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Zweites Kapitel

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Ich haßte sie.

Ich mußte sie hassen. Sie war eine Noijbe, und ich haßte alle Noijbes.

„Guten Tag“, sagte sie und lachte. „Ich heiße Beatrice. Gestehen Sie ruhig, daß Sie mir gefolgt sind.“

Ich haßte sie, und doch liebte ich sie. Als sie mich anlachte, liebte ich sie. Es war, als hätte ich sie schon immer geliebt, obwohl ich sie zum erstenmal sah. Als ob wir in einem früheren Leben vereinigt gewesen und bis jetzt getrennt worden wären. Jeder war allein umhergeirrt. Wir hatten einander entbehrt, ohne zu wissen, was uns fehlte. Bis wir wieder vereinigt wurden.

„Dan Johansson“, stellte ich mich vor und reichte ihr meine farbenbekleckste Hand. „Ich hörte, daß Sie heute Geburtstag haben, und habe Ihnen eine Kleinigkeit mitgebracht.“

Es war nur eine Skizze, die ich für meinen Blitzbesuch in Nybo hervorgeholt hatte.

„Dan Johansson ist Maler, mußt du wissen“, sagte Marianne Bundin, als ob mein Geschenk irgendwie erklärt werden müßte.

„Das brauchst du nicht zu betonen“, erwiderte Beatrice. „Das sehe ich an dem Bild! Es ist richtig spannend. Ein Anschlag oder eine Andeutung von etwas Bestimmtem. Es kommt mir vor wie eine Mitteilung für mich persönlich ... ein ganz verwirrendes Geschenk, das Sie mir gemacht haben, Dan.“

Sie ließ es nicht zu, daß ich sie haßte. Als sie sprach, hätte sie mir zuwider sein müssen; statt dessen bewirkte sie, daß ich sie liebte. Trotz allem, was sie vertrat.

Das war Anfang Juni 1973. Vor dem Hause der Familie Noijbe blühte der Flieder, und der Goldregen hatte einen besonders hellen Kadmiumton. Der Hallandsche Landrücken glitt in weichen Linien zu den kecken Strandumrissen der Laholmsbucht hinab. Das Wasser war so grün, wie August Becker es zu malen pflegte, und der Horizont verschwamm indigoblau.

Absurd, an einem solchen Tag Haß zu fühlen!

Aber ich dachte die ganze Zeit an die Worte meiner Mutter: Daß die Noijbes meinen Vater umgebracht hatten. Sie waren schuld, nicht ich. Der kindliche Schrecken, den ich durchs Leben mit mir herumtrug, war unbegründet. Die Noijbes waren schuld, und ich mußte es beweisen. Ich hatte mich bei ihnen eingenistet wie ein Soldat in einem Trojanischen Pferd, und ich war mit meinem Haß bewaffnet.

Beatrice fegte mit Kaffeekanne und Kuchenschüssel herein. Sie war wie ein Frühlingshauch in einem muffigen Krankenzimmer, kühl, frisch und unehrerbietig. Ihr Körper war schmal und sehnig, das kurzgeschnittene Haar dunkel und ungebändigt. Sie konnte ein wenig ungeduldig wirken, aber hinter der Maske fand man mehr Wärme, als ihr Verhalten ahnen ließ. Die Brüste waren klein, die Schultern ausdrucksvoll. Das Gesicht enthüllte nichts von dem, was die Schultern verrieten. Mir fiel ihr feiner und doch kräftiger Nacken auf.

Sie war funktionell wie die Ausstellung in Stockholm, in deren Zeichen sie das Licht der Welt erblickt hatte.

Aber ich greife den Tatsachen voraus. Als sie den Kaffee hereinbrachte, wußte ich noch nichts von der Ausstellung. Da haßte und liebte ich sie nur.

Ihr Bruder, Erland Noijbe, betrachtete mit Abscheu die Mahlzeit. Seine Frau machte sich daran, den Kaffee einzuschenken. Sie war blond und blauäugig und hochschwanger. Sie trug ein blödsinniges Umstandskleid, das geziert kleinmädchenhaft aussah, denn es hatte Rüschen und Puffärmel.

„Soll das heißen“, meckerte Erland zu Beatrice hinüber, „daß wir dieses Rattengift ohne einen kleinen Schuß Kognak trinken sollen?“

„Du weißt, Papa kommt heute abend“, antwortete Beatrice und kramte aus einer Kommode einen X-Haken hervor.

„Na, und?“ knurrte Erland, erhielt aber keine Antwort. Bald hing meine Skizze an dem X-Haken. Darauf waren ein Stückchen Strand mit zottigen Grasbüscheln, die Silhouette einer Brücke mit blasigem Gegenlichtwasser und ein kleiner Junge, der mit einer Plastikschaufel grub. Ich hatte sie vor einer halben Stunde unter meinen Bildern in Nybo ausgesucht, und zwar mit voller Absicht, um etwas zu übergeben, das mir gleichgültig war. Jetzt merkte ich, daß ich das richtige Bild für Beatrice gewählt hatte. Sie hatte die Skizze als persönliche Mitteilung bezeichnet, und das war sie auch.

„Mir gefällt das Bild“, sagte sie. „Es ist in gewisser Weise idyllisch, hat aber einen interessanten, beunruhigenden Unterton. Als ob der kleine Junge im nächsten Augenblick sterben würde. Oder als ob die ganze Landschaft zum Untergang verurteilt wäre.“

Sie wußte es genau. Unsere Kommunikation war hundertprozentig.

„Malen Sie nur Landschaften?“ erkundigte sich Eva Noijbe.

„Nein. Gerade jetzt bin ich an einem Selbstporträt. Aber ... es will nicht fertig werden. Ich ändere es immer wieder um, und nie bin ich damit zufrieden.“

„Künstler sind Egoisten“, äußerte sich Erland Noijbe. „Sie lassen sich von der unerhörten Aufgabe lähmen, ihre eigene Seele einzufangen. Wahrscheinlich finden sie nichts so sublim wie die eigene Seele.“

Erland war zu dick für den Stuhl, auf dem er saß. Anscheinend hatte er in letzter Zeit stark zugenommen, denn er platzte auch aus den Kleidern. Ein paar Hemdenknöpfe waren aufgegangen, und die Hosen spannten sich eng um die fetten Schenkel. Er hatte die bleichsüchtige Korpulenz, die manche Alkoholiker bekommen.

Der gewichste Schnurrbart schien ein verzweifelter Versuch zu sein, sich das fehlende Ansehen einer Persönlichkeit zu verleihen. Die Mundwinkel hingen nach unten, und die scharfen Falten zum Kinn verstärkten den mißmutigen Ausdruck. Die himmelblauen Augen unter den geschwollenen Lidern hatten einen furchtsamen und selbstbedauernden Blick.

Ihn haßte ich. Haßte seinen überheblichen Ton und sein unverschämtes Auftreten. Er war ein echter Noijbe. Ein echter Mörder.

Ich dachte an einen Frühlingsabend in Uppsala zurück. Tage und Nächte des Grübelns waren ihm vorausgegangen. Angst. Dann faßte ich endlich einen Entschluß. Ohne meinen Mantel anzuziehen, ging ich den ganzen langen Weg zur Polizeiwache am Marktplatz. Ging rasch durch die Tür zu dem Pult, schob einen Mann weg, der mit dem diensthabenden Polizeibeamten über einen Fahrraddiebstahl sprach, und sagte mit einer Stimme, die vor Erregung und Entsetzen zitterte:

„Ich habe ihn getötet. Ich halte die Schuld nicht mehr aus. Kann sie nicht mehr ertragen. Hören Sie, ich habe ihn ermordet. Hören Sie mich nicht? Hören Sie mich nicht? Hören Sie mich nicht ...“

Wer ist dein Richter?

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