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Saki Stilles Versprechen

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Seit meiner Kindheit hatte ich jeden Tag auf dem Feld ausgeholfen. Jeder Bewohner verfolgte seine Aufgabe in Grünfrey und beteiligte sich daran, unsere Versorgung zu sichern. Wir betrieben keinen Handel und waren auf unsere eigenen Lebensmittel angewiesen. Es gab keinen Winter, auf den wir uns vorbereiteten, sondern nur stetigen Sonnenschein, der uns die Feldarbeit erleichterte. Ich war durch die körperliche Arbeit drahtig und kräftig geworden. Aber nun wirkte ich wie ein Winzling im Vergleich zu den Männern, die täglich um mich herumstanden.

Ihre Arme waren muskulös und sie standen mit nacktem Oberkörper aufrecht im Schnee. Starr wie Statuen.

Bisher hatte ich im Immerwährenden Sommer gelebt. Mit einer Sonne, die nur zur Dämmerung herabsank und nie unterging. Nun stand ich zitternd im Tiefen Winter.

Jeden Morgen stellten wir uns, wie heute, in einer Reihe auf, einem Mann zugewandt, der ein paar Fuß von uns entfernt auf und ab lief. Er hieß Arnen, war unser Lehrer, Trainer, Meister – wie auch immer man ihn nennen mochte. Für mich war er der Schlüssel zu meinem Erfolg.

Kindras Rettung.

Das Training begann und Arnen kannte keine Gnade. Leicht bekleidet trainierten wir unsere Kraft, wobei ich am schlechtesten abschnitt. Wir lernten erste Taktiken und Techniken für den Schwertkampf und attackierten uns mit Stöcken. Meine Haut hatte durch die Kälte einen bläulichen Ton angenommen. Dazu gesellten sich einige andere Farbtöne durch die Blutergüsse, die sich über meinen Körper zogen.

Abhärtung hatte es unser Lehrer genannt. Stärkung und Kräftigung des Körpers und des Willens. Schaffung von erschwerten Begebenheiten. Mein Körper lechzte nach Ruhe, aber ich begrüßte den Schmerz. Er brachte mich voran. Näher an mein Ziel.

Ich biss die Zähne zusammen, jammerte nicht und machte keine Pause. Ständig stand ich am Rande der Erschöpfung. Und wenn ich glaubte, ich würde zusammenbrechen, dachte ich an das, was die Eisenmänner mit meiner Familie gemacht hatten. Plötzlich schöpfte mein Körper wieder neue Kraft. Angetrieben durch den unbändigen Hass, der in mir loderte.

Es waren nicht die Anstrengung, die Kälte oder die Schmerzen, mit denen ich am meisten kämpfte. Es war meine Ungeduld.

Die Tage verstrichen und die Ungewissheit nagte an mir. In meinen Träumen sah ich sie sterben. Blutend und mit Wunden übersät. Die Gruselgeschichten, die wir uns als Kinder erzählt hatten, schlichen sich in meine Gedanken. Nur dass die Goldkinder aus den Legenden Kindras Gesicht trugen.

Auch an diesem Morgen erwachte ich wieder schweißgebadet, trotz der Kälte. Ich schreckte auf wie ein Ertrinkender, der nach der Oberfläche suchte. Mit der Hand tastete ich über den Boden und als ich den gefalteten Kleidungsstapel fand, umschloss ich den Holzvogel, der darauf lag. Ein letztes kleines Stück, das mir von Kindra geblieben war. Seufzend hob ich den Vogel an meine Lippen und betete zur Sonne, dass sie mich erhörte und Kindra beschützte.

Eine Stimme erklang, bevor eine Hand die Plane meines Zelts zur Seite schob und jemand den Kopf hineinstreckte. Es war Arnen.

»Die Männer sind vom Schwarzen Markt zurück«, sagte er und wartete auf eine Reaktion.

Ich starrte ihn einen Moment an, bevor ich auf die Füße sprang und mir meine Sachen überstreifte. »Seit wann?«, hauchte ich und verstaute den Holzvogel in meiner Hosentasche.

»Sie kamen in der Nacht.« Er hielt die Plane zur Seite, damit ich zu ihm hinauseilen konnte. Die Kälte schlug mir wie eine Wand entgegen, aber ich hatte keine Zeit, um zu frieren.

Jetzt passierte endlich etwas.

»Was haben sie herausgefunden?«, hakte ich nach, während ich Arnen durch das Dorf folgte.

Als er nicht antwortete, griff ich nach seiner Schulter und zwang ihn, mich anzusehen. Er warf mir einen schnellen Blick zu und streifte meine Hand ab. »Du wirst es gleich erfahren.«

Meine Gedanken überschlugen sich. Hatten sie Kindra gefunden? War sie am Leben? Während ich weitere Fragen hinunterschluckte, führte er mich zu einer Höhle am Rand des Dorfes. Im Innern saßen zwei Männer auf einer Bank und tranken aus Tonbechern. Runghum, der Krieger, der mich in Grünfrey entdeckt hatte, schenkte ihnen nach. Der Älteste saß im Schneidersitz auf dem Boden zwischen Kriegern, deren Gesichter ich kannte, aber deren Namen ich nicht mehr zuordnen konnte.

»Also?«, fragte ich in die Runde. Es gab keine Zeit zu verlieren. Ich musste wissen, was mit Kindra passiert war.

Einige interessierte Blicke streiften mich. Arnen legte mir eine Hand auf den Unterarm. »Setz dich«, er deutete auf einen Hocker, »und reiß dich zusammen.«

Ich schluckte. Wenn das so einfach wäre.

Nachdem ich Platz genommen hatte, stellten die Männer die Becher zur Seite. Der linke begann: »Sie haben sie am Ufer gefunden und an den Königshof verkauft. Sie müsste längst dort sein.«

Mein Körper reagierte wie von selbst. Mit zitternden Knien sprang ich auf die Füße. »Sie lebt«, keuchte ich. Endlich hatte ich Gewissheit, dass ihr Herz noch schlug und sie auf mich wartete.

»Aber sie ist in der Gewalt des Königs«, zischte Runguhm.

Der rechte nickte und ergriff das Wort. »Wir waren zu spät.«

»Aber sie lebt.« Meine Muskeln spannten sich an. Wollten sie sie etwa schon aufgeben? »Ihr seid Hüter. Holt sie zurück.«

Arnen lachte. »Wir werden nicht den Palast stürmen. Und wir werden auch nicht unsere Spione gefährden für ein einziges Mädchen.«

»Aber es ist Kindra!«

»Es ist ein Goldkind«, sagte der Alte und die Geräusche im Raum verstummten. »Es ist wertvoll und eine Gefahr in den Händen unserer Feinde.« Er stemmte die Hände auf seine Knie und erhob sich langsam. »Aber dieser Kampf ist größer als das Leben eines Mädchens. Unser Land ist in Gefahr und wir können unsere jahrelange Vorbereitung nicht für die Rettung von Kindra aufs Spiel setzen.«

Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Arnen kam mir zuvor. »Wir sind machtlos, Saki. Schon seit Jahren rüstet der König das Heer auf. Wir müssen bereit sein, falls er entscheidet zu marschieren.«

Ein Krieg? Angespannt wich ich einen Schritt zurück. Der König bereitete sich vor, das Gezeitenreich anzugreifen? Das war doch nicht möglich. Ich schloss die Augen und verdaute diese Neuigkeit. Die Einwohner des Gezeitenreiches schwebten in größerer Gefahr, als ich es für möglich gehalten hatte. Doch was hatte das für eine Bedeutung? Neor war tot. Meine Heimat war kein Ort mehr. Sie war ein Mädchen, das entführt worden war und das ich wiedersehen wollte.

»Ihr lasst sie im Stich.« Kopfschüttelnd verschränkte ich die Arme. »Das kann ich nicht akzeptieren.« Mein Blick schweifte von den Männern, die im Schwarzen Markt gewesen waren, über den Alten und zurück zu Arnen. Kräftig schlug das Herz in meiner Brust. »Ihr wollt eure Leben nicht riskieren. Das kann ich von keinem verlangen.« Fahrig krallte ich die Finger in den Stoff meines Hemdes. »Aber mein Leben kann ich geben. Helft mir und ich werde alles tun.«

»Saki.« Arnen seufzte, doch Runguhm hob die Hand.

»Kindra ist eine weitere Energiequelle für die Goldmagier. Sie bringt den König seinen Zielen wieder ein Stück näher.«

Eine Stille senkte sich über die Anwesenden in der Höhle.

»Die Auswahl«, sagte Runguhm, nachdem seine Worte gewirkt hatten, und fixierte mich. »Alle paar Jahre werden Jungen aus den Dörfern für die Garde des Königs rekrutiert. Wärst du bereit, dein Leben im Gezeitenreich aufzugeben und als Junge der Eisendynastie dein Leben der Garde des Königs zu verschreiben?«

Alle Blicke wanderten zu mir. »Die Armee des Königs?«

»Es bringt dich zu ihr an den Hof. Ob du an sie herankommst, ist dennoch fraglich. Aber es wäre ein Anfang …«

Arnen betrachtete Runguhm, dann mich. »Wer weiß, ob du sie retten kannst, ohne dass du auffliegst und mit dem Leben bezahlst.« Mit zusammengezogenen Augenbrauen kam er auf mich zu und griff meine Schultern. »Als Spion der Hüter gilt es mehrere Prüfungen zu bestehen. Auch wenn wir für dich eine Ausnahme machen, musst du dich als würdig erweisen, bevor wir dich in die Reihen unseres Feindes schicken. Die Geheimhaltung der Hüter hat oberste Priorität. Ich hoffe, du verstehst das.«

»Natürlich.« Ich öffnete die verschränkten Arme und senkte den Blick. Die Hüter setzten sich für unser Reich ein – niemals würde ich verlangen, dass sie sich in Gefahr brachten.

Aber ich konnte mich selbst opfern.

Entschlossen sah ich Arnen an, dann Runguhm und den Ältesten. »Vielleicht verliere ich mein Leben, bevor ich einen Fuß in den Palast gesetzt habe. Oder ich sterbe, ohne Kindra von dort befreien zu können. Aber ich bin bereit, mich von euch ausbilden zu lassen und euer Geheimnis mit in den Tod zu nehmen – falls das nötig sein sollte.«

»So sei es dann«, brummte Arnen und reichte mir die Hand.

Ich nahm die dargebotene Geste an und besiegelte so mein Schicksal. Vor der Zerstörung hatte ich Grünfrey nie verlassen. Jetzt trainierte ich bei den Hütern und vor mir lag eine Zukunft als Spion. Mit der Hand fuhr ich in die Hosentasche und umklammerte den Holzvogel. Dieser Plan gab mir keine Gewissheit, aber Hoffnung. Mehr brauchte ich nicht. Der Holzvogel drückte sich in meine Handfläche, als ich fester zupackte.

Mein nächstes Ziel stand fest: die Armee des Königs.

Der nächste Tag brach an – und meine Ungeduld blieb ungezügelt. Arnen konnte mir nicht sagen, wann es weiterging, wie lange ich ausharren musste, bis meine Prüfung begann – oder was diese genau beinhalten sollte. Darüber wollte er sich mit dem Ältesten noch beratschlagen.

Es war ein weiterer eisiger Tag, an dem ich mit den anderen Männern trainierte. Ich kämpfte gegen einen Mann, der Goum hieß. Er überragte mich um einen Kopf und war mehr als doppelt so breit. Seine Schläge waren kraftvoll – das hatte ich die letzten Tage häufiger zu spüren bekommen. Aber ich nutzte meine wachsende Kraft und Geschwindigkeit und wich gekonnt seinen Hieben aus. Hier und da versetzte ich ihm einen Stoß, während ich um ihn herumwirbelte. Nach einer kurzen Zeit war das Duell vorbei.

Ich siegte und die anderen Männer grölten lautstark über meinen Triumph.

Arnen klopfte mir auf die Schulter. »Gut gemacht«, lobte er mich. »Komm mit mir, ich muss dich sprechen.«

In meinem Kopf überschlug sich alles. Meine Ungeduld schrie hoffnungsvoll, es sei so weit. Vor Aufregung zitterten meine Hände.

Schweigend folgte ich ihm und wir setzten uns auf eine etwas erhöhte Felskante, mit Blick auf die kämpfenden Männer.

»Das war dein erster fehlerfreier Kampf«, begann Arnen. »Wirklich sehr gut. Deine Fortschritte sind für diese kurze Zeit beeindruckend.«

Ich nickte, obwohl sich die Zeit wie eine grausame Ewigkeit angefühlt hatte. Meine Anspannung wuchs, staute sich in meiner Brust an und drohte, mich zu zerreißen. »Ich gebe mein Bestes«, antwortete ich.

Arnen ließ den Blick über den Trainingsplatz schweifen. »Das sieht man.« Dann wandte er sich mir zu und sah mir in die Augen. »Wenn du so weitermachst, könntest du vielleicht schon an der Kampf­prüfung in einem Monat teilnehmen.«

Die Ungeduld in mir schien zu explodieren und alles mit sich zu reißen. Die Hoffnung und Anspannung wurden von ihr überrannt. »Eine Prüfung? In einem Monat?!«, schrie ich entsetzt. Meine Zurückhaltung war wie weggeblasen. »Das ist doch verrückt! So lange kann ich nicht warten!«

Arnen schüttelte den Kopf. »Das ist früher, als es bei allen anderen üblich ist. Dein Körper braucht seine Zeit, um sich aufzubauen. Das passiert nicht über Nacht.« Mit wachsamen Augen betrachtete er mich. »Saki, wir hatten das gestern besprochen. Wir müssen uns sicher sein, dass du für deine wahnsinnige Mission bereit bist.«

»Aber ich habe keinen Monat! Jeden Tag, den ich hier sitze, warte und nichts tun kann, um sie zu retten … Jeden Tag sterbe ich ein kleines Stück! Ihr verschwendet meine Zeit! Ihr habt mir versprochen, dass ihr mir helft, sie zu befreien!«

»Und genau das tun wir hier.« Arnens Stimme war sachlich und kalt. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte mich angeschrien. »Wenn du überstürzt losziehst, wirst du sterben. Du versagst und reißt uns mit in den Untergang.« Er stand auf und sah auf mich herab. »Wie ich sehe, bist du noch nicht bereit. Dein Geist ist zu schwach und lässt sich von deiner Ungeduld beherrschen.« Ein paar Schritte entfernte er sich von mir, bevor er stehen blieb und sich umdrehte. »An der Prüfung wirst du nicht teilnehmen.«

Mit offenem Mund und verrauchter Wut blieb ich zurück. Meinte er das ernst? Hatte ich gerade meine Chance auf eine verkürzte Ausbildung verspielt? Schnaubend sprang ich auf die Füße. So schnell konnte es noch nicht vorbei sein!

Nach dem Gespräch mit Arnen trainierte ich fleißig weiter. Ich nahm mich zurück und kämpfte gegen meine Ungeduld, die schwerer in meinem Innern wog als zuvor. Sie ließ mich an meinem Handeln zweifeln. War das hier der richtige Weg? Ließ ich Kindra im Stich, indem ich hier trainierte? Doch ich hatte gesehen, was die Gold­magier zustande brachten. Wie sie das Wasser beherrschten. Die Legenden, die über sie erzählt wurden, verdeutlichten mir: Meine Chancen waren gering. Wenn ich in die Eisendynastie eindringen, es lebend bis in den Palast schaffen wollte, brauchte ich diese Ausbildung. Die Hüter waren die Einzigen, die mir dieses wahnsinnige Unterfangen ermöglichen konnten.

Entschlossen straffte ich die Schultern. Ich würde mich beweisen und Arnen umstimmen, ihm zeigen, dass ich für die Prüfung in einem Monat bereit war. Dass ich mich zurücknehmen konnte und mich im Griff hatte. Deshalb sprach ich ihn kein einziges Mal auf die Prüfung an. Er sollte sehen, dass mein Wille stärker war als meine Ungeduld.

Wenn ich erschöpft zusammenbrach, daran zweifelte, ob ich es schaffte, blieb ich hart. Ich nahm mir selbst ein stilles Versprechen ab. In Gedenken an meine Familie, Neor und Grünfrey würde ich die Eisendynastie in ihren Untergang führen.

Knochenfeuer

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