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7 GEISTERHAFTES INFERNO

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Sei es nun ein stinkendes Loch im Herzen der Stadt Kigen oder ein gemütliches Haus mit vergitterten Fenstern in den Zweigen einer uralten Sicheltanne: Ein Gefängnis war ein Gefängnis.

Eine Reihe dicker Bambusrohre teilte das Zimmer in der Mitte. Ayane saß an der hinteren Wand. Die silberne Kugel zwischen ihren Schulterblättern zwang sie, sich ein wenig vorzubeugen. Sie hatte die langen, dürren Spinnenglieder angezogen; der beschädigte Arm lag neben ihr auf dem Boden. Jetzt, da sie aus dem Regen heraus waren, sprühte er keine Funken mehr, zuckte jedoch hin und wieder wie ein Gossenkind mit Kinderlähmung.

»Es tut mir so leid.« Kin stand vor der Zelle, die Hände um zwei der Bambusstangen geschlossen. Die Luft war drückend. Schweiß glänzte auf seiner Haut.

Ayane trug noch die Uwagi, die er ihr gegeben hatte. Sie hatte ein Loch in den Rücken gerissen, damit sie ihre Spinnenglieder hindurchstrecken konnte. Jemand hatte ihr einen alten, fadenscheinigen Hakama gegeben, viel zu groß und nicht besonders sauber. Ihre Füße waren schmutzig, die Zehen hatte sie angezogen. Nachdrücklich trommelte der Regen aufs Dach.

»Du musst dich doch nicht entschuldigen, Kin-san.« Ungeachtet der trostlosen Umgebung lächelte Ayane. »Man kann ihnen wirklich nicht verdenken, dass sie misstrauisch sind. Wäre ich eine Kage, die sich der Gilde ausgeliefert hat – die Inquisition würde es mir sicher nicht so bequem machen.«

»Die Inquisition.« Kin zog die Mundwinkel nach unten. »An die habe ich schon lange nicht mehr gedacht …«

»Träumst du noch?«, fragte Ayane. Ihre Augen waren groß. »Von deinem Erwachen, meine ich?«

»Jede Nacht.«

Ayane seufzte und starrte zu Boden. »Ich hatte gehofft … Wenn ich erst einmal abgestöpselt wäre …« Sie fuhr sich über ihre Glatze. »Dass es dann vielleicht aufhören würde.«

»Was siehst du?«, fragte Kin leise.

Sie schüttelte den Kopf. »Darüber will ich nicht reden.«

»Deine Vision kann kaum schlimmer sein als meine.«

Da blickte sie ihn wieder an, und er sah den Kummer in ihren Augen. »Manche Geheimnisse müssen besser gehütet werden als andere, Kin-san.«

Sie zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Die zerbrechlichen Glieder auf ihrem Rücken streckten sich paarweise und legten sich um sie, als schlössen sie sie in einen Kokon aus versilbertem Chrom ein. Das Klicken Hunderter nasser Mandibeln war zu hören. Es übertönte das Rauschen des Windes in den Bäumen und das trockene Rascheln fallender Blätter. Das beschädigte Glied zuckte heftiger. Nun stiegen doch ein paar blau-weiße Funken darüber auf und erhellten ihr Gesicht.

»Wie eigenartig es ist, meine Haut nicht zu tragen!« Sie rieb sich andächtig die Knie. »Und erste Blüte, steh mir bei, wie es riecht! Natürlich hab ich mich alleine in meinem Zimmer gehäutet, aber das war etwas ganz anderes …«

»Hast du … Gefühl darin?« Kin deutete auf die Spinnenglieder. »Sind sie empfindsam wie dein Fleisch?«

»Nein. Aber in meinem Kopf kann ich sie fühlen.«

»Tut dir der beschädigte Arm weh?«

»Er macht mir Kopfschmerzen.« Sie zuckte mit allen Schultern. »Aber damit muss ich leben.«

Kin sah sich in ihrer kleinen Zelle um. Das eiserne Schloss an der Tür war beschlagen, so schwül war es. Auf Ayanes Stirn perlte Schweiß. Er musste daran denken, wie er selbst hier eingesperrt gewesen war: Seine Verbrennungen waren noch frisch gewesen, und er hatte furchtbare Schmerzen gehabt. Einsam hatte er hier gelegen, seinen eigenen Atemzügen gelauscht und die endlosen Minuten gezählt.

»Ich hab Werkzeug hier.« Er deutete auf seinen Gürtel. »Ich könnte versuchen, deinen Arm zu reparieren.«

»Bringt dich das nicht in Schwierigkeiten?«

»Sie haben gesagt, dass du nicht aus der Zelle raus darfst. Du bleibst ja drin.«

»Kin-san, ich möchte nicht, dass du meinetwegen Ärger bekommst …«

Aber er holte bereits Werkzeuge aus seinem Gürtel. Er lächelte sie an und hielt einen Schraubenzieher hoch. »Dreh dich um. Lass mich mal gucken, was ich tun kann.«

Sie setzte sich zu ihm, den Rücken den Gitterstäben zugekehrt. Er kniete auf der anderen Seite. Die gedämpften metallischen Klänge der Werkzeuge schwebten zwischen ihnen in der Luft. Seine Finger tanzten über kompliziertes Räderwerk, und dabei wurde ihm klar, wie sehr ihm dies gefehlt hatte: die Sprache der Maschinen zu sprechen. Wie schön sie war! In ihrer Poesie. Ihrer Absolutheit. Es war eine Welt, die von unveränderlichen Gesetzen bestimmt wurde. Eine Welt der Masse und Energie, der Formeln und Kalibrierungen. So viel einfacher als die fleischliche chaotische Welt. So unheimlich vielschichtig.

Vier Schrauben zwischen die Lippen geklemmt, murmelte er: »Fühlt sich gut an, wieder mit den Händen zu arbeiten.«

»Es wundert mich, dass du sie dir nicht längst blutig gearbeitet hast!«

»Was meinst du damit?«

Sie zögerte. Schüttelte den Kopf. »Vergib mir. Es steht mir nicht zu, mich einzumischen.«

Kin nahm die Schrauben aus seinem Mund und runzelte die Stirn. »Das stimmt nicht, Ayane. Sag mir ruhig, was du denkst.«

»Es ist nur so … Dein Wissen könnte das Leben hier so viel einfacher machen …« Das Mädchen zitterte und schüttelte den Kopf. »Aber nein. Ich bin zu Gast hier. Ich weiß gar nichts über ihre Art zu leben. Ich bin lieber still.«

Kins Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ayane, die Gilde kann dir nichts mehr tun. Du hast alles hinter dir gelassen … Die Inquisitoren, die in der Dunkelheit lauern; die Kyōdai, die dich bestrafen; die hohen Blüten, denen du Rede und Antwort stehen musst. Du kannst jetzt ganz du selbst sein und deine eigenen Entscheidungen treffen.«

»Aber dann kann ich mich auch dafür entscheiden, nichts zu sagen. Stimmt das nicht?«

»Nur warum? Du bist jetzt frei. Wovor hast du noch Angst?«

Ayane schaute ihn über die Schulter hinweg an. Ihre Spinnenglieder bebten. »Vor dem Mädchen, das alle Gildenmänner fürchten.«

Kaoris Augen hatten die Farbe von Wasser auf poliertem Stahl. Ihr Blick war scharf wie eine Schneide. »Ich kann’s nicht fassen, dass du sie hergebracht hast!«

Zu viert knieten sie ihr gegenüber, auf der anderen Seite der Feuerstelle. Die knisternden Flammen beleuchteten flackernd ihre Gesichter. Der Militärrat der Kage: harte Augen, unbewegte Mienen, schwielige Hände. Kaori gehörte natürlich zu ihnen. Sie trug schlichte, grüngefleckte Kleidung, und ihr schräger Pony fiel ihr ins Gesicht. Maro und Ryūsaki saßen nebeneinander: Die Brüder hatten breite, flache Gesichter, nussbraune Haut und Augen mit schweren Lidern, die immer so aussahen, als seien sie beinahe geschlossen. Ryūsakis Kopf war geschoren, aber dafür hatte er einen langen, geflochtenen Schnurrbart. Er lächelte nicht oft, aber wenn er es doch einmal tat, sah man, dass ihm vorne beinahe alle Zähne fehlten. Maros Haare waren zu Kriegerzöpfen geflochten, und ihm fehlte ein Auge – das linke Glas seiner Schutzbrille, die ihm um den Hals hing, war schwarz übermalt. Die beiden waren ehemalige Samurai und hatten unter Daichis Kommando gestanden. Sie waren ihm aus der Stadt Kigen in die Wildnis gefolgt. Maro führte gewöhnlich die Brandstifterangriffe auf die südlichen Lotusfelder und schien immerzu in Rauch gehüllt zu sein. Ryūsaki war ein Schwertmeister und Michis Sensei. Er hatte auch Yukiko Unterricht gegeben, wenn sie ein wenig Zeit dafür gefunden hatte.

Daichi selbst kniete zwischen den Brüdern und seiner Tochter, eine Tasse Tee vor sich. Nachdenklich strich er sich durch den langen, ergrauenden Schnurrbart. Er hatte dieselben stahlblauen Augen wie Kaori. In einer Wandnische hinter ihm lag sein altmodisches Katana. Es bildete ein Paar mit dem Wakizashi, das er Kaori gegeben hatte, und steckte ebenfalls in einer schwarz lackierten Scheide, die mit wunderschönen goldenen Kranichen bemalt war.

Yukiko massierte sich die Stirn. Ihr Kopf schmerzte, und es kam ihr so vor, als steckten scharfe Splitter in ihren Augäpfeln. Ihr war übel; Daichis Haus schien wie ein Himmelsschiff im Sturm zu schwanken. Obwohl sie versucht hatte, sich vor dem Gespür zu verschließen, nahm sie Buruu deutlich wahr, der draußen auf sie wartete: ein geisterhaftes Inferno, das vor ihrem inneren Auge brannte.

»Hätte ich sie nicht hergebracht, hätte ich sie umbringen müssen, Kaori.«

»Na und?«, fauchte Kaori.

»Ein hilfloses Mädchen mit gefesselten Armen bringe ich nicht um.«

»Mädchen? Dass ich nicht lache! Das ist kein Mädchen, sondern ein verfluchter Gildenmann!«

Pfefferminztee. Brennendes Zedernholz. Altes Leder, Schwertöl und getrocknete Blumen. So viele verschiedene Gerüche. Ein Parfüm, das Daichis Wohnraum füllte und ihr in Brust und Kopf zu kriechen schien. Überwältigend. Scharfkantig und spitz in ihrem Schädel. Beinahe glaubte sie, verschmortes Fleisch zu riechen und zu hören, wie ihre eigene Haut unter der glühenden Klinge brutzelte, die Daichi gegen ihre Tätowierung drückte.

Abrupt stand sie auf und ging zum Fenster hinüber. Das flüsternde, kichernde Feuer verbreitete eine bedrückende Hitze, die in jeden Winkel drang. Es ließ verkohlte Holzscheite bersten und blies Rauch durch das alte Ofenrohr aus Messing. Sie stieß die Fensterläden auf und atmete tief die frische, regenschwere Luft ein.

Daichi beobachtete sie aufmerksam. Verhaltene Sorge war in seinen Augen zu lesen.

»Du kannst mir glauben, dass ich die Gilde aus vollem Herzen verabscheue, Kaori.« Yukiko wandte sich vom Fenster ab und schaute von einem Ratsmitglied zum nächsten. »Aber ich bin nicht sicher, dass ich eine Schlächterin sein möchte.«

»Ach nein?«, fragte Kaori. »Was würden wohl die Mannschaften der Kriegsschiffe dazu sagen, die du erst vor ein paar Tagen vom Himmel geholt hast?«

»Das war etwas vollk…«

»Wir alle tun, was getan werden muss, Sturmtänzerin!«, fuhr Kaori sie an. »Da bist du keine Ausnahme. Wenn das hier vorbei ist, klebt jedem von uns Blut an den Händen. Der Lotus muss brennen!«

Yukiko warf Daichi einen Blick zu. Sie erwartete, dass der alte Mann sich einmischen würde, doch er sah auf seine Hände hinunter und schwieg.

»Ich wollte mich mit euch beraten, ehe ich eine endgültige Entscheidung treffe.« Yukiko wischte sich ihre feuchten Handflächen am Hakama ab. »Sie stellt hier keine Gefahr für uns dar. Ohne ihre Haut kann die Gilde sie nicht orten … Kin hat mir das versichert.«

»Und du traust ihm?« Maro schnaubte.

»Selbstverständlich.« Yukikos Stimme war eisig wie ein Wintermorgen. »Er hat mir das Leben gerettet. Ihm traue ich mehr als dir.«

»Eine Schlange, die ihre Haut abstreift, ist immer noch eine Schlange.«

»Dem Jungen fehlt es an innerer Stärke«, sagte Kaori. »An Feuer. Er ist der geborene Verräter.«

»Wie kannst du so was sagen?« Yukiko spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Sie konnte nicht anders, als an den Kuss auf dem Friedhof zu denken. »Er hat alles aufgegeben, nur um hierherzukommen!«

»Bei dir wollte er sein«, erwiderte Kaori, »mehr nicht. Die Revolution ist ihm egal. Würdest du uns verlassen, wäre auch er morgen fort. Du bist der Grund, dass er hier ist, Sturmtänzerin. Sieh der Wahrheit ins Gesicht.«

Yukiko holte Atem, um ihr zu antworten, wusste dann aber nicht, was sie sagen sollte.

Was ich auch getan habe … Alles. Du bist der Grund dafür. Der erste und einzige Grund.

»Es geht jetzt nicht um den Jungen«, knurrte Sensei Ryūsaki in die angespannte Stille hinein. »Es geht um den Gildenmann und was wir mit ihm machen.«

»Wir erschlagen ihn«, sagte Maro ausdruckslos. »Er und seinesgleichen sind ein Fluch. Der Lotus muss brennen.«

»Vielleicht hast du sogar recht«, sagte Yukiko.

Überrascht starrten die Ratsmitglieder sie an.

Sie zuckte mit den Schultern. »Kann ja sein, dass ich herzlos bin. Aber das ist immer noch besser, als naiv zu sein …«

»Und was, wenn das Mädchen die Wahrheit sagt?« Daichis Tonfall war schneidend. »Was, wenn es noch andere wie sie in der Gilde gibt?«

»Unmöglich!«, entfuhr es Kaori.

»Es ist noch nicht lange her, da waren auch Arashitora ein Ding der Unmöglichkeit«, sagte Daichi rau wie Doleritgestein. »Und nun seht euch das prächtige Tier da draußen an!«

Die Ratsmitglieder blickten durch die offene Tür. Der Donnertiger lag ausgestreckt im Regen auf der Terrasse. Müßig zertrümmerte er einige Bretter mit seinen Klauen. Sein Gähnen ließ den Boden erbeben.

SAG IHNEN, WIE UNHÖFLICH ES IST, SO ZU GLOTZEN. DAS MACHT MAN NICHT. NICHT EINMAL IM ANGESICHT WAHRER PRACHT.

Pst! Götter, bist du laut! Schlaf weiter.

Der Donnertiger gab sich die größte Mühe, sich zurückzunehmen, um ihr nicht wehzutun. Nur ganz vorsichtig sandte er ihr seine Gedanken. Und obwohl noch immer ein scharfes, knisterndes Rauschen seine Worte untermalte, hatte sich wenigstens die Lautstärke auf einem erträglichen Niveau eingependelt.

IN DEINEM GEIST HERRSCHT SO VIEL LÄRM. WIE SOLL ICH DA SCHLAFEN?

Möchtest du vielleicht deine Meinung zu all dem loswerden?

DURCHAUS. ABER EINEN AUGENBLICK WILL ICH MICH NOCH IN MEINER EIGENEN PRACHT SONNEN … DAS HAT DAICHI DOCH SCHÖN GESAGT, FINDEST DU NICHT?

»Vater, du meinst doch nicht, dass wir ihm trauen sollen!« Kaori legte dem alten Mann eine Hand aufs Knie.

Daichi trank einen Schluck Tee und räusperte sich. »Wir sollten sorgfältig abwägen, ob es sein könnte, dass das Mädchen die Wahrheit sagt, das ist alles. Stellt euch vor, was es für uns bedeuten würde, könnten wir das Feuer der Rebellion innerhalb der Gilde entfachen. Welchen Schaden wir damit anrichten könnten. Das Mädchen könnte die Geheimwaffe sein, mit der wir den verfluchten Chi-Händlern das Geschäft ein für alle Mal verderben.«

Yukiko begegnete dem Blick des alten Mannes. »Ich bezweifele stark, dass wir uns auf irgendetwas verlassen können, was sie sagt.«

»Ach tatsächlich, Sturmtänzerin? Und doch sagst du uns im selben Atemzug, wir sollten deinen Kin als einen der unseren ansehen?«

AHA! MEINE REDE.

Yukiko zuckte zurück, als wolle sie einem Schlag ausweichen. Zu laut!

Buruu riss sich zusammen und zog sich in seinen eigenen Geist zurück, bis die Verbindung zwischen ihnen nur noch ein dünner Faden war.

ENTSCHULDIGE. ICH MUSS GAR NICHTS SAGEN, WENN DER ALTE DASSELBE DENKT WIE ICH. SOLL ER NUR REDEN. ICH LIEGE EINFACH IN STILLER PRACHT HIER DRAUẞEN.

»Ich wollte, du würdest mich nicht so nennen.« Yukiko verschränkte die Arme vor der Brust und beachtete den selbstgefälligen Donnertiger nicht weiter.

»Sturmtänzerin?« Daichi sah sie mit erhobenen Augenbrauen über den Rand seiner Teeschale hinweg an.

»So heiße ich nicht.«

»Aber du bist die Sturmtänzerin.«

»Wie ihr mich alle anseht … Als würdet ihr erwarten, dass jeden Augenblick Blitze aus meinen Fingern zucken oder unter meinen Füßen Blumen sprießen. Ich hab überhaupt noch nichts vollbracht, aber ihr tut so, als hätte ich die Welt gerettet!«

»Du hast den Menschen Hoffnung gegeben«, sagte Daichi. »Das ist nicht nichts.«

»Gefährlich ist es.«

»Es scheint mir gefährlicher, ein Mädchen für seine Vergangenheit hinzurichten.«

»Bei allen Göttern, Daichi! Als wir zum ersten Mal hier waren, wolltest du Kin aus dem gleichen Grund erschlagen! Und mich, weil dir meine Tätowierung nicht gefallen hat.«

»Vielleicht habe ich ja seitdem etwas dazugelernt … Von einem neuen Sensei.« Daichi lächelte. »Und du sagst, du hast noch nichts vollbracht.«

Stumm starrte Yukiko den Alten an. Lange war es noch nicht her, da hatte sie in eben diesem Zimmer über ihm gestanden und ihm ihre Messerklinge an die Kehle gedrückt. Und er hatte verlangt, sie solle ihn umbringen. Doch jedes Mal, wenn Daichi den Mund aufmachte, überraschte er sie. Jedes Mal kam eine neue Facette zum Vorschein. So sehr er die Gilde und die Regierung auch hasste – sein scharfer Verstand erlaubte es ihm, die Zügel fest in der Hand zu behalten. Sie konnte verstehen, warum die Kage ihm folgten. Warum sie für seine Zukunftsvision alles riskierten.

Er war ein geborener Anführer – und sie? Nur der Wunsch nach Rache trieb sie an. Die Erinnerung an den Tod ihres Vaters. Ihre Hände, warm und klebrig von seinem Blut. Roter Schaum auf seinen Lippen. Die Bilder brachen über sie herein, standen ihr vor Augen und pulsierten im selben Rhythmus wie der Schmerz, der ihren Schädel zu sprengen drohte.

»Kommt euch das nicht ungleichgewichtig vor?« Daichi hustete heftig, räusperte sich und schaute von einem Ratsmitglied zum nächsten. »Den Jungen zu verschonen, das Mädchen aber nicht?«

»Dann bringen wir sie eben beide um«, sagte Kaori.

Yukiko rieb sich die pochenden Schläfen und schloss die brennenden Augen. Um sich her spürte sie die unzähligen glühend heißen Lebensfunken der Waldtiere. Ihre unruhigen, geschäftigen Geister brandeten gegen ihren eigenen – ein unermüdliches Bombardement, ein Tosen. Siedendes Wasser, das sich über sie ergoss. Und während sie gegen die lodernden Feuer in ihrem Kopf kämpfte, merkte sie – zuerst erschrocken, dann zunehmend entsetzt –, dass sie über das Gespür noch etwas anderes wahrnahm.

Etwas anderes als die flattrigen Gedanken der Vögel, die schwachen, verstohlenen Impulse kleiner, warmer Geschöpfe und den sengenden Herzschlag des Donnertigers vor der Tür.

Sie spürte die Kage.

Verschwommen und undeutlich, wie Zusammenballungen aus Hitze und Licht. Fremdartige Gestalten in ihrem Geist, die Gefühle ein verstricktes Gewirr, undeutbar. Sie waren überall, als könne Yukiko sie, nachdem sie sie einmal bemerkt hatte, nie wieder übersehen. Benommen erinnerte sie sich daran, wie sie auf dem Marktplatz nach Yoritomos Geist gegriffen hatte. Wie schwer es gewesen war, ihn festzuhalten – wie feiner Sand war er ihr durch die Finger geronnen. Doch jetzt konnte sie mühelos jeden einzelnen Menschen im Dorf spüren. Wie ein tiefes Summen, in das eine Person nach der anderen einfiel, bis die ganze Welt ein einziger, gestaltloser Ton war. Sie beugte sich vor, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, und blinzelte heftig. Buruu sprang auf und winselte.

SCHWESTER?

»Geht es dir gut, Sturmtänzerin?« Daichis Stimme war nur ein raues Flüstern, obwohl er noch einen Schluck von seinem Tee genommen hatte.

Sie strich sich die Haare aus der Stirn. Ihre Fingerspitzen fühlten sich wie Vorschlaghämmer an. Verzweifelt versuchte sie, sich zu verschließen, den Krach und die Hitze auszusperren.

Ihr Götter, was stimmt nicht mit mir?

»Yukiko«, sagte Daichi. »Ist alles in Ordnung?«

Sie atmete tief durch. Die Welt war still geworden, aber es war eine angespannte Stille. Wie bei einem Tsunami: Die Wellen zogen sich zurück, würden aber jeden Augenblick wieder auf sie zurollen, riesenhaft, und sie stand am Strand, in ihrem Schatten, winzig wie ein Insekt.

»Ich habe Kopfschmerzen, Daichi-sama.«

»Vielleicht solltest du dich etwas ausruhen?«, schlug Kaori vor.

»Wie das?« Sie sah die ältere Frau an, außer Atem, als sei sie gerannt. »Die Lotusgilde will die Kazumitsu-Dynastie neu erstehen lassen, und du redest davon, Kin umzubringen? Wir sollten über Hiro sprechen. Über die Hochzeit. Was machen wir, um diese Sache aufzuhalten?«

»Die Zelle in der Kuro-Straße befasst sich damit«, sagte Kaori. »Wir haben jemanden im Palast. Bis zur Zeremonie sind es noch Wochen. Beruhige dich.«

»Ich bin ruhig!«

»Yukiko …«, sagte Daichi.

SCHWESTER.

»Nein, verdammt noch mal!«, brüllte sie. »Vor ein paar Tagen noch war das ganze Volk bereit, sich zu erheben, und jetzt legt ihr die Hände in den Schoß, während uns alles entgleitet …«

»Yukiko!«

Auch Daichi schrie. Seine heisere Stimme war wie eine Ohrfeige. Mit Mühe hielt sie sich zurück und schnappte nach Luft. Buruus Sorge umspülte sie. Die Welt pulsierte, die Gedanken aller Anwesenden rannten gegen ihre bröckelige kleine Schutzmauer an.

»Was?«, zischte sie.

»Dir läuft Blut aus den Ohren«, sagte Daichi.

Er hatte recht – sie konnte fühlen, wir ihr das Blut warm und zähflüssig über die Seiten des Halses rann. Dunkle Flecken explodierten vor ihren Augen, kleine schwarze Löcher mit verheerender Gravitation, die sie zu verschlingen drohten. Buruu füllte den Türrahmen aus. Seine Gedanken waren ein Sturm in ihrem Geist, Donnerschläge unterbrochen von blendend weißen, knisternden Blitzen. Sie rang nach Atem. Eng, es war so eng, sie hatte keinen Platz in ihrem eigenen Kopf. Keinen Augenblick Ruhe.

Erneut brachen die gewaltigen Wellen über sie herein.

Die Wände bebten, der Boden bäumte sich auf. Sie sank auf die Knie, die Hände gegen die Schläfen gedrückt. Kleine Gegenstände regneten von Daichis Regalbrettern. Schachfiguren rollten über die Dielen. Die Ratsmitglieder waren auf den Beinen und riefen durcheinander. Yukiko konnte sich nicht gegen den Ansturm ihrer Gefühle und Gedanken wehren – sie strömten in sie hinein, und wie zur Antwort strömte rotes Blut aus ihrer Nase. Eine Teeschale zersprang auf den Dielen. Daichis Schwert fiel aus seiner Nische. Draußen schrien die Dörfler, als die Bäume heftig zu schwanken begannen. So viele Gedanken, ein verworrenes Gestrüpp aus Dornenranken; Wortfetzen, Hoffnungen, Ängste (Götter, ihre Ängste!), alles, was sie waren, hätten sein können, sein wollten, das alles stürzte auf sie ein, füllte sie aus und zog sie hinab, tiefer, immer tiefer in die Finsternis.

YUKIKO!

Buruu, hilf mir!

WAS TUST DU DENN?

Ich kann sie nicht draußen halten!

Es war, als erhöbe sich auf schwarzen Schwingen jenes vergessene Ungeheuer, das einst in der Dunkelheit gelauert hatte – zu einer Zeit, als ihre Decke noch eine Rüstung und die Stimme ihres Vaters das einzige Schwert gewesen war, das die Schrecken der Nacht zurückschlagen konnte. Doch er war fort, verbrannt auf dem Scheiterhaufen. Stand vor dem großen Richter, König Enma. Sie konnte ihn vor sich sehen: Die Asche der Opfergaben beschmierte sein Gesicht, die ausgezehrte Haut hing ihm lose von den Gliedern, schwarzes Blut rann noch immer aus dem Loch in seinem Hals. Sie drückte die Hände davor, um die Blutung zu stillen, doch die Wunde war zu tief. Es war längst zu spät. Hitze, fremde Gedanken und Schreie – der Tsunami hatte sie mit sich gerissen. In der Finsternis spürte sie Buruu, der verzweifelt versuchte, sie zu erreichen. Er war ein Leuchtfeuer in ihrem Geist.

HALT DICH AN MIR FEST!

Buruu!

HALT DICH AN MIR FEST, SCHWESTER!

Ein Flechtwerk aus Adern auf der Rückseite ihrer Augenlider, dahinter flackerndes Licht.

Sie griff nach ihm, ihrem Felsen, ihrem Anker. Er war das Einzige, an das sie sich in diesem zornigen Mahlstrom klammern konnte.

Er legte die Flügel um sie, Ozon, Federn und Wärme, weich wie Decken.

Sie stürzte in die Dunkelheit.

Der Lotuskrieg 2 - Kinslayer

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