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2.5.6 Experimentelle Gedächtnisforschung – die Ebbinghaus’sche Vergessenskurve

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Ebbinghaus war einer der Ersten, der sich, in Studien im Selbstversuch, mit Behaltensleistungen des Gedächtnisses befasste und damit in der experimentellen Psychologie einen wertvollen Grundstein legte, auf den sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen bis heute beziehen. Murre und Dros (2015: 24) konstatieren: „It is hard to overestimate the importance of Hermann Ebbinghaus’ contribution to experimental psychology.“ Nachdem er erste Versuche der Behaltensleistung mit dem Erlernen lateinischer und griechischer Verse durchführte, bemerkte er, dass die Reproduktion durch Assoziationen und Sinnzusammenhänge maßgeblich erleichtert wurde, woraus er schloss, für die Überprüfung von Behaltensleistungen verbal „reines“ Material zu benötigen. Hierfür setzte er Trigramme, zufällige Buchstabenkombinationen aus Konsonant, Vokal und wieder einem Konsonanten ein (vgl. Becker-Carus & Wendt 2017: 357). Dieses Material hatte für Ebbinghaus (1885: 31f.) den Vorteil, „verhältnismäſsig einfach und verhältnismäſsig gleichartig“ zu sein1. So lernte er Reihen dieser sinnlosen Silben auswendig und überprüfte, wie viel er zu welchem Zeitpunkt noch abrufen konnte2. Seine Forschungsfrage hierzu lautete:

[W]enn Silbenreihen einer bestimmten Art auswendig gelernt und dann sich selbst überlassen werden, in welcher Weise werden sie, lediglich unter dem Einfluſs der Zeit, respektive des diese erfüllenden alltäglichen Lebens, allmählich vergessen? (ebd.: 90)

Die Ergebnisse publizierte er 1885 in seinem Buch Über das Gedächtnis. Hieraus entstand die Ebbinghaus’sche Vergessenskurve, die bis heute als Referenz für das Vergessen gilt, wenngleich die mangelde Vergleichbarkeit sinnloser Silben mit anderen Lerninhalten kritisiert wird (vgl. Reinfried 2006: 182). Er maß, wie viel er noch abrufen konnte und zwar nach knapp 20 Minuten, nach einer guten Stunde, nach acht Stunden, 24 Stunden, sechs Tagen sowie nach einem Monat. Die Prozentzahl des noch Gewussten, resultierte in den Ebbinghaus’schen Versuchen in folgenden Ergebnissen: Knapp 20 Minuten nach dem Lernen sind noch 58 % abrufbar. Nach einer Stunde sind es nur noch 44 %, nach knapp neun Stunden 36 %, nach einem Tag 34 %, nach zwei Tagen 28 %, nach sechs Tagen 25 % und schließlich nach 31 Tagen 21 % (vgl. Ebbinghaus 1885: 94 – 102). Will man dies graphisch darstellen, ergibt sich folgende Kurve, die auch die Ebbinghaus’sche Vergessenskurve genannt wird:


Abb. 1 (selbst erstellt): Ebbinghaus’sche Behaltensleistung sinnloser Silben nach einmaligem Lernen (vgl. Ebbinghaus 1885: 94–103)

Zeit nach erstem Lernen Behaltensleistung
20 min 58,2 %
1 Stunde 44,2 %
9 Stunden 35,8 %
1 Tag 33,7 %
2 Tage 27,8 %
6 Tage 25,4 %
31 Tage 21,1 %

Tab. 1 (selbst erstellt): Ebbinghaus’sche Behaltensleistung sinnloser Silben nach einmaligem Lernen (vgl. ebd.):

Der größte Verfall erfolgt innerhalb der ersten 20 Minuten, anschließend findet das Vergessen langsamer statt. In Replikationen der Studie (u.a. Heller, Mack & Seitz 1991; Murre & Dros 2015) kamen ähnliche Resultate zustande. Das Wissen darum, wie schnell ein Lerninhalt vergessen wird oder umgekehrt, mit welcher Behaltensleistung zu rechnen ist, kann für Entscheidungen in der fremdsprachlichen Wortschatzvermittlung, aber auch für Lernende selbst von Nutzen sein, da erstens eine klare Vorstellung davon besteht, wie viel vermutlich behalten wird und zweitens, zu welchen Zeitpunkten Wiederholungen sinnvoller sind als zu anderen.3 Jedoch gibt Reinfried (2006: 182) zu bedenken:

Die Behaltenskurven, die von pädagogischen Psychologen bereit gestellt werden, sind für die Fremdsprachendidaktik nur von geringem Nutzen – allzu sehr hängen Behaltensresultate nämlich von der Eigenart des Lernmaterials und den Lernumständen ab.

Ebbinghaus selbst räumte ein, dass die Behaltensleistung durch sinnvolles Lernmaterial verändert würde aufgrund von entstehenden Assoziationen, der Ästhetik der Verse oder auch deren Lächerlichkeit. Sinntragendes Lernmaterial würde daher in seine Untersuchungen „eine Fülle von unregelmäſsig wechselnden und deshalb störenden Einflüssen ins Spiel bringen.“ (Ebbinghaus 1885: 32).

Michel und Novak (2007: 151) bilden in ihrem psychologischen Lexikon verschiedene Gedächtniskurven für unterschiedliche Lerninhalte ab, wobei Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten auch nach einem Monat noch fast zu 100 %, Gedichte noch etwas mehr als zur Hälfte, Prosa etwas weniger als 50 % und sinnlose Silben wie die von Ebbinghaus nur noch zu einem Fünftel abrufbar sind. Allerdings führen Michel und Novak (ebd.) keinerlei Quellen und Studien an, auf die sie sich hierbei berufen und auch die beigefügte Graphik der verschiedenen Vergessenskurven ist ungenau dargestellt, weswegen die eben genannten Aussagen in Bezug auf das Vergessen mit Vorsicht betrachtet werden müssen. Es stellt sich zudem die Frage, mit welchem der angegebenen Lerninhalte sich fremdsprachige Vokabeln am ehesten vergleichen lassen. Da es sich bei Vokabeln eindeutig nicht um Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten handelt und weder Reim noch Ästhetik der Sprache beim Vokabellernen im Vordergrund stehen, können diese bereits ausgeschlossen werden. Für Prosa, die an einen zusammenhängenden Text denken lässt, sind einzelne zu erlernende Begriffe zu kurz. Damit münden diese Überlegungen erneut in die Antizipation der Ebbinghaus’schen Vergessenskurve bei einmaligem Vokabellernen, dies allerdings in dem Bewusstsein, dass sinntragende Begriffe deutlich mehr Assoziationen wecken können, wodurch sie sich in einigen Fällen vermutlich etwas besser einprägen lassen können als das Ebbinghaus’sche Versuchsmaterial. Es darf jedoch vermutet werden, dass ein unbekanntes Wort in der Fremdsprache für Lernende zunächst auch einer Ansammlung sinnloser Silben ähnelt. Zudem können ebenso bei sinnlosen Silben Assoziationen geweckt werden. Es kann somit nur eine Annäherung an die Erwartung der Behaltensleistung fremdsprachiger Vokabeln durch die Lernenden erfolgen. Da die Ebbinghaus’sche Vergessenskurve aber mehrfach erfolgreich repliziert wurde (vgl. u.a. Heller, Mack & Seitz 1991; Murre & Dros 2015) und in diesem Kontext als die verlässlichste Referenz gilt, wird sie später zu einem Vergleich der Behaltensleistungen von Schülerinnen und Schülern im Englischunterricht der gymnasialen Oberstufe anhand verschiedener Varianten des Vokabellernens herangezogen (vgl. Kap. 6.7.10.2; Kap. 6.9).

Wenngleich mögliche Zweifel an der Geschwindigkeit und Menge des Vergessens für die verschiedenen Lerninhalte verständlich sein mögen, lässt sich folgende Erkenntnis dennoch ableiten:

„Die Vergessensrate ist generell hoch, das „Verblassen“ einer einmal erworbenen Information ein kontinuierlicher Prozess.“ (Reinfried 2006: 182) Das Lernen von Informationen, so u.a. fremdsprachlicher Vokabeln, bedeutet daher immer eine Arbeit gegen das Vergessen, weswegen Möglichkeiten zur Steigerung der Behaltensleistung für das Wörterlernen lohnend scheinen. Bevor jedoch auf Vokabellerntechniken und ‑strategien näher eingegangen wird (vgl. Kap. 2.7), soll zunächst betrachtet werden, welche Relevanz die Wortschatzaneignung im Englischunterricht der gymnasialen Oberstufe einnimmt und was von den Schülerinnen und Schülern erwartet wird.

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