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10.

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Martin Wolf saß in der Bibliothek seines Hauses im Dachgeschoss auf seinem Ledersessel, doch ließ er die in den Deckenpaneelen eingelassenen Spotlampen ausgeschaltet. Aus der Musikanlage erklang Brahms. Das Gläschen Rioja mundete vorzüglich. Das Licht der Straßenlaternen drang schwach durch die Fenster, als er seine Gedanken schweifen ließ.

Es hatte schlechtere Zeiten in seinem Leben gegeben. Ein Politiker, der im Wettbewerb steht, so wie er, vergleicht sich gerne. Wählte man den richtigen Vergleich, schnitt man gut ab. Den Oskar, den Reinhard, den - Gerd, diese Jungs würde er nie wieder einholen können. Gut, Oskar hatte sich selbst ins Aus geschossen. Doch dann, dachte er bei sich im Stillen, könne er sich ja auch mal mit Michael Lohse vergleichen.

Was hatte er ihn beneidet! Martin durfte, wenn die Noten stimmten, den Käfer, das Zweitauto seines Vaters, nutzen. Michael fuhr einen BMW Null-Zwei. In orange, fast ein Neuwagen. Die Weiber waren hinter Michael her gewesen. Und Michael hatte ausgerechnet Renate Hoxberg bekommen, die mit ihren langen schwarzen Haaren und ihrem funkelnden Blick nicht die schlechteste First Lady für Altweiler abgegeben hätte.

Martin Wolf seufzte.

Und nun siehe, was aus seinem alten Kampfgefährten geworden war. Er ging zum Fenster und sah hinaus. Er wollte nicht so enden. Er wollte es richtig machen. Draußen regnete es.

Martin öffnete das Fenster und atmete die regenfrische Luft ein. Die Dunkelheit und den fruchtig herben Geschmack des spanischen Rotweins auf der Zunge, überzog der Hauch der kalten Luft seinen Körper mit einer Gänsehaut.

Dann unterzog er sich einer quälenden selbstreflexiven Übung, einem Interview mit sich selbst:

Hatte er bislang alles richtig gemacht?

Martin war überzeugt davon, dass das, was er erreicht hatte, das Maximum dessen darstellte, was ihm aus seiner Sicht möglich gewesen war. Mehr ging eben nicht. Nicht mit diesen Leuten, nicht in diesem Kaff.

Wäre sein Vater zufrieden mit dem, was Martin erreicht hatte?

Martin wusste, dass sein Vater zu Lebzeiten durch nichts zufriedenzustellen war.

Wäre sein Vater heute stolz auf ihn?

Ganz klares Nein. Stolz auf seine eigenen Nachkommen zu sein, war ein Wesenszug, der seinem Vater ganz und gar fremd gewesen war.

Nun, dachte Martin, bleibt eben so oder so keine Gelegenheit mehr, heimzuzahlen, was er ihm angetan hatte. Die Knute, unter der er gelitten hatte in Gestalt der Schläge mit dem Gürtel, die sich in seine nackte Haut eingebrannt hatten, auszumerzen. Gar dem Alten zu beweisen, dass er eben doch funktionierte. Jetzt blieb nur noch, es für sich selbst zu machen. Es richtig zu machen. Es besser zu machen. Damit es irgendwann für die Überholspur reichte.

Und dazu gehörte, sich der neuen Zeit nicht zu verschließen. Man würde sehen, wie die moderne Energiepolitik ankam, die er plante. Er würde in Kürze mehr über diese neuen Möglichkeiten erfahren, denn noch vor Beginn der heißen Phase des Wahlkampfes würde er eine Dienstreise antreten, auf der er die Entscheider kennen lernte. Er fieberte dieser Reise entgegen.

Plötzlich hörte er ein Geräusch aus dem Erdgeschoss. Ein Türschloss. Wolf erhob sich von seinem Sessel, ging zur Galerie und sah herab auf den Eingangsbereich. Er sah, wie der Junior die Treppe zu seinem Zimmer im ersten Obergeschoss hochstieg. Der Bürgermeister inspizierte die Rolex an seinem Handgelenk.

1.30 Uhr.

Unglaublich!

Er ging die Treppe zum ersten Stock herab, und begegnete seinem Sohn vor dessen Zimmer.

„Ein Uhr dreißig, mein Sohn“, sagte der Bürgermeister.

Tim verzog das Gesicht.

„Was haben wir miteinander vereinbart?“

Er schlägt immer stärker nach seiner Mutter, dachte Martin, diese Disziplinlosigkeit. Wie gut, dass sie das Sorgerecht für ihn nicht bekommen hat. Sie hätte sich eben nicht mit einem Anwalt anlegen sollen. So eine juristische Ausbildung hatte schon ihre Vorteile, und wenn es die Kontakte in die Richterschaft waren.

„Ich musste noch etwas klären“, sagte der Sohn, „es gab eine Auseinandersetzung.“

„Ich will nichts darüber hören!“

Tim schwieg.

„Mein Junge, wenn du im Leben etwas erreichen willst, dann geht das nur mit Disziplin und harter Arbeit.“

Er bewegte sein Haupt näher zu dem seines Sohnes, seit geraumer Zeit musste er dazu aufschauen.

„Wann finden deine Abiturprüfungen statt?“

„Im Mai, Vater.“

„Im Mai. Und du wagst es … dich bis nachts um viertel vor eins …“

„Halb eins, Vater.“

Martin schleuderte seinem Sohn die Vorderseite seiner Handfläche ins Gesicht. Tim taumelte gegen die Wand neben seinem Zimmer. Martin packte seinen Sohn und versetzte ihm einen Faustschlag, sodass dieser der Länge nach auf den Teppichboden flog. Dann trat er ihm ins Gesäß.

„Ich warne dich, mein Junge. Du hast um diese Zeit da draußen nichts verloren. Nicht während der Vorbereitungen zu deinem Abitur. Den Rest der Zeit bis zur Prüfung hast du Hausarrest.“

Mit diesen Worten verzog sich Martin Wolf, Tim trottete in sein Zimmer. Hätte der Bürgermeister noch einen Blick zurück gewagt, dann hätte er die Augen des Jungen gesehen.

Voller Hass für ihn, den Vater.

Der Mann mit der Säge

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