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Siebentes Kapitel
Оглавление„Liebe Beatrice“, sagte der General, als wir später am Abend mit dem ausgezeichneten Essen fertig waren. „Die Jahre vergehen. Merkt man es nicht selbst, so begreift man es, wenn das eigene Kind herangewachsen und ein reifer Mensch geworden ist.“ Mit einem Blick auf Erland verbesserte er sich: „Ein mehr oder weniger reifer Mensch.“
Nach einer Pause fuhr er fort: „Na ja, jedenfalls erinnere ich mich gut an den Tag, an dem du geboren wurdest. Das war 1930 während der Ausstellung in Stockholm. Ich meine die berühmte Funkausstellung. Einige von uns waren hingefahren, um all das Neue, eingehend Beschriebene zu sehen. Ja, Mariannes Vater, der Doktor, und auch dein Onkel Tor, der Forschungsreisende, waren eigens mitgekommen. An diesem Tag lernten wir übrigens deine Patin Irma kennen. Das war der Grund, daß sie deine Patin wurde.“
Draußen vor den Fenstern zog sich der Nebel mit einem Stich ins Kobaltblau zusammen, und die ersten Regentropfen klopften an die Scheiben. Die kleinen Papageien bewegten sich unruhig in ihrem Bauer und zwitscherten neurotisch.
„Tor und ich waren damals junge Leutnants, und wir hatten gerade Svea Livgardes Konzert gehört, als es mir in den Sinn kam, in Linköping anzurufen, um zu erfahren, wie es deiner Mutter ging. Und da sagte man mir, ich sei Vater geworden. Ich hätte eine Tochter, die über drei Kilo wog, und ihr beide, du und deine Mutter, wäret wohlauf. Das war der freudigste Augenblick in meinem Leben!“
Erland schnitt eine Grimasse. „Als ich geboren wurde, war es natürlich keine große Sache.“
„Red keinen Unsinn“, verwies ihn der General. „Ich meine selbstverständlich, es war bis dahin das freudigste Ereignis. Fünf Jahre später war ich auch sehr glücklich. Da bekam ich einen Sohn. Aber das ist eine andere Geschichte.“
„Wo warst du damals, Papa?“ fragte Erland, dessen Interesse sofort erwachte.
„Das war 1935 während des großen Manövers oben in Norrland. Das war auf seine Weise auch ein denkwürdiges Ereignis. Der Kronprinz kam zur Inspektion, er war da, als wir uns nachmittags im Stabszelt einfanden. Der Oberst, ein alter Biedermann, ließ mich vortreten und sagte: ‚Königliche Hoheit, das ist Hauptmann Noijbe. Er hat heute einen Sohn bekommen.‘ Ich faßte mir ein Herz und fragte: ‚Erlauben Eure Königliche Hoheit, daß ich meinen Sohn Gustav Adolf nenne?‘ Er lachte und nickte gnädig. Darum heißt du Erland Gustav Adolf Noijbe, mein Sohn.“
„Das klingt sehr patriotisch“, bemerkte Erland. „Soviel ich weiß, wurde in einer Zeitung darüber geschrieben.“ Der General nickte mit zufriedener Miene. Ich fand die Beziehung zwischen ihm und seinen Kindern sonderbar. Sie hielten eine unpersönliche und gefühllose Distanz.
„Es war für mich beide Male ergötzlich, Vater zu werden“, sprach der General weiter. „Bei der Ausstellung in Stockholm zogen wir in eins der Restaurants und stießen mit Sekt an.“
Erland, der sich deutlich für nichts anderes als sich selbst interessierte, hörte nicht mehr zu. Statt dessen ergriff er den Silberbecher mit den Blumen, der mitten auf dem Tisch stand, und betrachtete ihn. Beatrice bekam dann einen langen Blick ab. Aber sie schaute geflissentlich ihren Vater an, dessen Rede kein Ende zu nehmen schien.
„Sehen Sie sich das an“, flüsterte er mir über Marianne zu, die zwischen uns saß. „Sie hat den Becher ausgetauscht.“
Damit schob er mir den Becher zu. Er enthielt immer noch dieselben Blumen wie am Nachmittag, und es war ein ähnlicher Becher. Aber er war nicht graviert. Es fehlte die Inschrift von dem geheimnisvollen Kurt.
„Als wir vier dort auf dein Wohl tranken, Beatrice, tauchte Irma auf. Oh, sie war wirklich eine entzückende Frau. Die schönste Frau, die ich je im Leben gesehen hatte, vollkommen ...“
Erland richtete sich auf und sah seinen Vater so durchdringend an, daß der General aus der Fassung geriet und plötzlich schwieg. Die Stille wirkte um so nachdrücklicher, als alle spürten, daß sich etwas Besonderes vorbereitete. Daß eine Entladung eintreten würde.
Es war unerträglich heiß geworden, und draußen hatte es sich eingeregnet. Mir klebte das Hemd am Leibe, und ich sah, daß dem General der Schweiß auf der Stirn stand. Er zog ein Taschentuch aus der Brusttasche hervor und wischte sich die Stirn ab, während er sich unbehaglich umblickte.
„Du sagtest, ihr hättet zu viert Sekt getrunken“, bemerkte Erland, „und dann wäre Tante Irma aufgetaucht. Sie gehörte also nicht zu den vier Sekttrinkern.“
„Erland!“ rief Beatrice drohend.
„Also ...“ begann der General, kam aber nicht weiter.
Erland streckte fünf Finger in die Luft. „Du warst einer der Sekttrinker“, sagte er und zählte den Daumen ab. „Zweitens der Doktor. Drittens Onkel Tor. Das macht drei. Nicht vier! Wer war der vierte?“
Angeheitert schwenkte er demonstrativ die Hand, an der er Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger abgezählt hatte. Ringfinger und kleiner Finger ragten als ein schiefes V in die Höhe.
„Ich ... ich ...“ stammelte der General.
„Ich werde dir sagen, wer Nummer vier war“, polterte Erland. „Es war Kurt von Spoor. Stimmt’s?“
Der General sackte zusammen wie ein Schneehaufen an der Märzsonne. Er sah seinen Sohn mit tiefem Abscheu an. „Ich habe ein für allemal erklärt, du sollst die alte Geschichte ruhen lassen. Sie ist tot und begraben. Ich verbiete dir ...“
Erland ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Er fuhr fort: „Und Kurt von Spoor ist ebenfalls tot und begraben. An seinem Tod war etwas Merkwürdiges, nicht wahr? Sonst würdet ihr, du und die andern, doch nicht so verzweifelt bemüht sein, nicht von ihm zu sprechen. Was ist mit ihm geschehen? Hat ihn jemand umgebracht?“
Es war, als hätte der General unsere Anwesenheit vergessen. Er starrte hölzern vor sich hin und sagte tonlos: „Wenn ich das wüßte ... Wenn ich das nur wüßte ...“