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Saki

Prüfung


Nachdem mein Ziel klar war, trainierte ich härter. Und langsam wurden aus Tagen Wochen. Mein Körper zitterte nicht mehr unkontrolliert in der Kälte. Meine Finger und meine Haut waren nicht mehr blau, sondern hatten stellenweise einen etwas natürlichen Ton angenommen. Die Blutergüsse bedeckten nicht mehr nur mich, sondern auch die anderen Männer, mit denen ich trainierte. Meine Muskeln wuchsen und mein Hass auf die Eisendynastie loderte weiter.

Entschlossen reckte ich das Kinn und starrte auf den Trainingsplatz. Einige Krieger standen in der Mitte und führten die Techniken vor, die wir in den letzten Wochen gelernt hatten. Es war eine stupide Prüfung. Nichts, was ich nicht perfekt beherrscht hätte. Doch ich nahm nicht teil.

Das Herz brannte heiß in meiner Brust. Während der letzten vier Wochen hatte ich meine Ungeduld kaum zügeln können. Warum nahmen mir die Hüter kostbare Zeit, von der ich doch so wenig hatte? Nachts sah ich Kindra in meinen Albträumen, die mich fast zur Verzweiflung trieben.

Doch ich riss mich zusammen. Drohte die Ungeduld aus mir heraus­zuplatzen, trainierte ich doppelt so hart. Schreckte ich morgens aus dem Schlaf auf, stemmte ich Gewichte auf dem Trainingsplatz, egal wie früh es war. Ich versuchte mich mit allen Mitteln abzulenken. Denn die Gedanken an Kindra schmerzten in meiner Brust. Zu lange verharrte ich in diesem Dorf, ohne ihr näher zu kommen. Meine Vernunft mahnte mich, dass ich für die Spionage am Königshof vorbereitet sein musste. Aber meinem Herz war das egal. Es sehnte sich nach Kindra.

Heute stand ich am Rand des Trainingsplatzes und sah den Männern zu, wie sie die unterschiedlichen Übungen zeigten und Kämpfe austrugen. Am liebsten hätte ich Arnen zu Boden geschlagen. Auch wenn ich wusste, dass es alles nur schlimmer machen würde. Tief in meinem Innern flüsterte mir eine Stimme zu, dass ich Kindra mit jedem Tag ein weiteres Stück verlor.

Ich öffnete meine Fäuste und ließ meine Schultern hängen. Für ein paar Herzschläge schloss ich die Augen und sah ihr Gesicht vor mir. Wie sie lachte und strahlte. An dieses Bild klammerte ich mich und atmete tief durch, dann hob ich den Blick und ging zu meinem Quartier zurück, ohne ein Wort mit Arnen gewechselt zu haben.

Am nächsten Tag bat er mich um ein Gespräch. Insgeheim stellte ich mich darauf ein, dass er mir meine Ungeduld unter die Nase reiben würde. Dabei hatte ich mit mir selbst gekämpft. Vergeblich, so wie es aussah.

»Glückwunsch«, sagte er. »Du hast deine erste Prüfung bestanden.«

Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen und sah Arnen an. »Was meinst du?«

Er räusperte sich und legte mir die Hände auf die Schultern. »Deine erste Prüfung bestand darin, deine größte Schwäche zu überwinden. Dich unseren Entscheidungen zu beugen und vernünftig alle Möglichkeiten abzuwägen, egal was du dabei empfindet. Es ging um Selbstdisziplin.«

Mein Mund klappte auf und ich schloss ihn wieder. Adrenalin schoss durch meine Adern und mein Herz raste. Ich hatte meine erste Prüfung bestanden.

Arnen erhob sich. »Von nun an wirst du auch in deinem Wissen geschult. Neben dem körperlichen Training benötigst du auch mehr Informationen über die Eisendynastie. Wir sind uns jetzt sicher, dass du dich beherrschen kannst und für den Kampf trainieren wirst, auch wenn du nicht mehr den ganzen Tag auf dem Trainingsplatz verbringst.« Er deutete mir an, ihm zu folgen. Gemeinsam gingen wir durch das Dorf und bis zu einer Höhle, die nicht weit vom Eingang zum Ältesten entfernt lag.

Wir traten ein und schummriges Fackellicht umhüllte uns, das die Wände nur spärlich beleuchtete. Der kreisrunde Raum war kahl, doch es roch angenehm nach Gebäck. Eine alte Frau saß auf einem Sessel in der Mitte des Raumes. Ihr gegenüber stand ein weiterer Sessel.

»Hallo, Sendra«, begrüßte Arnen sie.

»Willkommen«, sagte sie und deutete auf den leeren Platz. »Bitte setz dich, Saki.«

Ihr gegenüber ließ ich mich in den Sessel sinken und musterte sie. Sie war alt, das Gesicht faltig und das schwarze Haar von silbrigen Strähnen durchzogen. Statt Augen blickten mich nur leere, vernarbte Höhlen an.

»Du kannst gehen, Arnen«, sagte sie und wedelte mit der Hand Richtung Ausgang.

Er verabschiedete sich knapp und ließ uns allein.

Sendra beugte sich etwas vor und steckte ihre Arme aus. »Zuerst lass mich dein Gesicht sehen.« Sie winkte mich heran und ich führte ihre Hände an meine Wangen. Nach einer Weile grinste sie und lehnte sich zurück. »Du bist sehr entschlossen. Dein Wille brennt stark in dir.«

»Woher wisst Ihr das?«, fragte ich und starrte auf ihre Narben.

»Ich sehe mehr mit meinen Händen und meinem Geist, als du je mit deinen Augen zu erkennen vermagst«, antwortete sie und faltete die Hände in ihrem Schoß. »Aber wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen, nicht wahr?« Sie drückte den Rücken durch. »Dir steht eine beschwerliche Reise bevor. Viele Hindernisse wirst du überwinden müssen, um das zu finden, was du suchst. Es gibt viel, was du vorher lernen musst.«

»Und das wäre?«, fragte ich.

»Na, was schon? Dialekt, Aussprache, Sitten, Bräuche, Geo­grafie. Um unter den Eisenmännern nicht aufzufallen und dich in der Eisendynastie wie einer der ihren einzugliedern, musst du das alles beherrschen. Aber viel wichtiger ist, dass du verstehst, was Kindra ist. Und warum der Krieg tobt.« Ihre Stimme war keine Spur tadelnd, sondern sprühte vor Energie. Einen kurzen Moment schwieg sie und die Spannung in der Luft schien zu vibrieren. »Bitte erzähle mir alles, was du über die Goldkinder zu wissen glaubst.«

Obwohl ich Geschichten liebte, waren nur wenige nach Grün­frey durchgedrungen. Dafür hatten wir zu abgeschieden gelebt. Aber ich erinnerte mich an jede, die jemals die Lippen eines Bewohners verlassen hatte. »Ich kenne die gängigen Geschichten und Legenden, in denen die Goldkinder als magisches Volk dargestellt werden. Ihre Körper besitzen Kräfte, die Männer zu Magiern machen oder Waffen verstärken können. Die Eisendynastie jagt die Goldkinder seit Jahrhunderten und versucht dadurch an Macht zu gelangen.« Ich stutzte kurz. »Das ist eigentlich schon alles.«

Die Alte schüttelte den Kopf und lächelte. »Das ist nur ein winziger Teil der Wahrheit«, antwortete sie. »Es begann alles viel früher. Als das Gezeitenreich von der Magie der fünf Urdrachen errichtet wurde. Jeder Drache formte einen Teil des Gezeitenreiches. Immerwährender Sommer, Tiefer Winter, Beständiger Herbst, Keimender Frühling und Ewiger Regen. Doch die Macht des fünften Drachen konnte sich an den prächtigen Jahreszeiten der anderen Drachen nicht messen. Eifersucht, Hass und Missgunst verdarben ihn. Seine blauen Schuppen verfärbten sich schwarz und er wurde von den anderen Drachen aus dem Gezeitenreich verbannt. Der fünfte Drache hatte von da an viele Namen. Der gefallene Drache, der schwarze Drache, der Eisendrache sind nur ein paar davon. Er formte sich ein eigenes Reich, die Eisendynastie. Sein Hass übertrug sich auf alles Leben, das er erschuf. Die Blutlinie der Königsfamilie entstammt aus einer Liebschaft zwischen dem fünften Drachen und einer Frau. In ihrer Erbschaft wurde der Hass weitergetragen.«

»Die Schöpfungsgeschichte«, flüsterte ich.

»Ja, sie enthält Teile der Wahrheit.«

Aber warum sprachen wir über die Urdrachen? »Wie hängt das mit den Goldkindern zusammen?«, fragte ich.

Sendra strich sich die ergrauten Strähnen hinter die Ohren. »Die anderen vier Drachen lebten glücklich und abgeschieden im Gezeiten­reich. Auch sie verliebten sich in die Menschen, die ihr Reich bevölkerten. Doch sie untersagten sich, Bindungen mit den Menschen einzugehen. Der Sommerdrache brach dieses Versprechen. Über Jahre hinweg nahm auch er hin und wieder seine menschliche Form an und vereinte sich mit den schönsten Frauen. Anders als die Frau des Eisendrachen gebaren die Frauen des Sommerdrachen keine Kinder, sondern goldene Dracheneier. Der Sommerdrache versteckte diese Eier vor den anderen Drachen und führte seine heimlichen Lieb­schaften fort, da er dachte, sie würden unentdeckt bleiben.

Ein Jahrhundert nachdem das erste Drachenei geboren wurde, schlüpfte ein Goldkind aus einem der Eier. In dem Kind steckte die schöpfende Kraft des Urdrachen, die angeblich in der Schale der Eier schlummerte und so in die Goldkinder überging. Diese Kinder brachten das Gleichgewicht der Welt durcheinander und wurden von den anderen Drachen entdeckt. Sie waren entrüstet über den Verrat des Sommerdrachen, stritten und bekämpften sich und verschwanden schließlich aus dieser Welt. Manche munkeln, sie seien in die Magie von Odre zurückgekehrt, um den Verfall zu verhindern.«

Ich runzelte die Stirn. »Dracheneier? Liebschaften zwischen den Urdrachen und Menschen? Ein Königshaus, dessen Blutlinie von einem Drachen abstammt.« Das war doch absurd. Diesen Teil der Geschichte hörte ich zum ersten Mal. Aber war das vielleicht der Grund, warum Noba, Kork und Kindra sich über ihre erste Begegnung stets vage ausgedrückt hatten?

Stammte Kindra von einem Drachen ab?

Sendra nickte. »Du hast sie gesehen, die goldenen Augen. Sag du mir, ob es so abwegig ist.«

Eine Erwiderung lag mir auf der Zunge, doch ich schwieg. Sie hatte recht. Kindra strahlte so viel Mythisches und Geheimnis­volles aus. War es unvorstellbar, dass sie aus einem Ei geschlüpft war? »Wie kann es sein, dass es dann noch junge Goldkinder gibt? Dass sie immer wieder auftauchen?«

»Es ist nicht klar, ob die Eier Jahrzehnte oder Jahrhunderte benötigen, um auszureifen, oder ob das Kind schlüpft, sobald es sich bereit fühlt oder gebraucht wird. Es ist auch nicht bekannt, wie viele Drachen­eier des Sommerdrachen existieren. Oder ob es wirklich die einzigen Eier sind.«

Langsam schüttelte ich den Kopf. »Das heißt, Kindras Vater ist einer der Urdrachen?«

»So ist es«, antwortete die Frau.

Ein kurzes Lachen entfuhr meiner Kehle. »Tut mir leid, aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich glauben kann.«

»Ob du daran glauben kannst oder nicht, die Wahrheit existiert und ist unabänderlich. Die Goldkinder kennen ihre Namen, sobald sie geschlüpft sind. Kindragon Goldkind, oder wie du sie nennst, Kindra. Sie ist die Tochter des Sommerdrachen. Und eine meiner Schwestern.«

Knochenfeuer

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