Читать книгу Die Schimäre von Fouesnant - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 8
Kapitel 6
ОглавлениеSwana Roué traf in der Allée de Penfoulic in Fouesnant ein, stellte ihren Renault Clio unter den Carport, griff nach ihrem Rucksack und ging zur Haustür. Auf den blauen Peugeot 206, der vor der Einfahrt zu ihrem Grundstück stand, achtete sie nicht. Sie schloss die Haustür auf und trat ins Haus. Seitdem vor einigen Jahren bei ihr eingebrochen worden war, achtete sie sorgfältigst darauf, die Tür gut zu verschließen und den Riegel vorzuschieben.
Sie stieg die Treppe zur ersten Etage hoch und ging in ihr Arbeitszimmer. Ihr Computer, Drucker und diverse Speichermedien standen in dem Raum. Hier bearbeitete sie ihre Vogelbilder und schrieb ihre Blogbeiträge, die sie regelmäßig veröffentlichte. Swana Roué hatte in den letzten Jahren eine Fangemeinde aufgebaut, die regelmäßig ihre bebilderten Beiträge zur Vogelwelt des Schutzgebiets an der Pointe de Trévignon lasen und mit Kommentaren, Ergänzungen, Anmerkungen und weiteren Auskünften zu den Vögeln versahen.
Swana machte sich daran, die Bilder von ihrem Fotoapparat auf den Computer zu übertragen. Eine automatische Synchronisierungssoftware übertrug die Bilder sofort auf eine zweite Harddisk, die sie an das Gerät angeschlossen hatte. Nachdem ihr Computer vor fünf Jahren einen Headcrash erlitten hatte, und alle Bilder der letzten sieben Jahre verloren waren, hatte sie sich geschworen, dass das nicht noch einmal passieren würde. Seitdem speicherte sie Kopien auf mehreren externen Festplatten. Die Speichermedien waren mittlerweile so günstig, dass sie sich diese vermeintliche Sicherheit leistete.
Swana sah die Bilder an, die sie aufgenommen hatte, nachdem der Schuss gefallen war. Sie vergrößerte das erste Bild und suchte den Ausschnitt, der die Gestalt im Gras zeigte. Das Gesicht war nicht zu sehen. Swana schob den Ausschnitt weiter nach rechts, wo sie den Mann stehen gesehen hatte. Eine vermummte Person kam zum Vorschein. Sie war nur schlecht zu erkennen, eine Gesichtshälfte lag im Schatten und die Kapuze verbarg die andere. Die Kapuze gehörte zu einem langen schwarzen, weit geschnittenen Mantel, der mit Schlaufen geschlossen wurde, wie bei einem Dufflecoat. In der Hand konnte sie eine Pistole oder einen Revolver erkennen.
Sie hatte also richtig gesehen, es musste einen Verletzten oder Toten gegeben haben. Aber wo war die Person hingekommen? Als sie an der Wiese angekommen war, hatte dort niemand gelegen. Sie hatte jedenfalls niemanden gesehen. Swana hatte eine Weile gebraucht, um den See zu umrunden. In der Zeit hätte die vermummte unbekannte Person die Leiche oder den Verletzten entfernt haben können. Aber war es möglich, einen Menschen über die ganze Wiese nach oben zu tragen, ohne von den Anwohnern gesehen zu werden? Swana überlegte nicht lange. Sie würde die Bilder in Kopie der Gendarmerie zur Verfügung stellen. Sie ging von einem Gewaltverbrechen aus. Sie griff zu ihrem Handy und wollte die Gendarmerie anrufen als sie plötzlich ein leises, fast unmerkliches Knarren hörte. Sie kannte das Geräusch, es kam von ihrer Terrasse, die mit Holzbrettern ausgelegt war. Jemand ging über ihre Terrasse. Reflexartig schloss sie ihren Laptop, stöpselte die externe Festplatte aus und legte sie ins Regal. Warum sie das tat wusste sie nicht. Die SD-Karte aus dem Fotoapparat steckte immer noch im Schlitz des Computers. Dann schlich sie sich zur Rückseite des Zimmers und versuchte, einen Blick auf die darunterliegende Terrasse zu erhaschen. Vorsichtig sah sie aus dem Fenster. Da war sie, die Gestalt von der Wiese, jetzt auf ihrer Terrasse. Wie war der Mann hierhergekommen? Es war eindeutig ein Mann! Hatte er sie gesehen und sie die ganze Zeit verfolgt? Swana handelte spontan und wählte die Notrufnummer der Gendarmerie, beobachtete aber weiterhin die vermummte Gestalt, die sich an der hinteren Eingangstür zu schaffen machte.
„Gendarmerie“, meldete sich eine Stimme.
„Swana Roué, ich wohne in der Allée de Penfoulic. Bei mir versucht jemand einzubrechen, bitte kommen Sie schnell.“
„Sind Sie sicher, dass jemand einbrechen will?“
„Natürlich bin ich sicher, ich sehe eine vermummte Gestalt auf meiner Terrasse“, erwiderte Swana verärgert.
„Bleiben Sie im Haus, wir sind sofort bei Ihnen“, antwortete der Gendarm und legte auf.
Sie blieb hinter dem Vorhang stehen und beobachtete den Mann weiterhin. Er versuchte immer noch, über die hintere Tür ins Haus zu gelangen. Swana konnte auch jetzt sein Gesicht nicht erkennen. Plötzlich ließ er von seinem Vorhaben ab. Er verließ die Terrasse und ging ums Haus. Auch Swana wechselte die Zimmerseite, ging zur Frontseite des Hauses und beobachtete ihn von hier aus weiter. Die vermummte Gestalt bewegte sich vorsichtig, so als wüsste sie, dass ihre Blicke auf ihm ruhten. Er ging jetzt zur Haustür und versuchte dort, das Schloss zu öffnen. Nur gut, dass ich den zusätzlichen Riegel habe, dachte sie.
Jetzt hörte sie die Sirenen des sich nähernden Gendarmeriefahrzeugs. Der Vermummte zögerte einen kurzen Moment, dann lief er auf die Gartenseite des Hauses und verschwand aus ihrem Blickfeld. Swana wechselte wieder das Fenster, konnte ihn aber nicht mehr sehen. Bestimmt hatte er den Garten über die Rückseite verlassen.
Wenige Minuten später klingelte es an der Haustür und die Gendarmen standen vor ihr.
„Madame Roué, Sie haben uns angerufen“, sprach einer der Gendarmen Swana an.
„Ja! Als Sie sich mit der lauten Sirene genähert haben ist der Mann durch den Garten verschwunden“, sprudelte es aus Swana heraus.
„Ihnen ist nichts passiert?“, fragte er.
„Nein, der Mann hat nicht geschafft, ins Haus zu kommen. Zuerst hat er versucht, über den rückwärtigen Zugang ins Haus zu gelangen, dann hat er es hier vorne probiert.“
„Wie hat der Mann ausgesehen, können Sie ihn beschreiben?“
„Ich kann ihn nur wenig beschreiben, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Aber ich habe heute Morgen an der Trévignon ein Foto von ihm aufgenommen. Dort hat er jemanden erschossen.“
Der Gendarm war verwirrt.
„Moment, Madame Roué, Sie sagen, dass der Mann am Morgen an der Trévignon einen Menschen erschossen hat? Sie haben dort ein Foto von ihm gemacht und jetzt hat er versucht, bei Ihnen einzubrechen?“
„Ja, genau. Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, drucke ich Ihnen eine Kopie des Bildes aus.“
Swana wandte sich um und lief die Treppe hinauf. Der Gendarm blickte zu seinem Kollegen.
„Arnek, eine seltsame Geschichte, findest du nicht? Die Frau scheint an Verfolgungswahn zu leiden“, sagte er zu seinem Kollegen.
„Nun, Dunvel, vielleicht ist ja auch was dran. Lass uns mal das Bild ansehen“, erwiderte sein Kollege.
Arnek Bihan und Dunvel Burel waren seit drei Jahren ein Team. Fouesnant war ein ruhiges Pflaster in der Bretagne. In den Sommermonaten, wenn die Touristen in Strömen in den Ort einfielen, bestand ihre wichtigste Tätigkeit darin, Strafmandate an die Falschparker zu verteilen und die Geschwindigkeitsübertretungen zu ahnden. Touristen hatten es oft sehr eilig. Gewaltverbrechen gab es nur wenige in Fouesnant. In den letzten Jahren hatten sich die Einbruchsdelikte erhöht aber die Einbrecher wurden nur selten verhaftet. Notrufe, wie der heutige, bildeten eindeutig eine Ausnahme.
Swana kam die Treppe heruntergeeilt. Schon von Weitem hielt sie ihnen das Bild hin.
Dunvel Burel sah es sich an.
„Ich kann nicht viel darauf erkennen“, meinte er.
„Stimmt, das Gesicht ist nicht zu sehen. Die Kapuze ist weit ins Gesicht gezogen. Aber schauen Sie, hier liegt ein Körper am Boden. Ich habe einen Schuss gehört, der hat mich auf den Mann aufmerksam gemacht.“
Jetzt sah sich auch Arnek Bihan das Bild an. Es zeigte eindeutig einen am Boden liegenden Menschen und eine vermummte Gestalt davor. In der Hand schien der Vermummte eine Waffe zu tragen.
„Wir sollten die police judiciaire einschalten“, meinte er zu Dunvel.
„Ok Arnek! Madame Roué, wir werden die police judiciaire benachrichtigen. Ich gehe davon aus, dass die Kollegen sich in den kommenden Tagen mit Ihnen unterhalten wollen. Verschließen Sie das Haus wieder und informieren Sie uns sofort, fall Sie den Mann noch einmal ums Haus schleichen sehen.“
„Das mache ich ganz sicher. Vielleicht ist es dann sinnvoll, ohne eingeschaltete Sirenen zu kommen. Aber der Mann muss mich doch verfolgt haben, ansonsten könnte er nicht wissen, wo ich wohne. Und falls er mich verfolgt hat, steht sein Fahrzeug vielleicht noch in der Nähe. Es gibt hier doch nur die eine Straße, die an meinem Haus vorbeiführt.“
Dunvel wandte sich an seinen Kollegen.
„Sie nach, ob du auf der Straße ein Auto stehen siehst. Die Frau hat recht, er könnte mit einem Fahrzeug hierhergekommen sein.“
Arnek Bihan ging durch den Garten auf das weit aufstehende Eingangstor zu. Er hatte noch keine zwanzig Meter zurückgelegt als ein alter blauer Peugeot 206 mit durchdrehenden Reifen davonfuhr. Das Kennzeichen konnte Arnek aus der Entfernung nicht lesen. Er rannte zur Straße, aber der Wagen war weg.