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Dritte OP, Normalstation – Langsam wieder Mensch
ОглавлениеMeine nächste Operation folgte am 8. Oktober 2018. Nach der Demontage des externen Fixateurs an meinem Oberschenkel und der Fixierung mittels Marknagel sowie der Fixierung des Schlüsselbeins mittels Pin im Rahmen der ersten OP in Klagenfurt folgte nun die Verplattung beider Hände und Arme. Zuvor besuchten mich Ärzte in meinem Zimmer, klärten die Schmerzen ab, die ich am rechten Auge angab, und besprachen mit mir die anstehende Operation. Ich betonte mehrmals, dass ich das Mittel, das meine Halluzinationen nach der ersten OP ausgelöst hatte, nicht mehr gespritzt bekommen wollte, doch das war auch nicht nötig.
Nach dem Eingriff wurde ich auf die Normalstation verlegt. Hier hatte ich ein Einzelzimmer, das nun für eine ganze Weile mein Zuhause und der Ort großer erster Fortschritte werden sollte. Anfangs war die Situation unverändert und ich weiterhin nicht in der Lage, Alltägliches eigenständig durchzuführen. Mama und Conny hatten ihre Freizeit komplett zu mir ins Krankenhaus verlegt, um mir zur Hand gehen, mich füttern und unterhalten zu können.
Ihren Aussagen nach schlief ich ständig, aß wenig und wollte, wenn überhaupt, nur für Salat und Gemüse den Mund öffnen. Doch ich war leicht zu überlisten, und so mischte man mir etwas Fleisch unter das Gemüse und den Salat, ich konnte mich ohnehin nicht wehren.
Bald schon ging es langsam aufwärts und ich gewann zumindest ein wenig Selbstkontrolle zurück, die ich in den vergangenen Tagen komplett verloren gehabt hatte. Entscheidungen, die mich selbst betrafen, konnte ich wieder selbst und bewusster treffen. Ich war nicht mehr wie eine regungslose Puppe, die alles mit sich machen lassen muss, die so energielos ist, dass sie keinerlei Aktionen setzen kann, die sprachlich interagiert, aber doch irgendwie nicht begreift. Auch wenn es nur kleine Taten waren, ich setzte nun wieder welche.
So rief ich nun nachts alle paar Stunden eine Schwester. Das rote Licht an der Fernbedienung leuchtete auf. Meist wartete ich nicht lange, bis ein mittlerweile bekanntes Gesicht den Kopf zur Tür hereinstreckte. »Ja, bitte?« »Ich bin schon wieder ganz durchgeschwitzt, ich muss mich umziehen.« »Natürlich, warte kurz, Jenny, ich komme sofort.« Ich wurde vom Pflegepersonal mit meinem Vornamen angesprochen und war dankbar für diese sprachliche Form der Nähe. Die Schwester kehrte mit einem frischen Krankenhausnachthemd zurück. »So … geht das so?« Sie half mir aus dem nassen Fetzen und zog mir das frische Nachthemd über. Noch brauchte ich dabei Hilfe. So ging das fast jede Nacht.
Außerdem bemerkte ich immer wieder Schmerzen beim Katheter und bat die Schwester, wieder »abzusaugen«. Keine Ahnung, was ich damit genau meinte, aber auf der IMC-Station hatte dieses Verfahren immer dazu geführt, dass die Schmerzen sich verflüchtigten. »Jenny, wir können nichts machen, wir wissen nicht, was dir da wehtut.« Enttäuscht blieb ich zurück, als sie mein Zimmer verließ. Tränen rannen mir über das Gesicht. Wie so oft war ich unruhig, ich konnte meine Gedanken nicht von den unangenehmen Schmerzen weglenken. Aber was sollte ich tun? Selbst konnte ich nichts machen, aber noch einmal läuten wollte ich auch nicht unbedingt. Die Schwester hatte ja gesagt, dass sie da nichts machen könne.
In meiner Verzweiflung läutete ich trotzdem. Ich sagte sofort, als die Schwester eintrat: »Bitte, es tut so weh.« Offenbar war diese Nacht nicht besonders stressfrei. »Du kannst uns nicht ständig rufen. Wir können dir den Katheter sonst nur entfernen. Entweder das, oder du musst den Schmerz ertragen.« Mir war klar, was ich wollte – nämlich Ersteres –, denn die Schmerzen belasteten mich sehr. Ganz fertig gedacht hatte ich das aber nicht, denn von nun an musste ich auf die Schüssel gehen und das wirkte sich nicht gerade positiv auf die Anzahl meiner Schwesternrufe aus. Es brachte Erleichterung, den Katheter los zu sein, auch wenn ich anfangs das Gefühl hatte, ständig auf die Schüssel, meine Toilette in den nächsten Tagen, zu müssen. Wenn das Plastikgefäß dann umständlich unter meinen Hintern geschoben wurde, nachdem ich mein Becken schwerfällig mit links angehoben und die Schwester danach das Zimmer wieder verlassen hatte, kostete es mich jedes Mal viel Anstrengung, liegend mein kleines Geschäft zu erledigen. Die Zeit mit Katheter hatte diesen selbstverständlichen Ablauf entfremdet und ich musste erst wieder lernen, eigenständig Wasser zu lassen.
Parallel zu diesen Ereignissen im Krankenhaus war die Badminton-Bundesligasaison angelaufen. Mein Team und ich, wir hatten uns sehr darauf gefreut. Wir hätten gute Chancen gehabt zu überraschen. Jetzt startete alles ohne mich, ohne Stella, ohne Chee Tean. Die Betroffenheit war zu dieser Zeit groß. Man gedachte des Verstorbenen, und der Unfall überschattete alle Spiele. Ich las davon auf Facebook, als ich einige Tage nach der vorerst letzten Operation in Klagenfurt zum ersten Mal wieder online war.
Seit meinen verzweifelten Bedienversuchen in Tschechien hatten nur noch Mama und Conny mein Handy in Betrieb genommen. Nun begann ich die Nachrichten, die ich irgendwann schon einmal gehört hatte, durchzulesen und zu beantworten und außerdem Facebook zu durchstöbern. Es wunderte mich, wie viel über unseren Unfall berichtet worden war und dass nicht nur von »22-Jährigen« und »Österreicherinnen« zu lesen war, sondern unsere Namen und alte Fotos uns klar als Unfallopfer erkennbar machten.
Ich lag in meinem Bett, das Kopfteil etwas nach oben gefahren, und scrollte mit dem rechten Daumen nach unten. Es war nachts und das Zimmer lag im Dunkeln. Wie jeden Abend lief der Fernseher, er half mir beim Einschlafen und ersetzte die Dunkelheit durch eine sich stetig verändernde Dämmerung, die gelegentlich durch Lichtblitze erhellt wurde. Am Gang hörte ich das Piepen des Schwesternrufs und Schritte, ansonsten war es komplett still. Mir war heiß und ich schwitzte schon wieder, fühlte mich aber im Moment körperlich gut. Das rechte Bein hatte ich etwas aufgestellt. Seit mir das gelang und nicht mehr jede Bewegung enorme Schmerzen hervorrief, fühlte ich mich viel wohler, und auch die verkrampften Muskeln dankten es mir. Ich konnte wieder leicht veränderte Positionen einnehmen – eine wahre Wohltat und momentan gefühlt das größte Glück für mich.
Ein weiterer Artikel über unseren Unfall erschien auf meinem zersplitterten Handybildschirm, ich tippte darauf und las die Schlagzeilen. Daneben war ich abgebildet, mit Goldmedaille, stolz lächelnd. Mama hatte mir inzwischen schon einiges erzählt, aber es war das erste Mal, dass ich offizielle Nachrichten und Berichte über die Vorfälle zu lesen bekam. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich bemitleidete »diese drei jungen Badmintonspieler«, und irgendwie fühlte es sich nicht so an, als ob wir das wären.
Dann erschien ein Beitrag mit dem Titel »Badminton-Meisterin … gestorben«. Ich begann zu schluchzen und die Tränen rannen mir über die Wangen. Ist sie wirklich tot? Ich suchte ihren Namen bei Google, und tatsächlich, da waren lauter Berichte, die es bezeugten, sie war gestorben. Es zu lesen machte es fassbarer. Und doch, es fühlte sich für mich nicht real an, das konnte doch einfach nicht wirklich geschehen sein! Immerhin war ich selbst plötzlich in einem »fremden« Leben. Ich hatte auch nicht gewusst, wie schlimm es um Stella gestanden hatte. Ich konnte die Tragweite des Geschehenen immer noch nicht erfassen.
Die bewusste Traurigkeit und Fassungslosigkeit begannen sich ganz schleichend in mir breitzumachen. Das Bewusstsein erwachte langsam wieder in mir, ging wieder in Betrieb, und gefühlt oder erinnert wurde es zunächst immer unerträglicher. Der akute psychische Schockzustand war offensichtlich vorüber und ich kam, bei gleichzeitiger Reduktion der Medikamente, immer mehr zu mir.
Ich wartete in diesen Tagen oft darauf, dass mich die Müdigkeit endlich in den Schlaf wiegte, um dieser inneren Unruhe, diesen plötzlich aus dem Nichts auftauchenden Gefühlen und diesen unbeschreiblich starken Schmerzen entgehen zu können. Ich ahnte nicht, dass das erst der Anfang sein sollte, dass sich ein Gedankenstrudel aus Fragen in meinem Kopf anzubahnen begann, der erst Monate später seine volle Größe erreicht haben sollte.
Noch konnte ich das alles nicht verstehen und wusste nicht, welch kaum zu bändigender Sturm bald über mich hereinbrechen sollte. Es war immer noch, als ob ich im Publikum sitzend die Szenen einer Theateraufführung verfolgte und im nächsten Moment jemand vor den Vorhang springen und »Reingelegt!« rufen müsste. Aber niemand kam, stattdessen ging mein Krankenhausalltag weiter. Das langsame »Erwachen« aus meiner Schockstarre hatte auch etwas Positives, denn meine Erinnerungen wurden damit vollständiger und vor allem normaler.