Читать книгу Der Mann mit der Säge - Jens van der Kreet - Страница 11
9.
ОглавлениеEndlich Gründonnerstag!
Bereits beim Klingeln des Weckers schlug Ninas Herz in schnellem Takt. Der Tag der Wahrheit!
Sie wusste, dass es irgendwann soweit sein würde, und dass Christina es sich nicht mehr länger nehmen lassen würde, sie mit einem Jungen zu verkuppeln.
Reiß dich am Riemen, dachte Nina, du stehst in der Verantwortung. Christina weiß, was gut für dich ist.
Einerseits hatte sie es bei Christina mit einem sechzehnjährigen Mädchen zu tun, das kaum Lebenserfahrung hatte und dessen Freund vielleicht gewalttätig war.
Andererseits könnte es auch sein, dass Nina selbst paranoid war, vermutete sie. Sie forderte sich auf, Christina eine Chance zu geben.
Sie war mit Herzklopfen aufgewacht, und nun stellte sie mit Bedauern fest, dass sich ihr Vater zur gleichen Zeit wie sie in der Küche aufhielt, weil er heute zur Frühschicht eingeteilt war. Ausgerechnet heute.
Nina nahm sich Milch aus dem Kühlschrank. Ein Brummen hinter ihr.
Michael nuschelte irgendwas.
„Hast du was gesagt, Papa?“
„Musst du nicht zur Schule?“
„Ich bin schon unterwegs.“
Sie war dabei, die Nutellabrote für Rebecca fertig zu machen.
„Kochst du uns etwas heute Mittag?“, fragte sie ihren Vater, in der Hoffnung, er würde sich einmal um ihr Wohl kümmern wollen.
„Ich bin auf Frühschicht. Vor fünf komme ich nicht heim.“
Er roch zwar nach Alkohol, aber das musste vom vorangegangenen Tag sein, heute hatte er wohl noch nichts getrunken.
„Rebecca braucht ein warmes Mittagessen“, sagte Nina, „bitte sorge dafür, dass sie etwas zu essen bekommt.“
In Erwartung ihres heutigen Termins ging sie davon aus, dass sie auswärts essen würde. Nina aß gern Döner, jedoch musste sie heute Abend Acht geben, da sie ein Date hatte. Nicht, dass sie noch nach Knoblauch roch! Basti, dachte sie, ich bin gespannt, was das für einer ist.
Michael war bereits in Jeans gekleidet, sein roter Bart sah heute weniger zerzaust als sonst aus.
Er wird doch wohl keinen lichten Moment haben?
„Becky wird zu Oma essen gehen“, sagte Ninas Vater.
Er nahm sich eine Tasse Kaffee aus der Kanne, dann verschwand er wieder.
„Pass du auch gut auf dich auf“, seufzte Nina traurig beim Hinausgehen. Andere Eltern kümmern sich mehr um ihre Kinder, dachte sie.
Den ganzen Tag über konnte sie vor Aufregung angesichts der Ereignisse des Abends dem Unterricht kaum folgen.
Auf dem Nachhauseweg machte sie am Drogerieladen halt. Es konnte nicht schaden, für den Ernstfall gerüstet zu sein, dachte Nina.
Während die Kassiererin die Präservative über den Scanner zog, verzog diese Frau keine Miene. Doch Nina war ein bisschen mulmig zumute. Schließlich kaufte man nicht jeden Tag zum ersten Mal in seinem Leben Kondome.
Wenn man es genau nahm, war sie damit ein gutes Stück zu spät dran. Viel zu spät. Sie war überzeugt davon, die letzte in ihrer Klasse zu sein, die noch Jungfrau war. Obwohl sie das nicht sicher wusste. Doch lag in ihrem Kauf nicht ein Triumph? Erwarb sie mit diesen Medizinprodukten nicht eine neue Autonomie, eine Verfügungsgewalt über ihren Körper, die um vieles wirkungsvoller war als die seelischen Schäden, die ihr durch ihren peinlichen Vater und ihre feige Mutter angetan wurden?
Noch zwei Stunden bis zum Treffpunkt am Pub am Markt. Alles musste schnell gehen. Unter der Dusche nahm sie eine intensive Rasur im Intimbereich vor. Sie zog schicke lila Unterwäsche an, die zu schade war, um ungesehen zu bleiben, darüber schicke rote Klamotten. Parfüm, nicht zu dezent, nicht zu aufdringlich. Die Kondome hatte sie sicher in ihrer blauen kleinen Handtasche verwahrt.
Es konnte losgehen.
Im Pub am Markt war es um diese Zeit noch ruhig. Einzig und allein der Mann, den Christina einen Psycho genannt hatte, saß am Tresen. Britney Spears quiekte ihr “Baby one more time” aus den Boxen in der Ecke.
Christina und Tim saßen schon in der Kneipe. Christina sah überwältigend aus, Tim verströmte wie immer mit seinem muskelgestählten Körper eine Gewinner-Aura. Seine stahlblaue Augen fixierten sie und machten sie frösteln. Wie stets lächelte er.
Du mich auch, dachte Nina.
„Wie läuft der Plan nun ab?“ fragte Nina, nachdem sie sich zu den beiden gesetzt hatte.
„Um Punkt neun treffen wir uns vor der Diskothek. Basti wird da sein. Wir sollten bis halb zwölf dort bleiben, danach fahren wir nach Hause“, sagte Tim.
„So früh schon?“
Nina fühlte sich ein bisschen betrogen.
„Wir müssen den Plan relativ schnell über die Bühne bringen“, meinte Tim, „da ihr unter achtzehn seid, dürft ihr nur bis zwölf Uhr in der Diskothek sein. Das heißt, die lassen euch nach zehn Uhr nicht mehr rein.“
„Wie bist du denn drauf“, fragte Nina, „du bist doch sonst kein Paragrafenreiter!“
„Mein Vater macht mich einen Kopf kürzer, wenn ich mit minderjährigen Mädchen die Diskothek besuche, obwohl es verboten ist und es danach auffliegt. Er ist Bürgermeister, er kann sich keinen Skandal leisten.“
„Aber wir sind vor Kurzem doch noch um ein Uhr dort hingegangen“, sagte Christina.
„Dir hat man auch nicht angesehen, dass du unter 18 bist.“
„Aber mir schon?“
Nina warf ihm einen eiskalten Blick zu.
„Hört jetzt mal auf damit, ihr Streithähne“, sagte Christina, „Basti ist siebzehn und sieht noch jünger aus. Bei Jungs sind sie streng. Das heißt, bis um zwölf Uhr ist die Sache über die Bühne und ihr könnt nach Hause gehen zum …“ - sie spitzte die Lippen und formte damit ein obszönes Wort, das sie dezent halblaut aussprach.
„Das wissen wir doch gar nicht“, protestierte Nina, „lasst uns erst mal sehen, was das für einer ist.“
„Kommst du mit auf die Toilette?“ fragte Christina.
Nina stimmte zu, die Mädchen erhoben sich und ließen Tim alleine an seiner Cola light nippen.
Auf dem Weg zur Toilette zwinkerte der „Psycho“ Nina erneut verschwörerisch zu. Nina spürte ein kurzes Herzklopfen. Dann lächelte sie ihn an. Lächeln kostete ja nichts.
Christina blieb am Kondomautomaten stehen. „Du musst dir welche kaufen!“, forderte sie ihre Freundin auf.
„Oh, das habe ich schon getan“, erwiderte Nina.
„Echt?“
„Ich habe in der Drogerie welche gekauft.“
„Das hätte ich dir gar nicht zugetraut“, meinte Christina, „also gut: Dann kann es jetzt losgehen.“
Die drei machten sich kurz danach auf den Weg.
Bis zu einem gewissen Punkt lief der Plan genauso, wie es geplant war. Drei Jungen standen am vereinbarten Treffpunkt, einem Kaufhausparkplatz in unmittelbarer Nähe der Disko. Der zierlichste Junge war Basti.
„Hi“, sagte der Junge, als Tim, Christina und Nina auf der Bildfläche erschienen.
„Äh, Alder, da seid ihr ja“, sagte einer von Bastis Kumpeln.
Sie schüttelten zuerst Tim die Hand, nacheinander, theatralisch mit einer Umdrehung der Hand. Erst dann grüßten sie die Mädchen. Schüchtern, ohne jeden Körperkontakt. Schließlich wagte sich auch Basti vor.
„Hi“, hauchte er Tim und Christina, schließlich Nina schüchtern entgegen.
„Äh, Basti, wir gehen dann schon mal los, äh“, sagte der zweite Freund.
„Alles klar, äh“, sagte Basti, „wir sehen uns gleich, äh!“
Ihr erster Eindruck war etwas besser als gedacht.
Ganz niedlich, dachte Nina.
In der Disko war es leer um diese Zeit. Auf der Tanzfläche breitete sich nur der Disko-Nebel aus. Die meisten Jugendlichen verbrachten den Abend jetzt noch beim Vorglühen in den wenigen hippen Kneipen, die die Dörfer dieser ländlichen Gegend zierten, bevor die Jungen mit ihren aufgemotzten Karren, auf deren Rückbänken die Mädchen des jeweiligen Ortes Platz nehmen durften, in diese Kleinstadt mit dem „Sankt“ im Namen aufbrachen, in der bei Bürgermeisterwahlen stets nur ein Kandidat antrat - der von der CDU.
Die vier setzten sich in eine abgelegene Ecke im Gastraum der Diskothek. Bis auf Tim tranken sie alle alkoholische Getränke. Nina stieg der Bacardi-Cola gleich zu Kopf, da sie nichts vertrug.
Basti fiel ihr schon jetzt auf die Nerven. Je enger er seinen Kopf an den ihren schmiegte, desto stärker überkam sie die Unlust auf diese Type. Der Alkohol machte sie nicht williger. Funktionierte ihr Radar gut? fragte sich Nina. Oder war es Feigheit? Wie bei ihrer Mutter, fügte ihr kritisches Ich hinzu.
Der Funken sprang nicht über. Was aber Basti nicht daran hinderte, an ihr herumzufummeln. Einmal berührte er ihr Bein, einmal versuchte er, in die Nähe ihrer Brüste zu gelangen. Nina stoppte ihn mehrmals. Sie signalisierte Christina per Augenkontakt, dass sie eine Auszeit brauche.
Auf der Toilette teilte sie ihrer besten Freundin den Stand der Dinge mit.
„Also gut, das wird jetzt wohl nichts“, sagte Christina.
Sie blickte auf die Uhr.
„23.05 Uhr. Ich werde Tim Bescheid geben. Es wird Zeit. Gehen wir nach Hause.“
Tim tat wie geheißen. Er löste die Veranstaltung auf. Basti blickte Tim entgeistert an.
„Wir gehen? Äh! Wieso jetzt schon?“
Beim Hinausgehen verabschiedete er sich von seinen Kumpels, behielt sich aber noch eine Rückkehroption offen, als er sich am Ausgang einen Stempelabdruck auf dem Handrücken anfertigen ließ. Sicher war sicher.
Tim und Christina waren vorgegangen, Tim war schon fast auf Höhe des Autos. Im Halbdunkel des Eingangsbereiches der Diskothek war es relativ ruhig. Es kamen zu diesem Zeitpunkt kaum neue Besucher. Basti, der Nina nun fest im Arm hielt, roch ein wenig nach Schweiß. An einer nahezu lichtundurchlässigen Stelle unter der Überdachung blieb er plötzlich stehen. Nina stockte der Atem.
Der Ort, an dem sie gerade standen, war noch weit genug von Tims Golf entfernt, jedoch schon wieder zu weit weg, als dass die Eingangswächter des Eclair sie hätten sehen oder dass sie hätten hören können, was gesprochen wird.
Etwas in Nina zog sich zusammen.
Sie fest an sich drückend, versuchte der blonde Teenager jetzt, sie sich zu erobern. Er drückte seine von Flaum umsäumten Lippen an ihren Hals, dann versuchte er sie zu küssen.
„Nicht“, sagte Nina. Panik kroch in ihr hoch.
Er packte sie fest an den Hüften. Dann versuchte er erneut, ihr einen Kuss aufzudrücken.
„Du willst es doch auch, äh“, stöhnte der Junge.
„Hör auf“, keuchte Nina. Sie versuchte, sich aus seiner Umklammerung zu entwinden, mit der rechten Faust prügelte sie auf ihn ein. Doch Basti ließ nicht locker.
Er hielt Ninas Hüfte jetzt fest unterhalb ihres Tops, sie spürte seine Hände auf ihrer Haut. Erneut versuchte er, seine Lippen und seine Zunge in ihrem Gesicht zu platzieren.
„Hör auf!“ schrie sie nun, „lass mich los! Lass mich los!“
Es dauerte kaum einen Augenblick, dann spürte sie einen Stoß. Basti wurde herumgerissen. Er ließ sie los, als Tims energischer Griff ihn aus der Umklammerung von Nina herausriss und den Jungen in die ihr entgegengesetzte Richtung warf.
„Lass das Mädchen in Ruhe, du Arschloch!“, schrie Tim, sein Gesicht war mit Wut aufgeladen.
Basti, der kurz davor gewesen war, zu Boden zu gehen, aber inzwischen sein Gleichgewicht wiedererlangt hatte, konnte sich jedoch nicht recht darüber freuen, da ihn im nächsten Moment Tims Faust in die Magengrube traf.
„Du Vollidiot!“ schrie Tim, „was hast du dem Mädchen angetan?“
Blind vor Wut schlug Tim auf den blonden Jungen ein. Christina, die inzwischen an Ninas Seite stand und sie in den Arm nahm und tröstete, begann plötzlich erregt loszuschreien.
„Gibʹs ihm! Gibʹs ihm!“, schrie sie, während Nina noch benommen in ihrem Arm lag und sich froh über die schnelle Befreiung aus dieser unangenehmen Situation an den Hals ihrer besten Freundin schmiegte.
Tim trat gerade mit dem Fuß gegen das Hinterteil des mittlerweile am Boden liegenden Jungen, da näherten sich die Eingangswächter der Diskothek schnellen Schrittes.
„Was ist los hier?“ schrien sie.
„Es ist Zeit zum Aufbruch“, sagte Tim ruhig, Christinas bewundernden Blick genießend, „lasst uns gehen.“
Nina und Christina folgten Tim schnell, als sie hinter sich die wütenden Sicherheitskräfte hörten, die sie aufhalten wollten.
Als sie im Auto saßen und knapp den Häschern entwischt waren, begann Nina sich wieder zu fangen. Was sie heute Abend erlebt hatte, widerte sie in höchstem Maße an. Das Schlimmste daran war, sie wusste nicht einmal, was sie schlimmer entrüstet hatte. Die Art ihrer Beschämung oder die Art ihrer Rettung. Obwohl sie Tims Heldentat womöglich davor beschützt hatte, Opfer einer Straftat zu werden, hatte sie ein ehrliches Problem damit, seine Galanterie zu honorieren, wie er es zweifellos verdient hatte.
Dennoch quälte sie sich, schenkte ihm ein Lächeln und hauchte ihm ein „Dankeschön“ zu. Damit gab er sich zufrieden, denn sie beide wussten, dass er die eigentliche Belohnung heute Nacht von Christina empfangen würde. Christina liebte starke Männer, die Frauen beschützen konnten.
Für Nina hatte sich die Situation hingegen maßgeblich verschlechtert.
Sie blieb Single.
Schlimmer noch: Sie hatte keine Lust mehr, Männer kennen zu lernen.