Читать книгу Wer ist dein Richter? - Jean Bolinder - Страница 5
Erstes Kapitel
ОглавлениеDas Bild starrte mich von der Staffelei an. Ein mageres Gesicht mit tiefliegenden Augen. Das Hemd am Hals offen.
Das Gesicht hatte sein eigenes Leben. Es grinste mich höhnisch an und veränderte sich fortwährend wie ein Spiegelbild in windbewegtem Wasser. Das Gesicht verbeulte und verzerrte sich, bis mir der Anblick Verwirrung und Unbehagen bereitete. Die Proportionen stimmten nicht. Kinn und Hals wurden plötzlich katzenhaft. Ein Bild im Bild, und das Ganze verwandelte sich noch mehr. Eine bösartige Katze starrte mich aus neapelgelben Augen an, und ich fühlte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach.
Vorsichtig führte ich den Pinsel über die Leinwand, um die Katze verschwinden zu lassen. Ich führte den Pinsel gegen den Strich, worauf die Katze fauchte und einen Buckel machte. Sie schlug mit der Pfote nach meiner Hand und kratzte mich in Sekundenschnelle. Ein kadmiumroter Striemen zeichnete sich auf der hellen Haut ab.
Ich schloß die Augen, um dem lähmenden Gedankenkreis zu entrinnen. Als ich wieder hinschaute, blickte mir mein Vater von der Leinwand entgegen. Er sah vorwurfsvoll aus, und ich hörte meine Schuld durch die Dunkelheit ihm zurufen.
„Wenn er nur nicht die Katze sieht!“ dachte ich. „Wenn er nur nicht merkt, daß ich die Katze mit dem Pinsel gegen den Strich gestreichelt habe.“
Durch die Farbe traten titanweiße Flecken hervor. Zuerst war es wie ein Ausschlag, dann aber verbreiteten und vergrößerten sich die Flecken, bis sie ineinander flossen und ein schimmerndes weißes Rechteck entstand.
In dem Weiß ahnte ich die Katze. Sie schlich durch den Schneefall und lauerte mir auf. Mein Vater war längst in das Weiß fortgeradelt und war weder mit Rufen noch mit Wünschen mehr zu erreichen.
Ich gab es auf. Ich konnte an diesem Tage keine Ordnung in mein Selbstporträt bringen. Es blieb unvollendet und unsinnig.
Draußen blies ein frischer Wind von der Laholmsbucht her. Es roch nach Salz und Grün, und die Sonne stach in die Augen.