Читать книгу Wer ist dein Richter? - Jean Bolinder - Страница 15
Elftes Kapitel
Оглавление„Irgend etwas ist faul mit dem Kurt“, sagte Erland. „Fast könnte ich den Verdacht hegen, daß man ihn irgendwie umgebracht hat. Papa scheint ja selbst nicht zu wissen, ob man es annehmen soll. ‚Wenn ich es nur wüßte‘, sagte er. Wen mag er damit gemeint haben?“
„Papa wirkte niedergeschlagen“, fiel Beatrice ein. „Und er ging vorzeitig. Es war wirklich unnötig von dir, Erland, die Sache aufs Tapet zu bringen. Erst bei Tante Irma, dann bei Papa.“
Sie hatte eine sehr schöne Halslinie. Diese Linie und der Kopf mit der kecken Nase und dem energischen Kinn erinnerten mich an das berühmte Abbild der Königin Nofretete von Ägypten.
„Warum hast du die Becher vertauscht?“ fragte Marianne.
„Vertauscht!“ wiederholte Beatrice ärgerlich. „Tante Irma kam nachmittags noch einmal und verlangte ihren Becher. ‚Du bekommst ihn wieder‘, versprach sie mir. ‚Ich will nur von einem Juwelier Kurts Namen wegmachen lassen. Er soll für alle Zeiten ausgelöscht werden.‘ Ja, das sagte sie.“
Draußen gerieten ein Mann und sein Hund in den Lichtkreis einer Laterne und verschwanden in der Dunkelheit bis zur nächsten Laterne.
Erland holte sich ein neues Getränk, und Beatrice begab sich zur Damentoilette.
„Du sagtest, du wüßtest etwas von Kurt von Spoor“, flüsterte ich Marianne zu. „Was ist es genau?“
„Ich kenne ihn nur vom Hörensagen“, gestand sie, „aber mein Vater weiß viel von ihm. Ich bin ja auch aus Strålnäs. Meine Eltern verkehrten früher mit den Noijbes. Sie waren zum Beispiel bei Beatrices Taufe, und ich glaube, sie waren auch dabei, als Kurt ... starb.“
„Wo starb er?“
„Er soll auf Frälsetorp, dem Gut des Generals, an einem Silvesterabend gestorben sein. Mein Vater schrieb den Totenschein aus, aber irgend etwas beunruhigte ihn, und er grübelte jahrelang darüber nach. In den vierziger Jahren, als ich noch ein Kind war, hörte ich ihn oft Kurts Namen erwähnen. Er wird dir die Geschichte sicher gern erzählen, wenn sie dich interessiert.“
„Wo ist dein Vater jetzt?“
„Mit meiner Mutter auf Capri. Sie kommen nächsten Monat zurück. Sie leben auf ihre alten Tage jetzt wieder in Strålnäs. Dazwischen waren sie einige Jahre in Schonen. Sprich doch mit meinem Vater, wenn er zu Hause ist.“
„Worüber?“ fragte Erland, der gerade mit einem Manhattan und einer Schale Käsegebäck zurückkehrte. „Ob er Ihnen Mariannes Hand gibt? Sollten Sie da nicht lieber erst ihren angetrauten Jöran fragen? Er nimmt es vielleicht übel auf!“
Ich ging auf seinen albernen Scherz und sein schallendes Gelächter über den eigenen Witz nicht ein. Statt dessen sann ich darüber nach, wie ich an seinen Vater, den General, herankommen könnte. Offensichtlich standen Vater und Sohn nicht auf bestem Fuße, und es schien mir, daß der General Erland verachtete.
Beatrice wollte ich nicht ausnützen.
„Wir sind eigentlich aus einem bestimmten Grund hierher gekommen“, sagte Beatrice, als wir alle wieder am Tisch saßen. „Papa wird am 22. Juli fünfundsiebzig Jahre alt, und wir möchten ihm sein Porträt schenken. Hätten Sie wohl Lust, ihn zu malen, Dan? Alle Verwandten wollen sich daran beteiligen. Wir haben uns gedacht, es könnte zwischen fünf- und zehntausend Kronen kosten.“
Erland sank plötzlich über dem Tisch zusammen. Beatrice hob seinen Kopf aus der Käsegebäckschale und sagte zu ihm, er solle nach Hause gehen.
„Ich bringe ihn heim“, erbot sich Marianne. „Dann kannst du in aller Ruhe mit Dan über das Porträt sprechen.“
Erland widersprach nur mit dumpfem Gemurmel, als er abgeführt wurde. Unnatürliche Stille legte sich über unseren Tisch. Die Stimmen der übrigen Gäste hörte man bloß wie ein fernes Summen. Der Regen prasselte ans Fenster. Eine Fahne über dem Eingang schlug im Wind an die Fassade. Es roch nach Käsegebäck, Nässe und Sommer.
Beatrice und ich waren endlich allein.
„Sonderbar“, sagte ich, „ich habe das Gefühl, als wären wir uns schon früher begegnet. Vielleicht in einem anderen Leben und in einer anderen Kultur. So erging es mir schon heute nachmittag.“
„Ja, eigenartig“, antwortete sie, und ihr Gesicht strahlte wie von innen her. „Glauben Sie an Seelenwanderung?“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, fuhr sie fort: „Eigentlich ist es mir gleich, ob ich früher schon gelebt habe und wiedergeboren werde. Der Mensch, der ich jetzt bin, wird ja doch vernichtet werden. Was macht es da aus, als was man wiedergeboren wird?“
Wir schwiegen eine Weile. Dann sprach sie versonnen weiter: „Was bedeutet überhaupt das Gewesene? Zählt nicht das Jetzt? Was spielt es für eine Rolle, was sich vor tausend, vor hundert, vor vierzig Jahren ereignet hat? Das alles ist vorbei. Endgültig. Und sollte vergessen werden.“
Bat sie mich, der Tragödie Kurt von Spoor nicht nachzuforschen? Und war das großzügige Honorar für das Bild ein Bestechungsversuch, daß ich die Familie Noijbe in Frieden ließ?
Ich dachte an etwas, das meine Mutter gesagt hatte, nachdem ich aus der Heilanstalt entlassen worden war. Ich war seit einigen Tagen zu Hause und bemühte mich, Näheres über Vaters Tod zu erfahren, als ob ich immer noch nicht sicher wäre, daß ich Schuld an seinem Selbstmord hatte.
„Die Noijbes haben deinen Vater getötet“, sagte meine Mutter.
„Hat er sich denn nicht das Leben genommen?“ fragte ich.
„General Noijbe trieb deinen Vater dazu, sich das Leben zu nehmen. Der General ist ein schlechter Mensch. Er kennt keine Rücksicht auf andere. Er will immer bestimmen und seinen Willen durchsetzen. Und wenn es einen andern das Leben kostet.“
„Warum hat General Noijbe Vater in den Tod getrieben?“
„Es gab da einen Mann, der Kurt von Spoor hieß“, sagte Mutter. „Er ... er war ein Teufel, Dan. Einer von der Noijbe-Clique. Er nahm sich in einer Silvesternacht das Leben. Auf ganz unbegreifliche Weise. Kein Mensch kann erklären, wie es dabei zuging. Es war etwas ... etwas Unnatürliches im Spiel.“
Sie blickte mir fest in die Augen. „Vielleicht so etwas wie eine Schwarze Messe. Der Doktor war an dem Abend dabei, auch der Pastor, aber sie wurden an der Nase herumgeführt. Man benutzte sie nur als Zeugen, daß niemand von der Gesellschaft Kurt von Spoor getötet haben könnte. Dennoch wurde er umgebracht. Er hatte wahnsinnige Angst vor dem Tod und wollte ihm entgehen. Aber sie waren unbarmherzig und konsequent. Das waren sie auch, als dein Vater dem Fall nachging. Sie hielten gegen ihn zusammen. Die Noijbes sind teuflisch, Dan. Sie verfügen über geheime Kräfte, die kein gewöhnlicher Mensch hat.“
Beatrice fragte: „Woran denken Sie?“
„An nichts Besonderes“, log ich. „Bloß an das Porträt. Ich nehme den Auftrag gern an.“
Wir besprachen noch die diesbezüglichen Einzelheiten und brachen dann auf. Der Regen hatte aufgehört, aber von den Traufen tropfte es auf die Straße. Ein kühler Wind wehte uns in den Rücken.
Sie schritt schnell aus und sagte nichts. Mit der rechten Hand hielt sie ihren Jackengürtel fest, und sie schaute wie in Gedanken versunken zu Boden. Die Schultern waren ein wenig gebeugt, und der leichte Rock schwang um ihre sehnigen Beine.
„Wer bist du?“ dachte ich. „Eine berechnende Geschäftsfrau, die mein Schweigen erkauft hat? Eine Hexe, die für mich Tod und Vernichtung bedeuten kann? Die Frau, die ich heiraten werde?“