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Kindra Ein letztes Lächeln

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Stille lag über Grünfrey, dem Versteckten Dorf, während sich die Sonne von ihrem tiefsten Stand, halb über, halb unter dem Horizont, langsam wieder in den Himmel hob. »Ich liebe es.« Ich seufzte und betrachtete das Farbenspiel in den Wolken, das sich auf der Wasser­oberfläche des Hayes spiegelte und mit den goldenen Schlieren der Sonnenmagie vermischte.

Trotz der Schönheit der Dämmerung und der nie untergehenden Sonne wandte ich den Blick ab und betrachtete den Jungen neben mir, der mindestens genauso schön war. Die satten Sonnenstrahlen ließen Sakis blonde Haare in einem warmen Orange schimmern. Mein Blick wanderte über seine Arme, die von der Feldarbeit drahtig und stark waren. Zwischen den Fingern drehte er den kleinen Holzvogel, den ich vor neun Jahren geschnitzt hatte.

»Du hast ihn immer noch?«, fragte ich und Hitze stieg in meine Wangen.

Er hielt den Blick auf den Fluss gerichtet, während ein kleiner Windstoß das Leinenhemd gegen seinen Oberkörper drückte. »Er ist mein Glücksbringer«, antwortete er und schob ihn in seine Hosen­tasche.

Mein Blick fuhr sein Profil nach und als er grinste, wurde mir mein Herz leicht. Er nahm einen Stein und warf ihn in den Grenzfluss. Die Wasseroberfläche schlug kleine Wellen, bevor sie sich wieder beruhigte und die Strömung ihre gewohnten Muster zog.

Seit dem Tag meiner Ankunft war dies unser Ritual. Jeden Morgen, bevor das Dorf erwachte und wir unseren Pflichten auf den Feldern nachgingen, trafen wir uns hier.

»Ich wollte es nicht glauben«, sagte ich mit einem Lächeln und sah in Sakis Gesicht, tauchte in seine blauen Augen ein, mit denen er mich intensiv musterte.

Er lachte und mein Herz begann wilder zu schlagen. »Ich erinnere mich an die ersten Nächte, die du stur hier gesessen hast.« Seine Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an, während er auf das Ufer zeigte.

Ich senkte den Blick, spürte, wie meine Wangen brannten. Wenn ich ihn noch länger betrachtete, würde wieder dieser Wunsch erwachen, ihn küssen zu wollen. Doch für diesen Schritt war ich noch nicht bereit. Meine Blicke wanderten daher über die Wiese, auf der wir saßen, und ich betrachtete die Welt, die außerhalb der magischen Kuppel lag. Der Hayes und die Eisendynastie. Die Grünfläche am anderen Flussufer wurde in etwa fünfzig Yards von einem Wald abgelöst.

»Wie oft habe ich dir geschworen, dass die Sonne hier nicht untergeht?«

»Hunderte Male.« Ich kicherte.

»Und wie oft wolltest du mir nicht glauben?«

»Hunderte Male.«

Diesmal lachte er. Er ließ sich zurück ins Gras fallen und ich legte mich neben ihn. Sein Körper strahlte eine Wärme ab, die mir eine Gänsehaut über die Arme jagte.

Unsere Finger berührten sich fast und wenn ich mich nur etwas bewegte, könnte ich seine Hand halten.

Stur sah ich in den Himmel, tastete mich langsam voran. Als sich unsere Hände trafen, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Saki den Kopf drehte. Ich hielt die Luft an und wartete auf seine Reaktion.

Er wandte das Gesicht wieder dem Himmel zu, doch ganz vorsichtig verschränkte er seine Finger mit meinen.

Mein Herz stolperte, setzte einen Schlag aus und pochte dann umso kräftiger. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf diese Berührung, nahm diesen Moment in mich auf und vergaß beinahe, wie schwierig der Weg bis hierher gewesen war.

»Neun Jahre ist es her«, raunte Saki, als würde er meine Gedanken erahnen.

Ich brummte zustimmend.

»Ich bin froh, dass du uns gefunden hast.«

Er drückte meine Hand und ich öffnete die Augen. Als ich mich ihm zuwandte, blickte ich ihm direkt ins Gesicht. Er war nur ein paar Zoll entfernt. Saki, der Junge, den ich insgeheim liebte. Mein Zuhause.

Die Welt um uns herum schien stillzustehen. Das Plätschern des Wassers und die Gesänge der Vögel verschwanden in den Hintergrund und das einzige Geräusch schien mein zu lauter Herzschlag zu sein.

Wollte er es auch?

Dachte er auch daran, mich zu küssen? Mich, ein Goldkind?

Er lächelte und rückte ein Stück näher an mich heran. »Du bist so …«, flüsterte er.

Doch bevor er sagen konnte, was ich war, rief jemand meinen Namen. Ich schreckte auf und sprang auf die Füße. Noba stand am Dorfrand, einen Korb in den Händen.

»Die Pflicht ruft.« Sie winkte mich zu sich.

Saki stand ebenfalls auf und griff noch einmal nach meiner Hand. Die Berührung kribbelte auf meiner Haut und ich hielt gebannt die Luft an. »Ich würde es nie wagen, ihr zu widersprechen. Aber ich bin in Versuchung, dich nicht loszulassen.«

Seine Worte zauberten mir ein Lächeln ins Gesicht, das so ehrlich und leicht war, dass ich glaubte zu schweben.

»Ich verspreche dir, dass wir morgen da weitermachen, wo wir heute aufgehört haben«, flüsterte ich und Hitze stieg mir in die Wangen.

Konnte es sein, dass Saki mehr für mich empfand?

»Ich werde heute Nacht kein Auge zutun«, raunte er. »Bis morgen.«

»Bis morgen«, bestätigte ich und ließ tausend Worte ungesagt. Seit wann war das so? Mein Herz schlug schnell, als ich Saki einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte und ihn dann widerwillig zurückließ.


Die Sonne stand hoch am Himmel, als ich seufzend den Blick hob. Es war weit nach Mittag. Wenn ich die Augen schloss, sah ich wieder Sakis Gesicht so nah vor meinem.

»Bringst du das bitte zu den Karens und kommst mit Saki zurück? Ihr müsst mir beim Tragen helfen.« Noba riss mich in die Gegenwart zurück und hob eine der Kisten hoch, die neben ihr im Gras standen. Ihre olivfarbene Haut glänzte im Sonnenlicht und ihr schwarzes Haar fiel ihr verschwitzt in die Stirn. Die Kisten waren mit verschiedenen frisch geernteten Früchten gefüllt, die allein aus unserem Garten stammten. Die Sonne ließ die Aussaat sprießen und ermöglichte es, ganzjährig zu ernten. Seit wir hier lebten, hatte ich nicht mehr gehungert.

Noba reichte mir die kleinste Kiste, die mit Erdbeeren gefüllt war.

Sakis kleiner Bruder wird vor Freude platzen, dachte ich und grinste in mich hinein. Beim Gedanken daran, Saki nach unserem Versprechen gleich wiederzusehen, färbten sich meine Wangen rot.

Ohne weiteres Zögern eilte ich los. Von unserem Vorgarten bis zu Sakis Hütte war es nicht weit. Mit der Kiste in den Händen rannte ich über zwei Hügel, bis die Hütte in Sichtweite kam. Saki stand mit seinem Vater vor der Tür und sein Haar leuchtete golden im Sonnen­schein. Sein Anblick ließ mein Herz straucheln und ich grinste, während ich näher kam. Er war perfekt.

Sein Vater sah wie eine kleinere und ältere Version von Saki aus. Doch die Jahre auf den Feldern unter der magischen Sonne ließen ihn jünger wirken, als er tatsächlich war. Die beiden unterhielten sich und wirkten dabei angespannt.

»…zu still«, hörte ich Saki noch sagen, bevor sie ihr Gespräch unterbrachen und mich musterten, als ich sie erreichte. Im Vorbei­gehen begrüßte ich die beiden, brachte die Kiste in die Hütte und stellte sie auf den Tisch. Im Wohnraum reihten sich Blumentöpfe vor den Fenstern aneinander und bunte Decken und Kissen stapelten sich an einer Wand. Ich liebte diesen Raum, die heimelige Atmosphäre, die ich in all den Jahren auf der Flucht vermisst hatte. Wie gern hätte ich mich jetzt in den kuscheligen Kissenberg hineinfallen lassen und den restlichen Tag gefaulenzt. Aber Noba wartete, also wandte ich mich ab und wollte die Hütte verlassen. Plötzlich erklangen Schreie und ich erstarrte. Sie kamen aus dem Osten, der Richtung, in der die Eisendynastie lag. Das Blut verwandelte sich in meinen Adern zu Eis. Hatten sie uns gefunden? Nach all den Jahren?

»Kindra!«, rief Saki von draußen. Seine Stimme klang belegt. Ich rannte aus der Hütte, prallte mit ihm zusammen und sah in seine geweiteten Augen. Die Schreie waren verebbt und eine unheimliche Stille lag über dem Dorf.

Saki nahm meine Hand und zog mich an sich. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich sog seinen vertrauten Duft in mich auf. Doch er konnte die Angst nicht vertreiben, die die Schreie in mir erweckt hatten.

Grünfrey war friedlich, Grünfrey war sicher. Die Sonne schützte uns.

So viele Jahre waren in Ruhe vergangen. Das hier war nur ein falscher Alarm. Oder?

»Ich bringe sie weg!«, sagte Saki zu seinem Vater und zog mir die Kapuze über den Kopf. Beinahe hatte ich vergessen, dass dieses Stück Stoff existierte.

»Geht zum Schneegipfel und versteckt euch in der Höhle. Ich hole die anderen und dann folgen wir euch.« Sakis Vater hatte die Augenbrauen zusammengezogen, eine tiefe Furche durchzog seine Stirn. Seine Worte hallten befremdlich in meinem Kopf wider. Diesen Schutzplan hatten wir vor so vielen Jahren entwickelt. Dass er jemals greifen würde …

Ich versteifte mich. »Noba wartet auf uns und ich weiß nicht, wo Kork ist.«

Saki ging einen Schritt zurück und packte meine Oberarme. Seine blauen Augen blickten mir voller Furcht entgegen. »Sie werden nachkommen. Wir müssen dich verstecken, zur Sicherheit.« Er zog mich an der Hand aus dem Dorf hinaus zu den westlichen Hügeln. Der Eingang zum Bergpfad lag nordwestlich des Dorfes. Widerwillig setzte ich meinen Körper in Bewegung.

Geduckt liefen wir hinter den Grashängen entlang nach Norden, und als wir einen besonders hohen Hügel passierten, legte sich Saki auf den Bauch und kroch zur Hügelkuppe. Ich tat es ihm nach. Wir sahen vorsichtig zum Dorf zurück und ich glaubte zu träumen.

Das Bild, das sich uns bot, konnte nur einem Albtraum entsprungen sein!

Das gewohnte Flimmern der Sonnenmagie war stellenweise verschwunden und ein großes Loch klaffte über dem Grenzfluss. Der Hayes erhob sich, als würde er anschwellen, jeden Augenblick mehr Wasser in sich aufnehmen. Er baute sich wie eine Mauer auf. Ein Grollen fegte unheilvoll über das Dorf, der Fluss schlug wie ein Ungeheuer um sich. Er bäumte sich auf und brach auf das Dorf nieder, begrub alles unter seinen Wassermassen. Schreie ertönten und brachen ab. Die Häuser zerbarsten und wurden vom Fluss mitgerissen.

Nach kurzer Zeit war Grünfrey zerstört und von Wasser bedeckt. Die Flut hielt sich wie in einer Glasglocke über dem Dorf.

Warum sich Saki bewegen konnte und nicht wie ich erstarrt auf die unerbittliche Flut starrte, war mir schleierhaft. Er zerrte mich mit sich, während ich mich daran zu erinnern versuchte, wie Atmen funktionierte.

Der Ort, der für mich mehr Heimat gewesen war als jeder andere zuvor, war fort. Noba. Kork. Was war mit ihnen?

Wir erreichten den Fuß des Schneegipfels, den höchsten Berg im Norden mit weißer Krone. Der Pfad zur Höhle nahm seinen Anfang in einer kleinen, versteckten Felsspalte. Er schlängelte sich bis zur Kuppe hinauf, verborgen zwischen der steilen Felswand des Berges und teilweise künstlich angelegtem Gestein, das an eine Mauer erinnerte. An manchen schwer zugänglichen Stellen verlief der Pfad ungeschützt und wirkte mehr wie eine Brücke oder offene Plattform. Dann befand sich unter dem Weg nur wenig Gestein.

Ein Grund, warum mir hier immer etwas mulmig zumute war.

In unregelmäßigen Abständen ermöglichten in die Außenmauer gehauene Löcher einen Blick hinaus zu der nun überschwemmten Hügellandschaft. Der Pfad existierte angeblich seit Jahrhunderten und wurde von den Einwohnern Grünfreys gehegt und gepflegt. Es gab stets etwas zu tun, da der Berg ewig in Bewegung zu sein schien.

Geduckt eilte ich Saki hinterher, der den Weg hinaufhechtete. Unsere Schritte wurden schneller, während der Fluss zu unserer Rechten mit ohrenbetäubendem Rauschen tobte. Der Wasserspiegel stieg weiter an, und als wir die Höhle erreichten, schwappten die Wasser­massen wenige Fuß unter uns gegen die Felswand. Nur ein paar Hügel ragten aus dem wild gewordenen Fluss empor.

Zitternd legte ich meine Hand in Sakis. Er verschränkte seine Finger mit meinen, ohne mich anzusehen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet und seine Mundwinkel zuckten wütend. Eine dunkle Vorahnung braute sich in mir zusammen, als ich seinem Blick folgte. Keuchend schlug ich die freie Hand vor den Mund. In der Eisen­dynastie, auf der anderen Seite des Hayes, standen etwa dreißig Personen, die von hier nur wie kleine gesichtslose Puppen wirkten. Zehn von ihnen hatten sich am Grenzfluss aufgestellt und ihre Hände erhoben. Die Luft vor ihnen vibrierte und schwarze, flackernde Fäden verwoben sich mit dem Fluss. Weitere dunkle Schlieren hielten das Loch in der Kuppel aus Sonnenmagie geöffnet. Die Magier der Eisendynastie. »Goldmagier«, keuchte ich. Wie hatten sie mich gefunden? Suchten sie mit ihrer Magie nach mir? Wie hatten sie die Magie der Sonne brechen können?

Schon zog Saki mich weiter. »Wir müssen höher!«

Kopfschüttelnd versuchte ich ihn zu bremsen. »Die anderen wollten sich hier mit uns treffen.« Ich würde nicht ohne sie gehen. Nicht ohne meine Familie. Noch immer hegte ich die Hoffnung, dass sie den Fluten nicht zum Opfer gefallen waren.

Es konnte doch nicht schon vorbei sein! Das ruhige Leben, für das wir so lange durch das Gezeitenreich geirrt waren.

»Die anderen werden nicht kommen«, stellte Saki traurig fest. »Das Wasser steigt. Kindra, sie dürfen dich nicht finden.« Wie gebannt verharrte mein Blick auf den dunkel schimmernden Fäden, die sich mit dem Wasser verbanden. Wenn mich die Magier fanden, was würde geschehen?

Spielte das überhaupt eine Rolle? Jetzt, da mein Zuhause zerstört, meine Familie tot war?

Der Druck in meiner Brust hinderte mich beinahe am Atmen.

Saki zog mich an der Hand mit sich. Stumm gehorchte ich, trottete hinter ihm her und weinte. Ich beweinte Noba und Kork. Sakis Eltern und seinen Bruder Neor. Die gutmütige Gastwirtin und ihren Mann. Ich beweinte meine verlorene Heimat. Die schönen Hügel und saftigen Wiesen. Die üppigen Felder und die Dämmerung am Hayes. Jetzt hatte ich nur noch Saki. Und er mich. Ging es ihm wie mir? Wie konnte er angesichts dieser Katastrophe noch auf den Beinen stehen?

Je höher wir stiegen, desto unebener wurde der Pfad. Nach etwa einer Stunde erreichten wir eine große Plattform, von der aus wir das Dorf überblicken konnten. Es lag immer noch unter Wasser, versunken unter einem von Magie beherrschten See. Von hier oben wurde ich mir erst richtig der Zerstörung bewusst, die die magischen Fluten angerichtet hatten. Ich schluckte und krallte mich an der Mauer fest, während ich nach unten sah. Meine Blicke wanderten über die im Wasser treibenden Holzteile und Splitter. Bruchstücke von Häusern und Möbelstücke, die noch vor wenigen Momenten Zeugen von glücklichen Leben gewesen waren, schwankten verloren in den Wellen. Zitternd verstärkte ich den Griff um das Gestein.

Saki trat neben mich. Er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und fixierte mich mit einem ernsten Blick. »Ich bin für dich da«, flüsterte er. »Der König der Eisendynastie wird dich nicht bekommen.«

Dankbar hob ich die Hand und verwob meine Finger mit seinen. Eine Berührung, die mich heute Morgen noch so viel Überwindung gekostet hatte. Doch jetzt sehnte ich mich nach der Geborgenheit, die ich zu Beginn des Tages verspürt hatte.

Saki lächelte traurig, doch der Schmerz in seinen Augen hielt mich in der Gegenwart fest. Wir hatten alles verloren.

Bevor ich es mir anders überlegte, schmiegte ich mich an ihn. Es dauerte zwei Herzschläge, bis er aus seiner Überraschung erwachte und die Arme um mich schlang. Seine Körperwärme hüllte mich ein, während sich seine Brust unter seinen Atemzügen hob und senkte.

Wir gönnten uns einen Moment, der viel zu schnell vorbei war.

»Kannst du weiter?«, fragte er.

Ich nickte und er löste sich aus unserer Umarmung. Meine Hand hielt er dennoch fest. Der Weg bog sich wie eine Brücke über den Abgrund, zu dünn und zu gebrechlich. Erst ein paar Fuß weiter verschmolz der Pfad wieder mit der Felswand. »Ich hasse es, dass sich unter uns nichts befindet.«

Der Ausdruck in Sakis Augen wurde weich. »Nicht mehr lang, dann sollten wir den Tunnel erreichen.«

»Warst du schon mal dort?«, fragte ich.

»Mein Vater hat mir davon erzählt. Er führt durch den Berg auf die Hochebene.«

Ich schluckte und ließ mich von Saki einige Schritte ziehen. Meine Tränen waren mittlerweile versiegt, doch mein Körper schüttelte sich immer wieder in stummen Schluchzern. Saki strich mir über die Wange. »Wir sollten uns beeilen, wenn wir über die Brücke gehen. Nicht dass uns jemand sieht.«

Wir positionierten uns im Schutz der Außenmauer und sahen einander an. Mit einem Nicken gab ich Saki zu verstehen, dass ich bereit war.

Geduckt hechteten wir den Weg hinauf. Nach nur wenigen Schritten war mir Saki ein Stück voraus und der Zug seiner Hand nahm zu.

Ich blieb mit dem Fuß in einer Kuhle hängen und schlug der Länge nach hin. Bei meinem Sturz lösten sich unsere Finger vonei­nander und Saki taumelte. Drei Fuß entfernt landete er auf den Knien.

Er richtete sich auf, als ein mir vertrautes Grollen brechendes Gestein ankündigte. Der Boden brach unter Saki weg. Mit einem schnellen Satz nach vorn rettete er sich, bevor das Gestein unter ihm in die Tiefe stürzte und schließlich in den Fluten versank.

»Alles in Ordnung?«, rief ich.

Er rappelte sich auf und klopfte sich Staub und kleine Kiesel von den Kleidern. »Nichts passiert«, krächzte er und trat näher an den Spalt, der nun zwischen uns klaffte.

Ich stützte mich an der Felswand ab und wagte mich ebenfalls vorsichtig näher. Wie groß war die Lücke? Sechs Fuß?

Unter mir knackte es.

»Spring!«, schrie Saki. Seine Stimme klang verzweifelt und in seinen Augen blitzte Furcht auf.

Eiseskälte kribbelte unter meiner Haut. Ich schüttelte den Kopf. »Das schaffe ich nicht!«

»Du musst!«

Ich sah nach unten. Wie lange würde der Boden mich noch tragen, bevor er weiter einbrach? Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und atmete zweimal tief ein und aus. Dann straffte ich die Schultern und erfasste meine Situation.

Der Abgrund vor mir gab den Blick auf das tosende Wasser frei. Weiße Gischt schlug gegen den Berg. Und auf der anderen Seite des Flusses standen die Männer, die für diese Katastrophe verantwortlich waren.

Dabei hatte der Tag so friedlich begonnen.

Tränen rannen aus meinen Augen, suchten sich einen Weg über meine Wangen und sammelten sich an meinem Kinn. Ich biss die Zähne zusammen und ging ein paar Schritte rückwärts, nahm Anlauf. Dann rannte ich los, drückte mich mit den Füßen am Rand der Klippe ab und sprang. Nicht weit genug. Ich riss die Hände nach vorn und versuchte, meine Finger in die Felswand zu graben. Der raue Stein riss mir die Handflächen auf. Meine Fingernägel zersplitterten am harten Fels. Dreck kam in die Wunden und brannte. Augenblicklich setzte das Kribbeln und Jucken ein, das meine Selbstheilungskräfte ankündigte.

Der Aufprall gegen die Felswand hatte die Luft aus meiner Lunge gepresst. Ich keuchte, versuchte zu atmen. Lichtflecken tanzten vor meinen Augen, ließen die Bilder und Geräusche um mich herum irrational erscheinen, als wäre alles nur ein Traum.

Das musste es sein, oder? Nur die kranke Fantasie eines Albtraums. Wenn ich erwachte, lebte meine Familie noch und wartete nur darauf, dass ich auf den Feldern half. Wir würden unserer Routine nachgehen und unser friedliches Leben weiterführen.

Ich hörte Saki meinen Namen schreien. Hörte, wie er mich anflehte, nach seiner Hand zu greifen.

Doch ich sah keine Hand.

Mühsam zog ich mich näher zur anderen Seite des Spalts. Zu Saki. Doch wieder grollte der Fels und ich verlor den Halt, rutschte weiter nach unten. Ich schürfte mir die Knie auf und mein Körper reagierte wieder mit einem Jucken.

Ich hob den Kopf, konnte Sakis Gesicht in dem wirren Gemisch aus Bildern und Licht erkennen. Ein letztes, ein trauriges Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, dann verlor ich den Halt und fiel und fiel und fiel.

Knochenfeuer

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