verstehen. Leute, die bereit sind, aufzustehen und zu sagen: ›Genug!‹ Ganz gleich, wie hoch der Preis dafür ist.«
Ayane lächelte ihn an, und ihre Augen glitzerten wie glatte, taubenetzte Steine. Unter der Angst lag Stärke in ihrer Stimme, so alt wie die Berge um sie her, so tief wie die Erde unter ihren Füßen. »Genug!«, sagte sie.
Der Schmerz überwältigte Yukiko, heiß und glassplitterscharf. Sie zog sich zurück, schlich sich wieder in ihren eigenen Kopf wie eine Diebin und wischte sich das Blut von den Lippen. Buruu warf ihr einen Seitenblick zu. Er schwieg, aber sie hörte, was er nicht sagte. Sie zog die Nase hoch und spuckte salziges Rot ins Gebüsch.
Einhundert Blicke folgten ihnen, als sie davongingen.