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Achtes Kapitel
ОглавлениеWie gewöhnlich kreisten Erinnerungen in meinem Kopf, als ich in Båstad in der Hotelbar saß. In die Erinnerungen mischte sich die unüberwindbare Angst.
Wie ich Beatrice gesagt hatte, trank ich keinen Alkohol mehr, schon seit mehreren Jahren. Dennoch zog es mich ins Wirtshausmilieu. Oft saß ich an einer Bar und trank Tomatensaft. Wenn mich jemand nach dem Grund fragte, konnte ich keine Erklärung abgeben. Vielleicht lag es nicht nur an der Umgebung, sondern ich wollte mich wohl auch erneut auf die Probe stellen.
Über dem Städtchen Båstad lag Dunkelheit. Einige Jünglinge in ausgebleichten Jeans und kragenlosem Hemd lungerten an der Bar herum. Über ihnen leuchtete eine fantastische Lampe in Braun und Gold. So etwas wie ein Eichenblatt bildete zusammen mit eigenartigen Blumen einen auf- und abwärtsgewundenen, sich auflösenden Haken.
An der Wand hinter den drehbaren Barstühlen zeigte eine Uhr unveränderlich auf zehn vor acht.
Nach der Entladung bei den Noijbes fühlte ich mich zerschlagen. Es war ja meine Schuld, daß das Geburtstagsfest verdorben worden war. Ich hatte es absichtlich gestört, wenn auch aus Pflichtgefühl und aus dem inneren Drang, etwas zu erfahren und mich zu rächen. Aber es war etwas dazwischengekommen. Ich liebte Beatrice ... oder etwa nicht?
Die Erinnerungen umgaben mich, und ich versuchte mir zu erklären, warum ich so war, wie ich war. Ich hatte die geschwätzigen Monologe schon hundertmal gehört, ohne Klarheit zu gewinnen.
Die Erinnerung ...
Mein Vater war Gendarm in Strålnäs, einer kleinen Ortschaft an der Eisenbahnlinie im südlichen Ostgotland, nahe bei der Grenze von Småland. Das Kirchspiel heißt Asbo. Das schöne Asbotal hat der schwedische Dichter Per Atterbom, der hier Ende des achtzehnten Jahrhunderts aufgewachsen ist, in seinen Gedichten besungen.
Woran erinnert man sich aus den ersten Jahren? Erinnert man sich wirklich, oder sind es vielleicht die Dinge, die einem die Eltern erzählt haben?
Jedenfalls glaube ich, daß ich mich deutlich an den Tag Ende des Jahres 1935 erinnere. Es hatte geschneit. Ich war draußen rodeln gewesen. Ich besaß einen solchen Holzschlitten, wie man sie früher hatte: aus unbemaltem gräulichem Holz, mit Eisenkufen. Zu Beginn des Winters war das Eisen rostig, und wenn man damit fuhr, hinterließen die Kufen braune Spuren im weißen Schnee.
Als ich die Diele unseres Hauses betrat, kam die weiße Katze herbeispaziert. Ohne jeden Grund bekam ich Lust, dem friedlichen Tier böse mitzuspielen, und ich wollte es am Schwanz hochheben. Die Katze schoß hin und her, während ich ihr nachjagte. Gerade als ich sie am Schwanz gepackt hatte, wurde die Küchentür geöffnet, und Mutter kam in die Diele.
Sie war damals noch jung. Ich weiß noch, wie weiß ihr Gesicht war, als sie sagte: „Dan, Vater ist tot. Er hat sich das Leben genommen!“
In diesem Augenblick brach meine Kindheitswelt auseinander. Vielleicht spaltete sich auch meine Persönlichkeit. Spaltete sich unmerklich und unwahrnehmbar, so daß es viele Jahre dauerte, bis man herausfand, daß ich ein zerrissener Mensch war.
Vater hatte, wie er Mutter mitteilte, einen Telefonanruf erhalten und war daraufhin nach Boxholm geradelt. Ich sehe ihn vor mir, wie er in dem starken Schneefall verschwindet; aber dieses Erinnerungsbild ist wahrscheinlich eine Konstruktion. Ich vermute, daß ich ihn in Wirklichkeit nicht fortradeln sah. Mit Sicherheit weiß ich nur, daß ich rodelte, während er sich auf den Weg machte.
Ungefähr eine halbe Stunde später wurde er am Straßenrand gefunden. Er hatte sich erschossen. Der Revolver lag neben ihm.
Man wunderte sich zwar, daß er nicht seine Dienstpistole benutzt hatte, aber das erklärte man sich damit, daß er in seiner Beamtenredlichkeit nicht das Material des Staates zum Selbstmord hatte verbrauchen wollen. Die Möglichkeit, daß er sich nicht selbst erschossen hatte, sondern ermordet worden war, konnte nicht ganz ausgeschlossen werden.
Nach Vaters Tod zogen wir von Strålnäs nach Tågby. Mutter arbeitete beim Fernsehen, und sie brachte es fertig, mich trotz ihrem geringen Einkommen in eine private Mittelschule zu schicken. Aber diese Chance wurde mir genommen ...
Ich war mir mittlerweile bewußt, krank zu sein. In mir war ein Zwang, den ich selbst unrealistisch und dumm fand, gegen den ich aber nichts tun konnte. Nacht für Nacht träumte ich von Vater, der im Schneefall fortradelte, und von der weißen Katze, die wuchs und wuchs, bis keine Luft mehr zum Atmen da war.
Die Aufführung des Stückes von August Blanche wurde zu einem schlimmen Wendepunkt in meinem Leben. Der Schwedischlehrer schilderte, wie er gestorben war, als er bei der Einweihung eines Denkmals für Karl XII. am hundertfünfzigsten Jahrestag des Todes dieses Königs in Stockholm eine Rede halten sollte.
Damals wußte ich es noch nicht, aber später stellte ich fest, daß er am gleichen Tag und im selben Monat wie mein Vater gestorben war. Möglich, daß dieses Zusammentreffen mich aufbrachte, obwohl es mir nicht bewußt war.
Als dann der Tod mit seiner grausigen Maske auf die Bühne kam, klappte ich zusammen. Für meine Kameraden war das natürlich eine größere Sensation als die ganze Theatervorstellung. Mit der Unbarmherzigkeit der Kinder zogen sie über mich her und machten sich herzlos über mich lustig.
Ich verlor alles Interesse an der Schule und fiel im Frühjahr in fünf Fächern durch. Mein Klassenlehrer sagte, ich sei ein fauler Nichtsnutz und hätte sein Vertrauen mißbraucht.
Meine Mutter sagte, ich hätte sie enttäuscht.
1948 wurde ich eingezogen. Ich bekam einen Nervenzusammenbruch und wurde entlassen.
„Dein Vater war ein tüchtiger Soldat“, sagte meine Mutter, als ich heimkehrte.
Aber mein Vater war seit dreizehn Jahren tot. Der Mensch, der ihn getötet hatte, lief frei herum. Und ich, sein Sohn, war nicht stark genug, ihn zu rächen. Zum erstenmal seit fünfundzwanzig Jahren war ich nun auf dem Weg, das zu tun, was ich mußte.
Rache üben.