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Sechstes Kapitel
ОглавлениеEinige Stunden waren vergangen. Ich war nach Båstad hinuntergefahren, um mich umzuziehen.
Mein unvollendetes Selbstporträt starrte mir höhnisch entgegen. Ich hatte das Gefühl, die Noijbes zermalmen zu müssen, bevor ich es fertigmalen konnte.
General Noijbe wurde zum Abendessen erwartet. Zum erstenmal sollte ich Aug in Auge mit dem Manne stehen, der mein Leben geprägt hatte.
Es gab einen Traum, den ich immer wieder träumte: Mein Vater radelt auf einem verschneiten Landweg. Die ganze Landschaft ist weiß. Auch das Gesicht meines Vaters ist weiß, und er blickt mir entgegen. Ich selbst befinde mich hoch oben und betrachte alles gleichsam von einer Anhöhe aus. Oder durch eine Glasscheibe.
Da entdecke ich auf dem Weg eine Katze. Sie ist noch weißer als die Landschaft. Eine titanweiße Katze in einer zinkweißen Landschaft. Die Katze ist klein, aber sie wächst. Zuerst langsam, dann immer schneller. Sie löscht alles aus, den Boden, das Fahrrad, meinen Vater ... Alles ist weiß und die Luft so verdünnt, daß ich nicht genug Sauerstoff in die Lungen bekomme. Ich erwache und schnappe nach Luft. Das Herz schlägt wild in meiner Brust. Furchtbare Angst beschleicht mich, und ich rufe: Papa, Papa, wo bist du?
Schuldgefühl. Ich trank mehr und mehr. Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen. Die endgültige Katastrophe an einem eiskalten Frühjahrsabend in Uppsala. „Hören Sie, ich habe ihn ermordet. Hören Sie mich nicht? Hören Sie mich nicht?“
Das Jahr in der Heilanstalt. Das Bewußtsein, das während des Traumes wachblieb, wurde immer seltener. Als ich entlassen wurde, war ich auf dem Weg, ins Gleichgewicht zu kommen. Aber ich mußte Bescheid wissen. Mußte vollständige Klarheit gewinnen. Und meine Mutter sah mich mit einem Gesicht an, das in fast vierzigjähriger Einsamkeit gealtert war. „Es sind die Noijbes. Ich hasse sie, Dan. Du mußt sie auch hassen. Das bist du deinem Vater schuldig. Und mir. Und dir übrigens auch.“
Nachdem ich den Blick meines mißglückten Selbstporträts wütend zurückgegeben hatte, ließ ich zum zweitenmal an diesem Tage meinen Saab zum Haus der Noijbes auf dem Hallandhügel hinaufschnurren. Die grünen Laubvorhänge öffneten sich plötzlich, und ich sah das türkis- und ultramarinfarbene Wasser der Laholmsbucht endlos unter mir liegen. Licht und Schatten tanzten über die halländischen Ebenen. Es war ein wenig neblig geworden. Die Farben wurden gedämpft und veränderten sich mit der Lichtstärke. Sollte der sonnige Tag mit Regen enden?
Auf dem Vorplatz standen mehrere Wagen. Marianne Bundins rote Hundehütte. Beatrices linienschöner, elfenbeinfarbener Jaguar. Erlands weißer Triumph Spitfire. Und ein großer Mercedes, noch größer und glänzender als der, mit dem Irma am Nachmittag gekommen war.
Das mußte das Auto des Generals sein. Ich war ein bißchen enttäuscht. Ich hatte einen Lincoln oder einen Rolls-Royce erwartet.
„Guten Abend, Dan. Herzlich willkommen. Erlauben Sie, daß ich Sie mit meinem Vater bekannt mache.“
Beatrice war auf mich zugetreten. Ich vermochte nicht zu entscheiden, ob sie nur die gewöhnliche Liebenswürdigkeit der Gastgeberin entfaltete oder ob ihr Ton mehr enthielt. Auf jeden Fall fehlte der spontane Kontakt, den ich bei unserer ersten Begegnung gefühlt hatte. Aber es lag etwas anderes vor. Erwartung?
Der General war groß und hager. Er hatte ein weißes Schnurrbärtchen unter einer Stupsnase, und das glatte weiße Haar war in der Mitte gescheitelt. Seine Gesichtsfarbe war ziemlich bleich, die dünnen Lippen hatten einen bläulichen Ton.
Er sah aus wie der gebieterische gestiefelte Kater in meinem alten Märchenbuch.
Beatrice stellte mich ihm vor: „Das ist Dan Johansson, Papa. Er ist ein hervorragender Kunstmaler. Ein guter Freund von Marianne Bundin.“
Der General nahm meine Hand und drückte sie stumm. Dann machte er eine Bewegung zum Fenster hinüber und bemerkte mit Bezug auf den strahlenden Sommerabend: „Warum malt man Bilder, Herr Johansson? Kann mir nichts Unnötigeres denken. Wenn die Natur an sich so schön ist, daß sie sich nicht übertreffen oder nachschaffen läßt.“
Der Mann, der meiner Überzeugung nach meinen Vater ermordet hatte und dessen Ehre und Stellung ich anzuschwärzen oder niederzureißen gedachte, hatte zuerst angegriffen.
Er hatte tatsächlich schon vor dem Kampf mit dem Händeschütteln zugeschlagen.