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Kindra Geschichtenjagd
ОглавлениеNeun Jahre zuvor
Zitternd griff ich nach der Kapuze und zog sie tiefer ins Gesicht. Ich presste mich an Noba, die rechts von mir stand. Sie legte mir einen Arm um die Schulter und drückte mich an sich, doch mein Körper bebte. Die Berührung beruhigte mich nicht. Banditen waren wie aus dem Nichts vor uns aufgetaucht und hatten uns den Weg abgeschnitten.
Während der Regen auf uns niederprasselte, donnerte Korks Stimme hart und bedrohlich durch die Luft.
»Was wollt ihr von uns?«
Unter dem Saum meiner Kapuze hindurch konnte ich Korks Füße sehen. Er trat vor mich und Noba. Das Leder seiner Stiefel war mit Matsch beschmutzt und aufgeweicht. Wasser spritzte bei seinen Schritten unter den Sohlen hervor und ich hörte das vertraute Klirren, als er sein Schwert zog. Er senkte die Hand und die Spitze tauchte funkelnd neben seinem linken Knöchel auf. Meine Hände zitterten und ich war in Versuchung, unseren Feind anzusehen. Doch ich hielt den Kopf gesenkt.
Ein düsteres Lachen erklang vor uns, bevor hinter uns weitere Stimmen in das Gelächter einfielen. Wir waren umzingelt.
»Was habt ihr denn zu bieten?«, wollte die fremde Stimme wissen.
Mit der Spitze der Klinge zog er kleine Kreise neben seinem Bein und verlagerte das Gewicht vom linken auf den rechten Fuß. Nobas Armmuskeln spannten sich an. Ihre Hand lag noch auf meiner Schulter, doch unter dem Stoff ihres Umhangs spürte ich, dass sie ihre rechte Hand an ihre Hüfte führte, wo sie ihren Dolch versteckt hielt. Sie bereitete sich auf einen Kampf vor.
»Wir sind arme Landstreicher«, log Kork. »Wir haben nichts.«
»Deine Klinge würde mir reichen«, sagte einer der Männer und kam näher.
Meine Beine zitterten. Plötzlich klirrte Metall auf Metall und ich schnappte nach Luft. Die Männer stürzten sich in den Kampf und ihre Schritte erzeugten eine schaurige Melodie. Ich beobachtete weiterhin den Matsch um mich herum, auch wenn ich am liebsten weggelaufen wäre. Noba ließ mich los und machte einen Schritt zur Seite. Ich zuckte zusammen und vermisste augenblicklich ihren Schutz.
»Links«, sagte sie und ich gehorchte, sprang nach links und wich ungesehenen Gefahren aus.
»Ducken«, zischte sie und ich duckte mich.
»Hinten!«
Ich wich zurück, rutschte auf einem nassen Ast aus, taumelte und fiel zu Boden. Bevor ich mich aufrappeln konnte, packten mich zwei kräftige Hände an den Schultern und zerrten mich auf die Beine. Die Gestalt riss mich herum und zog mir die Kapuze vom Kopf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Mann mich an. Er pfiff und drehte mich abermals um. Nun erblickte ich die Kampfszene, die sich mir auf dem Waldweg darbot. Kork kümmerte sich um drei Angreifer, einer davon lag gekrümmt am Boden, während die anderen zwei ihn umkreisten. Noba rammte einem Mann ihren Dolch in den Bauch. Er sackte auf die Knie, presste seine Hände gegen die Wunde und stöhnte, bevor er zu Boden fiel. Von rechts sprang eine Frau auf Noba zu und kratzte ihr übers Gesicht.
»Ihr werdet es nicht glauben«, rief der Mann, der mich festhielt. »Wir haben ein Goldkind gefangen!«
Chaos brach aus. Kork erstarrte für den Bruchteil eines Augenblicks. Einer seiner Angreifer nutzte diese Gelegenheit und schnitt ihm mit einem Messer ins Bein. Taumelnd wich Kork einen Schritt zurück, bevor er sich wieder fing. Er parierte die Klinge des zweiten Angreifers und duckte sich, um im nächsten Atemzug kräftig gegen das Knie des ersten zu treten. Es knackte laut, dann folgte ein schmerzerfüllter Schrei. Die Frau neben Noba starrte meine goldenen Augen mit geöffnetem Mund an – ein Fehler, den sie büßen sollte. Noba schlug ihr mit dem Dolchknauf auf den Hinterkopf und die Frau sackte bewusstlos zusammen.
Mit gebeugten Knien und erhobenem Dolch stand Noba bereit wie eine Katze zum Sprung. Ihr schwarzes Haar klebte nass an ihren Wangen, umrahmte ihre geradlinigen Gesichtszüge. Sie blickte von mir zu Kork. Die Zeit schien stillzustehen, während mir das Herz in der Brust fast zersprang. Sie setzte den rechten Fuß nach vorn, um Kork zu Hilfe zu eilen.
Die Hände des Mannes zitterten auf meinen Schultern, dann zog er sein Messer und hielt es mir an die Kehle. Kühl traf das Metall auf meine Haut.
Noba duckte sich und sprang auf Korks Angreifer zu. Sie rammte ihm den Ellbogen in den Rücken. Gleichzeitig traf Kork ihn mit der Klinge an der Taille und der Mann sank zu Boden.
Einen Herzschlag lang verharrten ihre Blicke auf dem schlaffen Leib, dann lösten sie sich und kamen langsam auf mich und meinen Geiselnehmer zu. Bedrohlich und stark glänzten Nobas und Korks nasse Körper im schwachen Licht, das nur spärlich durch einzelne Risse der Wolkendecke brach. Wassertropfen funkelten auf dem Leder ihrer Kleidung und färbten die Umhänge dunkel.
»Lass sie los«, donnerte Korks Stimme.
Die Arme des Mannes hinter mir bebten, die eiskalte Klinge berührte zitternd meine Haut am Hals. »Ich bring sie um«, sagte er laut, doch seine Stimme brach.
»Wenn du sie gehen lässt, tun wir dir nichts.« Noba blickte dem Mann mit erhobenem Kinn entgegen. Das Funkeln in ihren Augen wirkte ehrlich. Selbst nach all den Jahren zweifelte ich für einen Moment an ihrer Lüge.
Der Mann zögerte, ließ dann aber von mir ab, schubste mich auf Noba zu und rannte davon. Kork zog ein Wurfmesser aus seinem Umhang und mit einer gekonnten Armbewegung warf er es dem Mann hinterher. Es fand sein Ziel im Rücken des Mannes, der hinfiel und reglos am Boden liegen blieb.
Kork ging zu den Verwundeten und tötete sie mit einem gezielten Stich in den Hals.
Noba nahm mich in den Arm und mein Herzschlag beruhigte sich. In einer fließenden Bewegung zog sie mir die Kapuze über den Kopf, wo sie hingehörte. Der feuchte Stoff klebte an meiner Haut und verbarg das einzig sichtbare Zeichen für meine Absonderlichkeit – meine goldenen Augen.
»Es ist besser so«, murmelte sie.
Tränen liefen mir über die Wangen und vermischten sich mit dem Regen. Noba schob mich zu Kork.
»Bist du verletzt?«, fragte sie ihn.
Er brummte und fuhr mit dem Finger über den Riss in seiner Hose. Der Stoff war blutgetränkt und klaffte über dem tiefen Schnitt auf. Ich strich mir mit den Händen die Tränen und den Regen aus dem Gesicht, dann berührte ich Korks Wunde. Das Blut wärmte meine Finger. Darunter begann die Haut zu vibrieren und die Verletzung verheilte.
Noba ging neben mir in die Hocke.
»Danke«, sagte sie und Kork drückte mir einen Kuss auf den Kopf.
In Nobas Gesicht leuchteten die Kratzer in verschiedenen Rottönen. Ich drückte meine Wange an ihre und die Wunden verschwanden unter meinen Tränen. Noba schlang die Arme um mich und hob mich hoch. Sie wiegte mich ein paar Mal hin und her, ehe sie mich zurück auf den Boden sinken ließ.
Schweigend setzten wir unsere Reise fort.
Dicke Tropfen fielen vom dunklen Himmel herab. Der Wind blies stärker als sonst und heulte melodisch durch die Höhle, in der wir Schutz gesucht hatten. Seit einem Jahr reisten wir nun schon durch das Gebiet des Ewigen Regens. Meine Kleider waren nass und in dieser Zeit nie richtig getrocknet. Ich rieb mir über die Arme, um das klamme Gefühl zu vertreiben. Vergeblich.
Neben der Kälte nistete sich etwas Neues in mir ein. Weitere Bilder von Toten, die aufgrund meiner Existenz ins Verderben getrieben worden waren.
Ich krabbelte zu Noba, die an einer Wand auf dem Boden saß, und kuschelte mich an sie. »Erzählst du mir eine Geschichte?«
Noba strich mir sacht übers Haar und nahm mich in den Arm. »Was möchtest du denn hören?«
»Wie ihr euch kennengelernt habt!«, rief ich und machte es mir an Nobas Brust bequem. Kork brummte im Schlaf und drehte sich um.
»Also gut«, begann Noba. »Es begann alles vor neun Jahren. Kurz bevor wir dich gefunden haben.« Mit ihren Fingern fuhr sie über meinen Arm, während mich ihre Stimme leise in eine andere Zeit entführte. »Kork und ich jagten der Legende der Golddüne hinterher, durch die wir uns Vergebung unserer Fehler und neuen Ruhm erhofften. Er für seinen Clan und ich für meinen. Wir begegneten uns in der Wüste, und wie du weißt, wollte keiner dem anderen den Schatz überlassen.« Ein Lächeln schwang in ihrer Stimme mit und ich schloss die Augen.
»Wie war es an diesem Tag in der Wüste?«, fragte ich.
»Es war heiß und der Sand peitschte uns gegen die Beine, während wir unermüdlich gegeneinander kämpften.«
»Du hast gewonnen«, sagte ich. Die Geschichte kannte ich bereits auswendig. Trotzdem hörte ich sie gern.
Noba lachte. »Ja, ich habe gesiegt und Kork davongejagt.«
»Und dann?«, fragte ich, um die Erzählung wieder Noba zu übergeben. Ich öffnete die Augen und suchte ihren Blick, doch die Dunkelheit der Höhle verschluckte uns und verhüllte Nobas Gesicht vor mir.
»Ich setzte meinen Weg fort und erreichte die Schlucht, in der der Schatz der Legende nach verborgen war. Doch sie war leer. Ich weiß nicht, ob der Schatz jemals existiert hat oder ob ihn jemand vor mir gefunden hat.«
Ich verschränkte die Finger mit ihren und dankte ihr still. Die Legende hatte Noba fort von ihrer Heimat und hin zu mir geführt.
»Ohne den Schatz konnte ich nicht zurück. Zu groß wäre die Schande gewesen. Während ich umherirrte, wurde ich vom Sandvolk überfallen, ein Pfeil traf mich in die Schulter und ich stürzte eine Düne hinab.« Noba legte ihre Wange auf mein Haar und lachte kaum hörbar. »Kork war mir gefolgt, weil er dachte, er könne mir den Schatz abnehmen. Doch er rettete mich. Er trug mich zwei Tage lang durch die Wüste.« Beim Klang seines Namens gab Kork ein brummendes Geräusch von sich. Ob er uns zuhörte?
In Nobas Stimme schwang Zuneigung mit, als sie weitersprach: »Er hätte mich zurücklassen können, aber er hat es nicht getan. Stattdessen floh er mit mir vor dem Sandvolk. Wir rasteten in einer kleinen Ruine im Westen der Wüste und Kork fand dort ein großes goldenes Ei.«
Ich hielt die Luft an, wie jedes Mal an dieser Stelle, bevor Noba die Worte aussprach, mit der sie die Geschichte beendete und mein Leben begann.
»In diesem Ei warst du.«
Am nächsten Morgen rüttelte mich Kork wach. Ich rieb mir die Augen und setzte mich auf. Der Feuerschein tanzte in den Schatten der Höhle. Ich robbte näher und rieb die Hände gegeneinander, bevor ich sie vor den Flammen wärmte. Draußen herrschte diesiges Licht und langsam herabfallende, schwere Tropfen perlten vom Eingang der Höhle.
»Wir gehen bald weiter«, sagte Kork und ich rollte als Antwort meine Decke zusammen. Nachdem ich das Bündel festgeschnürt hatte, stopfte ich es in meinen Beutel und legte diesen an die Wand.
»Hast du schon Frühstück gemacht?«, fragte ich ihn und sah wieder nach draußen. Der Regen hatte fast aufgehört, aber nur fast. Weniger als jetzt wurde es nie. Ich hatte den Ewigen Regen satt. Viel mehr mochte ich die Wüste, in der wir die ersten Jahre verbracht hatten. Am liebsten würde ich dorthin zurückkehren. Doch im Regen konnte ich mich gut unter meiner Kapuze verstecken. Trotzdem war das steinerne Tal, in dem dieses schreckliche Wetter herrschte, unsicher. Es war egal, wo ich mich aufhielt. Überall lebte ich in Gefahr.
Kork brummte und schüttelte seine nassen Haare. Der spitze Bart, der ihn als Krieger auszeichnete, war verwachsen und krumm, während sein Körper weiterhin verriet, wie unglaublich stark er war.
»Ich bin bestimmt eine Stunde in der Kälte herumgeirrt. Ohne Erfolg.«
Ich seufzte, setzte mich nah ans Feuer und starrte in die Flammen. Noba war noch unterwegs und ich hoffte, dass sie fündig wurde. Mein Magen zog sich bei dem Gedanken zusammen, schon wieder auf Essen verzichten zu müssen.
Kork ließ sich neben mir nieder und reichte mir einen dicken, kurzen Ast, der neben dem Feuer zum Trocken gelegen hatte. »Zirbelholz«, sagte er und nahm sich einen zweiten. Aus einer kleinen Scheide an meiner Hüfte holte ich das Messer hervor, das ich mit Kork zusammen hergestellt hatte. Die Klinge war aus einem schimmernden schwarzen Stein, den wir in der Wüste gefunden hatten. Das Material war so fest, dass wir es nur bearbeiten konnten, weil der Stein aus mehreren robusten Scheiben bestand, die wir voneinander trennen konnten.
Kork zeigte mir, wie man schnitzte, und ich ahmte ihn nach. Langsam verwandelte sich das Holz in meinen Händen zu einem Vogel.
Wir versanken in unseren Gedanken und sahen erst wieder auf, als Noba eine Stunde später in die Höhle trat. Grinsend hielt sie zwei Hasen in die Höhe. Kork verdrehte die Augen, aber seine Mundwinkel zuckten verräterisch. »Angeberin«, meinte er mit einem Schmunzeln.
Zur Antwort hob Noba provozierend eine Augenbraue und entlockte Kork damit ein brummendes Lachen.
Wir grillten die Hasen über dem Feuer. Einen packten wir für unterwegs ein und den zweiten teilten wir direkt auf.
»Gehen wir weiter nach Osten?«, fragte ich.
Noba nickte und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. »Wir können auch umkehren«, sagte sie, doch ich hörte die Hoffnung ihrer Stimme, die verriet, wie sehr sie sich einen Ort wünschte, an dem sie ankommen konnte. Und der lag im Osten, wenn wir der Geschichte glaubten.
»Nein«, sagte ich schnell. Ich drehte das Fleisch in den Händen, froh über das Essen. Doch die Unsicherheit über die Existenz unseres Ziels ließ sich damit nicht vertreiben. »Glaubt ihr, dass die Geschichte vom Versteckten Dorf stimmt? Dass die Sonne das Dorf tatsächlich beschützt?« Ich sah erst in Nobas und dann in Korks Augen, die einen Funken Hoffnung enthielten, seit wir vor einigen Wochen von diesem Ort gehört hatten. Ihr Blick löste in mir den Wunsch aus, Noba und Kork etwas zurückzugeben. Seit vielen Jahren zogen sie gemeinsam mit mir rastlos durch das Land, aus Angst, jemand würde mich erkennen und an die Eisendynastie verkaufen. Noba und Kork hatten viel für mich aufgegeben. Nun war ich an der Reihe.
Trotzdem behagte es mir nicht, weiter nach Osten zu ziehen – geradewegs auf das feindliche Land zu.
»Ich glaube, dass es einen Versuch wert ist, das Dorf zu suchen«, meinte Kork. Er zuckte mit den Schultern. »Auch wenn wir unterwegs Eisenmännern begegnen könnten. Aber mit ihnen werden wir im Notfall schon fertig.«
Der Name der Einwohner der Eisendynastie jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich hatte noch nie einen gesehen, doch ich stellte sie mir als große Männer vor, kalt wie Eisen und mit gierigen Augen. Sie verschleppten Goldkinder wie mich und brachten sie ihrem König. Bisher hatten sie sich noch nicht über die Grenze gewagt und nur in ihrem eigenen Land Jagd auf meinesgleichen gemacht. Hatte sich das geändert? Ein mulmiges Gefühl lag in meinem Bauch. Das Versteckte Dorf befand sich angeblich direkt am Grenzfluss. Ob die Kraft der Sonne es wirklich vor der Eisendynastie schützte?
»Es gibt Eisenmänner im Gezeitenreich?«, flüsterte ich ungläubig.
»So ein Blödsinn. Warum sollten wir auf unserem Weg Eisenmännern begegnen?«, fragte Noba. Sie warf einen abgenagten Knochen ins Feuer und starrte Kork herausfordernd an.
»Es gab immer wieder Überfälle.« Kork verschränkte die Arme. »Die Eisenmänner sind unter uns. Auf dieser Seite der Grenze!«
Noba lachte kurz. »Gibt es dafür Beweise?« Sie stand auf und stemmte die Hände in die Hüfte. Sie tat selbstsicher, aber ihre Unruhe war durch ihre Angst begründet, Kork könnte recht haben.
»Natürlich gibt es die!« Kork sprang auf die Füße. »Verschwundene Goldkinder. Brennende Städte. Das ist das Werk der Eisenmänner.«
Noba stieß ihm mit dem Finger gegen die Brust. »Das könnten auch einfache Banditen gewesen sein«, meinte sie.
Ich stand auf und schulterte meinen Beutel. Das Seil drehte ich zwischen den Fingern. »Aber das Dorf ist sicher, oder?« Augenblicklich beruhigten sich die beiden.
Kork stahl sich einen schnellen Kuss von Noba und beendete damit ihre Diskussion. Seine Gesichtszüge wurden weich und er legte mir die Hände auf die Schultern. »Sicher und von Magie umgeben.«
»Und schlecht zu finden«, ergänzte Noba. »Das Dorf lässt nicht alle Besucher eintreten.«
»Und wir dürfen passieren?« Ich schluckte, gespannt auf ihre Antwort.
Noba streichelte mir über die Wange. »Du bist etwas Besonderes. Die Sonne wird dich sicher schützen wollen.«
Ungesagt blieb ein Satz in der Luft hängen, den keiner von uns erneut aussprechen wollte: Wenn die Geschichte wahr ist.
Schweigend traten wir aus der Höhle in die kalte Umarmung des Regens.
Bei dem Anblick der verschütteten Straße sammelten sich Tränen in meinen Augen und ich presste die Hände dagegen. Zu wertvoll war die heilende Magie meiner Tränen, die ich vergeudete. Das Einzige, was ich Noba und Kork bisher hatte zurückgeben können.
»Wir finden einen anderen Weg«, krächzte Kork. Seine Stimme wurde vom Regen beinahe übertönt, doch ich erkannte die Unsicherheit, die sich mittlerweile eingeschlichen hatte. Wie oft hatte er das bereits gesagt? Sieben Mal?
Ich schluckte und versuchte stark zu sein, so wie Noba und Kork es für mich waren. Also nahm ich die Hände von den Augen und betrachtete den versperrten Weg vor uns. Schon wieder eine Sackgasse. Mein Blick wanderte über die Felswände, die sich unüberwindbar hoch zu beiden Seiten erstreckten, so weit wir sehen konnten.
»Ziehen wir weiter!«, rief uns Noba zu. Der Regen wurde stärker und eine Windböe peitschte die Tropfen in unsere Gesichter. In Strömen floss das Wasser den Weg runter, den wir heraufgekommen waren.
»Seht, dort.« Kork deutete auf eine Stelle an der Felswand, die uns den Weg zu unserem Ziel versperrte.
Wir kämpften uns näher heran und erkannten eine Öffnung.
»Vielleicht eine Höhle?«, fragte Noba und zwängte sich hinein. Wir warteten einige Herzschläge, bis sie uns zurief, dass wir ihr folgen sollten. Hatte ich mir vor Tagen noch über Korks abgemagerten Zustand Sorgen gemacht, so war ich nun froh, dass er durch die Felsspalte passte.
Ich rollte mich in der kleinen Höhle zusammen, während Noba und Kork noch einmal loszogen, um Feuerholz und etwas zu essen zu suchen.
Sie kehrten mit leeren Händen zurück.
Als die Nacht kam, erlosch auch das letzte diesige Licht, das durch die Spalte in die kleine Höhle gefallen war.
»Wieso?«, jammerte ich. »Wieso ist es so schwer?«
»Es heißt nicht umsonst das Versteckte Dorf.« Noba regte sich, strich über meine Schulter und suchte nach meiner Hand. Als sie sie gefunden hatte, drehte sie die Handfläche nach oben. »Stell dir vor, deine Hand ist Odre, unsere Welt.«
Ihre Fingerspitzen kitzelten, als sie mir über meine Haut strich.
»Odre ist eine Scheibe wie deine Hand. Am Rand befindet sich ein Gebirge, hinter dem das Ende der Welt liegt.« Mit ihrem Finger zog sie einen Kreis um meine Handfläche, malte die Bergkette in meinen Gedanken, um dann anzudeuten, vom Rand zu fallen. Was sich hinter dem Gebirge und unter der Scheibe befand, wusste keiner. Bis dahin war noch nie jemand vorgedrungen – oder zumindest nicht lebend zurückgekehrt. Während Noba weitersprach, strich sie mit einem Finger mittig über meine Handfläche. »Der Grenzfluss Hayes trennt unser Reich von der Eisendynastie.«
Noba ließ ihren Finger über den Teil meiner Handfläche wandern, der das Gezeitenreich darstellte. Sie zeichnete das Gebiet des Tiefen Winters im Norden ein, den Beständigen Herbst im Nordwesten, gefolgt vom Keimenden Frühling in Südwesten. »Und hier ist der Immerwährende Sommer.« Mit ihrem Finger strich sie über meine Handfläche, wo der Süden lag.
»Ich mochte die Wüste«, flüsterte ich.
»Die Wüste ist nicht alles, was der Sommer zu bieten hat«, mischte sich Kork ein.
»Ist sie nicht?«
»Nein«, stimmte ihm Noba zu. Mit ihrem Finger wanderte sie vom Süden ein Stück hinauf. »Das Versteckte Dorf soll sich hier in einer Senke befinden. Man sagt, es ist im Osten vom Hayes, im Norden und Westen von einer Bergkette und im Süden von der Wüste umgeben.«
Mit ihren Worten und dem Finger malte Noba ein Bild vor meinem inneren Auge. Ich versuchte mir das Dorf vorzustellen, das direkt am Grenzfluss lag. Die Strömung riss angeblich jeden unter die Oberfläche, der versuchte, ihn zu überqueren.
»Warum gehen wir nicht von Süden durch die Wüste?«, fragte ich und Hoffnung keimte in mir auf. Dann könnten wir endlich diesen Regen verlassen.
»Über dem der Wüste zugewandten Teil des Ortes liegt ein Zauber. Wenn man von dort aus das Dorf aufsuchen will, würde man immer weiter und weiter durch den Sand wandern, ohne jemals ans Ziel zu kommen.« Mit ihrem Finger fuhr sie auf meiner Handfläche ein Stück nach Westen und verharrte in der Mitte des Gezeitenreiches. »Hier ist die Tiefebene, der Ewige Regen. Hier befinden wir uns. Nur von hier kann der Zugang gefunden werden. Die Berge entscheiden, wer auserwählt ist und wer nicht, da sie der Sonne am nächsten stehen.«
Ich schluckte, als mir bewusst wurde, dass wir schon viel zu lange danach suchten. Zu lange schon zogen wir an versperrten Straßen und steilen Felswänden vorbei, ohne eingelassen zu werden.
Sie griff sanft meine Hand, zog mich an sich und drückte mir einen Kuss auf den Haaransatz. Ich war versucht, die Augen zu schließen und diesen kurzen Moment zu genießen. Doch ein Grollen ließ Noba aufspringen.
Bevor ich begriff, was passierte, hörte ich brechenden Stein. Die Höhle erbebte und Geröll löste sich irgendwo über unseren Köpfen. Das Geräusch kam aus der Richtung des Höhlenausgangs. Ich schnappte nach Luft und wimmerte: »Sind wird eingesperrt?«
Als das Gepolter verstummte, brach Unruhe in unserer Höhle aus. Mein Wimmern vermischte sich mit Nobas und Korks Stimmen. Sie eilten durch die Höhle, inspizierten vermutlich den Ausgang, doch es war viel zu dunkel, um etwas zu erkennen.
Während Noba und Kork durcheinanderredeten, wich ich zurück. Wir waren eingeschlossen. Würde unsere Suche hier enden? Würden wir hier sterben?
Noba und Kork versuchten, die verschüttete Felsspalte freizulegen. Doch ihre verärgerten Rufe nahmen mir alle Hoffnung. Ich krabbelte noch ein Stück weiter zurück an das hintere Ende der Höhle. Doch die Erschütterung schien mehr gelöst zu haben als nur das Gestein am Höhleneingang.
Der Boden unter mir erzitterte und gab nach. Mit einem spitzen Schrei rutschte ich rückwärts in die Tiefe. Einige Herzschläge lang hielt ich die Luft an, dann prallte ich mit dem Rücken gegen eine Felswand, die mich stoppte. Sternchen tanzten vor meinen Augen. Ich schnappte nach Luft und konzentrierte mich auf Nobas Stimme, die meinen Namen rief.
»Ich bin hier«, keuchte ich und hoffte, dass sie mich hörte. Ein Luftzug streifte meine Wange. Zitternd richtete ich mich auf und mein Herz stolperte, als ich mich weiter vorantastete. Hinter einer Biegung entdeckte ich einen Spalt in der Felswand, der groß genug war, um hindurchzupassen. Der Tag brach an und hieß uns willkommen. Wir durften das Dorf betreten.
Nachdem wir uns aus der Höhle gekämpft hatten, standen Noba, Kork und ich auf einem grünen Hügel. Das Gras reichte mir bis zu den Waden. Zu unseren Füßen breiteten sich weitere Hügel aus, die ein kleines Dorf umrahmten. Das Versteckte Dorf. Wir hatten es gefunden. Ich war mir sicher.
Ich breitete die Arme aus und drehte mich ein paar Mal im Kreis. Dieser Moment war wie ein Traum.
Als ich stoppte, wurde mir ein bisschen schwindelig, aber das machte nichts. Denn das erste Mal seit Langem spürte ich ein Lachen in meiner Brust erwachen und ich ließ es ohne Bedenken frei. Noba und Kork stimmten ein.
Der Fluss glitzerte und wand sich am östlichen Dorfrand entlang. Hinter uns im Westen zog sich eine Felswand Richtung Norden und gipfelte in einem riesigen Berg mit weißer Kuppe. Im Süden verlief sich das Grün und sosehr ich mich auch streckte, die Wüste konnte ich nicht erkennen. Funktionierte der Zauber aus dieser Richtung ähnlich? Würde man von hier ewig über satte Wiesen wandern und nirgendwo ankommen?
Goldene Schlieren bedeckten wie flüssige Sonnenstrahlen den Himmel. Sie waberten in der Luft und bildeten eine Kuppel über der Senke.
Ich legte den Kopf in den Nacken. »Die Magie der Sonne?«, hauchte ich. Es gab sie wirklich.
»Sie ist wunderschön«, raunte Noba.
Sie verschränkte ihre Finger mit meinen. Gemeinsam gingen wir den Hang hinunter und Richtung Dorf. Je näher wir kamen, desto getrübter wurde meine Freude. Zurück blieben nur die gewohnten Bedenken. Ich griff nach Nobas Ärmel, der immer noch klamm war. »Was, wenn sie mich doch verkaufen?«
»Kindra.« Noba seufzte mit einem Lächeln, doch mir konnte sie nichts vormachen. Auf ihrem Gesicht lag der übliche Schatten der Unsicherheit. »Das Dorf hat uns hereingelassen. Es wird uns beschützen.«
»Aber der Fluss«, raunte ich. »Hält die Magie uns wirklich vor Blicken und Übergriffen aus der Eisendynastie verborgen?«
»Das werden wir herausfinden!« Noba drückte mich an sich und Kork ging neben mir in die Hocke.
»Ich werde nicht zulassen, dass jemand dich in die Finger bekommt!«
»Und wenn wir alle aus dem Dorf vertreiben müssen und es uns allein gemütlich machen«, fügte Noba hinzu.
Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Das können wir nicht machen!«, rief ich aus und kicherte. Die Vorstellung, dass Noba und Kork mich verteidigten, gab mir Mut. Doch was genau würde mich erwarten, falls ich doch in die Hände der Feinde gelangte? Die Eisenmänner wollten das Blut und Körperteile der Goldkinder für ihre Goldmagier. Würden sie mich foltern? Mir wehtun? Mich töten, um zu bekommen, was sie wollten?
Als wir das Dorf erreichten, erkannte ich das Symbol der Sonne an den Hütten über jedem Eingang. Es schien überall zu sein. In der Mitte des Marktplatzes stand eine Säule, auf der eine steinerne Sonne thronte.
»Bei der Kraft der Sonne!«, rief eine Frau aus und schnell scharte sich eine Menschentraube um uns. »Willkommen!«
Die Menschen redeten wild durcheinander und bald begrüßte uns ein Kanon etlicher Stimmen. Ich klammerte mich an meine Kapuze, während Kork mit einer Frau sprach, die uns in ihr Gasthaus einlud.
Ich spürte die Begeisterung der Umstehenden, die wild durcheinanderredeten.
»Die Sonne hat uns neue Einwohner geschenkt!«
»Gepriesen sei ihre Macht!«
»Neue Seelen in unserem Zuhause!«
Leiser ertönte eine Kinderstimme: »Habt ihr Geschichten mitgebracht?«
Als mich eine kleine Hand berührte, die zu der Stimme gehören musste, zuckte ich zurück und hob den Kopf. Eine Angewohnheit, die ich eigentlich gut unter Kontrolle hatte.
Ich starrte in die blauen Augen eines blonden Jungen, der vermutlich so alt war wie ich. Als er mein Gesicht sah, öffnete er den Mund zu einem Oh. Mein Herz hüpfte und ich machte mich bereit für seine Reaktion. Doch sie war anders, als ich erwartet hatte.
»Sind die echt?«, raunte er und zeigte auf mein Gesicht. Er meinte meine goldenen Augen. »Sie sind so schön!«
Hastig senkte ich den Kopf und krallte die Finger in meine Kapuze. Doch meine Mundwinkel gehorchten mir nicht und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen.
»Ich bin Saki!«, plapperte der Junge weiter. Er wandte sich an eine andere Person. »Dürfen wir an den Fluss spielen gehen?«
»Saki«, schalt ihn die Frau, die mit Kork über das Gasthaus gesprochen hatte. »Lass unsere Gäste erst einmal ankommen. Sie haben bestimmt Hunger.«
»Dann nach dem Essen!«, beharrte er und wieder musste ich grinsen.
»Wir wollten das eigentlich etwas dezenter ansprechen«, Nobas Stimme ertönte. »Ihre Identität …« Ich spürte, wie mich mehrere Blicke trafen.
Doch der Junge lachte nur. »Es ist egal, wer du bist. Meine Mama sagt, bei uns im Dorf gibt es nur eine Regel: Hilfst du mir, helfe ich dir!«
Von da an waren Saki und ich unzertrennlich.