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Czech Open 2018 – Der Unfall

Es war der 27. September 2018, kurz vor Mittag. Die Landschaft raste am Fenster vorbei und die durch das Glas reflektierte Sonne ließ mich die Augen zusammenkneifen und meinen Blick abwenden. Ich hob den Kopf und schaute auf die Anzeige vor mir. »Next Stop: 11:36 Breclav«. Bald bin ich da, dachte ich und nippte an meinem Gratistee, den mir ein Zugmitarbeiter ausgehändigt hatte. Die heiße Flüssigkeit brannte sich ihren Weg durch meine Speiseröhre nach unten und ich musste das Pappgefäß abstellen, weil meine Finger ebenso langsam zu verbrennen schienen. Immerhin breitete sich eine wohlige Wärme in mir aus und das Kratzen im Hals, das mich einige Tage gequält hatte, ließ etwas nach.

Noch in der Früh war ich hektisch in meiner Wohnung hin und her gerannt und hatte einen Schal meiner Schwester und eine warme Jacke hervorgekramt. Zwar hatte mein Hals noch geschmerzt und auch die Nase noch nicht aufgehört zu rinnen – aber bei dem Gedanken, zu Hause zu bleiben und folglich auch eine Strafe zahlen zu müssen, hatte sich ein unangenehmes Gefühl in meiner Magengegend gemeldet, sodass schließlich recht schnell entschieden war: Ich fahre nach Tschechien zu den Czech Open 2018!

Ich war Badmintonspielerin und mein Ziel waren internationale Einsätze. Mein Herz sprang auf und nieder, wenn ich an die anstehenden Turniere und die damit verbundenen Reisen dachte, und ein Lächeln huschte mir übers Gesicht. Beim Badminton flitzt der Ball übrigens schneller als in jeder anderen Ballsportart übers Netz.

Wenn ich von meinem Hobby erzählte, passierte es nicht selten, dass jemand fragte: »Badminton, was ist denn das?«, und der Einfachheit halber brachte ich daraufhin meist das Wort »Federball« ins Spiel. Sofort wussten dann alle Bescheid, und viele dachten wohl spontan an Urlauber, die am Strand Plastikbälle hin und her schlugen oder es zumindest versuchten – was dieser Sportart natürlich keinesfalls gerecht wird.

Für mich nahm Badminton schon immer einen großen Platz in meinem Leben ein, und nun sollte meiner Leidenschaft noch etwas mehr Platz geschaffen werden. Für meinen Traum war ich bereits seit 5.45 Uhr unterwegs. Gähnend kuschelte ich mich in den dicken Schal und nippte noch einmal am Tee. Ich atmete tief ein und suchte mir eine angenehme Sitzposition. So lässt es sich doch reisen, dachte ich mir, und das im Vordersitz integrierte Terminal fiel mir wieder ins Auge. Ich begann darauf herumzutippen. Die gebotene Auswahl umfasste Filme, Lieder, Spiele und sogar einen freien Internetzugang, und ich suchte fieberhaft nach einem spannenden Film, der mir die verbleibende Fahrt versüßen sollte. Bekanntlich rast die Zeit, wenn man sich mit technischen Geräten beschäftigt, und so dröhnte nur kurz nachdem ich mich endlich entschieden hatte, die helle Stimme des Lokführers durch die Lautsprecher: »Next Stop: Brno.«

Ich griff schnell mein ganzes Gepäck und stolperte durch die bereits offen stehende Zugtür hinaus ins Freie. Ich wollte mir einen Moment zum Durchatmen gönnen, aber die hektische Menschenmenge schob mich mit in Richtung Ausgang. Da wurde gewinkt und geflucht und auch ein Sprint zum nächsten Bahnsteig hingelegt. Ich aber hatte keine Eile – mein erstes Spiel war erst für den späten Nachmittag angesetzt – und so blieb ich an einem ruhigen Plätzchen am Bahnhof stehen und schaute den vorbeieilenden Menschen hinterher. Ein Mann sah wichtig aus, im feinen Anzug und mit Aktenkoffer in der Hand hastete er an mir vorbei. Ich erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, das müde und eingefallen wirkte, und der Gedanke über meinen eigenen Bezug zur Arbeitswelt blitzte in mir auf. Ich war 22, aber den Ernst des Lebens hatte ich noch nicht kennenlernen müssen. Getragen und finanziert von meinen Eltern hatte ich es noch gar nicht so eilig, die Pflichten des Erwachsenwerdens auf mich zu laden.

Kinder trainieren, auf Veranstaltungen Fotos schießen und bei der Organisation helfen, Nachhilfe geben – viel mehr Erfahrung hatte ich in der Berufswelt noch nicht gesammelt. Aber irgendwann würde auch ich mein Studium abschließen und von Termin zu Termin und von Verpflichtung zu Verpflichtung eilen. Immerhin studierte ich seit 2014 Deutsch und Mathematik auf Lehramt. Allzu lange würde es nicht mehr dauern, bis ich mein Diplom in den Händen halte.

Aber zu sehr eilen müsse man ja nicht, untermauerte ich meine Meinung gern in wiederkehrenden Diskussionen mit Mama über dieses Thema. Ich war jung, hatte mein ganzes Leben noch vor mir. Ich würde mein Studium bald abschließen, ich schaffte alles, was ich mir vornahm – aber alles zu seiner Zeit, jetzt wollte ich erst einmal Badminton spielen. Ich wollte meinen Traum leben.

Ich hatte mittlerweile etwas Geld gewechselt und mich aus dem Bahnhofsgebäude entfernt. Mit der rechten Hand kramte ich in meinen Taschen und holte mein Handy und etwas Geld hervor. Ich kaufte mir ein Pizzastück in einem kleinen Laden und posierte für ein Selfie, das ich per WhatsApp verschickte mit der Info: »Gut angekommen«. Während ich den fettigen Käse in meinem Mund verschwinden ließ, überlegte ich, wie ich denn nun in die Sporthalle kommen sollte, und mein Blick blieb an den wartenden Taxis hängen.

»Hello, I need to get to Vodova, the sports hall, please«, erklärte ich einem Taxifahrer. Er nickte und stellte den Taxameter ein. Es ärgerte mich in letzter Zeit manchmal, dass ich meine Schulzeit nicht intensiver genutzt hatte, um meine Englisch- und Italienischkenntnisse zu erweitern. Mein Englisch war zwar ganz passabel, aber wie selbstverständlich und präzise könnte ich mich wohl ausdrücken, wenn ich den Sinn des zu Lernenden schon als Jugendliche verstanden hätte. Zumal ich durchaus sprachliches Feingefühl besaß.

Das Italienische war mittlerweile ganz durch das Slowenische aus meinem Gedächtnis verdrängt worden, aber zumindest die Kenntnisse in dieser Sprache stagnierten noch nicht, der letzte Kurs an der Uni lag erst wenige Monate zurück. Auf Reisen ist es immer von Vorteil, mehrere Sprachregister ziehen zu können.

Die Fahrt zur Halle dauerte nicht lang. Ich beobachtete die Zahlen am Taxameter, die unheimlich schnell in die Höhe schossen. 50, 60, aber sicher, das sind tschechische Kronen, also keine Sorge, beruhigte ich mich selbst. Tatsächlich war diese Taxifahrt die wohl günstigste, die ich je unternommen hatte. Vor der Halle sah ich schon andere Badmintonspieler Taschen aus ihren Autos heben und in Richtung Halle gehen. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, denn ich war erleichtert, endlich da zu sein. Hier fiel ich, gekleidet in Trainingsanzug und Sportschuhe, nicht auf. Anderswo tat ich das des Öfteren durchaus. Denn so lief ich fast immer herum, ich mochte es eben bequem und fühlte mich so am wohlsten. Und mich einzufügen war noch nie meine Stärke gewesen. Anders als andere hatte es mich auch nie gestört, anders zu sein und aufzufallen. Mir war es nicht wichtig, überall dazuzugehören, doch hier tat ich es, ohne dass ich mich dafür anstrengen musste.

Einen Tag später, nachmittags gegen 16.45 Uhr, es war der 28. September, trat ich an der Seite von Stella und Chee Tean aus eben dieser Sporthalle. Die beiden waren Badmintonkollegen und ein Paar. Auf den ersten Blick ein ungleiches. Er war 23, asiatischer Abstammung, groß, stylisch, und außerhalb des Badmintonfelds kannte ich ihn nur mit Cappy am Kopf. Sie war 21, zierlich, blond, hübsch und trug immer ein Lächeln auf den Lippen.

Das Offensichtlichste, was die beiden teilten, war ihre Liebe zum Badminton. Sie hatten sich im Rahmen eines Trainingslagers kennengelernt und konnten beide schon auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Chee Tean war erst vor wenigen Wochen nach Österreich gekommen. Er war Malaie, hatte in Malaysia für das Nationalteam gespielt, lebte nun allerdings in Österreich, um zu studieren und mit Stella Badminton zu spielen. Ihn hatte ich erst eine Woche zuvor in Polen erstmals getroffen und mich lange nett mit ihm unterhalten.

Stella kannte ich schon viele Jahre, wobei »kennen« auch hier wohl der falsche Ausdruck ist – immer wieder waren wir uns bei Turnieren über den Weg gelaufen. Mehr Kontakt hatte ich erst seit wenigen Wochen, seit ich ihr schrieb, weil ich in Bezug auf die internationalen Turniere Hilfe brauchte. Sie hatte in diesem Metier schon mehr Erfahrung gesammelt als ich und stand mir gern mit Rat zur Seite. Im Rahmen unseres Nachrichtenaustausches hatte ich sie als sehr herzliche und offene Persönlichkeit kennengelernt. Sie vertrat die Meinung, die österreichischen Badmintonspieler müssten mehr zusammenhalten, und sie lebte diese Einstellung.

Nun folgte ich den beiden aus der Halle. Das Turnier war für uns vorbei. Das letzte Spiel, das gemeinsame Doppel mit Stella, hatten wir kurz zuvor beendet. Es war unsere Premiere gewesen. Das erste Mal hatten wir gemeinsam auf dem Feld gestanden und gegen eine gute dänische Paarung sogleich einen Satz für uns entscheiden können. Aber selbst das Coaching des erfahrenen Doppel- und Mixed-Spezialisten Chee Tean hatte nicht gereicht, dass wir die absolute Sensation feiern hätten können. Auch in den anderen Bewerben waren wir bereits ausgeschieden und wollten nun direkt zum nächsten Turnier weiterreisen.

An dieser Stelle möchte ich gern einige Lieblingsworte von Chee Tean zitieren:

»No matter if you win or lose, experiences make people smarter. And I strongly believe that discipline will bring you to success.« (In memory of Chee Tean, Abdruck mit freundlicher Genehmigung seiner Schwester.)

Stella hatte angeboten, mich im Auto in ihren Heimatort mitzunehmen, wo das nationale Turnier, an dem wir alle drei teilnehmen wollten, bereits am nächsten Tag stattfinden sollte. Ich war etwas unsicher. Würde ich denn spielen können oder musste ich doch absagen? Ich fühlte mich immer noch nicht wirklich fit. Doch das könnte ich auch morgen entscheiden, dachte ich, und beschloss, Stellas Angebot anzunehmen.

»Danke nochmals, dass ihr mich mitnehmt. Das ist total nett«, richtete ich mich an Stella. »Machen wir sehr gerne.« Stella ging neben Chee Tean, ihre Sporttasche lässig über die Schulter geworfen. Sie hatte ein sehr sonniges Gemüt und strahlte Freundlichkeit und Wärme aus. Ich folgte den beiden durch die zugeparkte Gasse. Meinen riesigen Koffer schob ich hinter mir her. Stella und Chee Tean unterhielten sich auf Englisch, aber wegen des lauten Brummens der Räder meiner Tasche auf dem Asphalt verstand ich nicht, was sie sagten. Nach einigen Metern blieben sie vor einem älteren Kleinwagen stehen, Stellas Auto, und sie sagte in eben jenem Moment, in dem ich mir dasselbe dachte: »Hoffentlich schaffen wir es, das ganze Gepäck im Wagen zu verstauen.« Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute ich auf das Gepäckstück an meiner Seite. Warum musste ich auch immer so viel mitnehmen? Hoffentlich geht das, dachte ich bei mir. Was mach ich denn sonst? Doch noch den Zug nehmen? Zumindest könnte ich dann wieder Filme schauen. Ich packte mit an, wir füllten den Kofferraum und legten einige Kleinigkeiten auf die Rückbank. Geschafft, alles drin. Stella deutete mir an einzusteigen. Über die Fahrertür kletterte ich nach hinten auf die Rückbank des Dreitürers. Ich war schon voller Vorfreude auf ein warmes Abendessen und eine angenehme Nacht. Stella startete den Motor, parkte aus und wir fuhren los.

Stillstand

17.30 Uhr, Pohorelice, Tschechien, nahe Brünn. Ein roter, völlig zerstörter Seat liegt mehrere Meter abseits der Straße im Graben. Ein schwarzer VW steht schwer beschädigt auf der Fahrbahn. Überall sind Autoteile, kleine Splitter und größere Fragmente verstreut. Auf der Straße liegt auch der Motor des roten Kleinwagens. Bremsspuren sind erkennbar. Niemand hat gesehen, was passiert ist. Es gibt keine Zeugen. Laute Schreie ertönen aus dem Wrack des roten Wagens. Ansonsten komplette Stille. Die Einsatzkräfte treffen ein. Mehrere Teams von Feuerwehr, Rettung und Polizei. Die Feuerwehr muss die Insassen des Seat herausschneiden, doch für den Beifahrer kommt jede Hilfe zu spät. Die beiden anderen Insassen werden schwer verletzt per Hubschrauber und Notarztfahrzeug in die Uniklinik nach Brünn gebracht, wo sofort die Versorgung im Schockraum beginnt.

Ich bleib am Ball

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