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2.
ОглавлениеMartin Wolf saß am Schreibtisch und studierte Personalakten, während auf dem PC die Website von Spiegel Online ihre knalligen Schlagzeilen in die Welt hinausblies und ihn auf dem Laufenden hielt. Er nutzte selten den Computer in seinem Büro; er gebrauchte ihn nur, wenn in der Welt etwas Wichtiges geschehen war. Heute war ein solcher Tag. Es war der erste sonnige Tag des Jahres nach diesem langen Winter, doch die Nachrichten dieses Tages standen ganz im Gegensatz zu den meteorologischen Frohbotschaften.
Es war Zeit zu handeln.
Es klopfte an der Tür.
Martin blickte auf seine goldene Armbanduhr.
17 Uhr.
„Herein!“, bellte Martin Wolf.
Christian Klein, der Fraktionsgeschäftsführer der Sozialdemokratischen Partei im Gemeinderat von Altweiler und in Personalunion Gemeindeverbandsvorsitzender der örtlichen Parteigliederung, betrat das Büro des Bürgermeisters. Klein, der im Hauptberuf als Referent im Saarbrücker Bildungsministerium an der Schnittstelle zur „großen“ Politik tätig war, trug einen schwarzen Dreireiher, Marke „Hugo Boss“, ein blaues Hemd und eine dunkle Krawatte.
„Du wolltest mich sehen. Was gibt‘s?“
Er sprach wie immer bestes Hochdeutsch.
Warum kann dieser Schnösel nicht einfach wie normale Menschen reden?
„Was wird es wohl geben? Warum glaubst du, dass ich dich herbestellt habe, um dir deine kostbare, vom Steuerzahler bezahlte Zeit zu stehlen?“
„Ich weiß es nicht, Martin, mach es nicht so spannend, es ist spät.“
Martin lachte.
„Die aktuelle politische Entwicklung zwingt uns, bestimmte Dinge, die seit Langem liegen geblieben sind, endlich in die Hand zu nehmen, um uns auf den Wahltermin im Juni besser vorzubereiten.“
Der Bürgermeister wies Klein an, Platz zu nehmen und bat seine Sekretärin Patricia darum, ihnen beiden Kaffee zu machen.
„Du weißt, was sich heute bundespolitisch ereignet hat?“, sagte Martin.
Die beiden Männer nahmen am Konferenztisch in der Mitte des Raumes Platz.
„Oskar Lafontaine ist zurückgetreten. Na und?“ antwortete Klein.
„Was bedeutet das für uns?“
Klein dachte lange nach. Soweit hatte er sich mit dem Thema noch gar nicht beschäftigt. Als Sozialdemokrat befand er sich an diesem Tage sozusagen in einem Schockzustand.
„Dass wir die Landtagswahl verlieren“, sagte er und sah dem Bürgermeister konzentriert in die Augen.
Martin stöhnte.
„Ich habe eben davon gesprochen. Welchen Termin haben wir Mitte Juni?“, fragte er seinen Fraktionsgeschäftsführer.
Klein schnippte mit den Fingern.
„Die Kommunalwahl. Aber warum sollte Oskars Rücktritt unsere Chancen bei der Kommunalwahl schmälern? Er war Bundesfinanzminister. Ich meine, was haben wir schon mit der Bundespolitik zu tun?“
„Weil unsere Wähler frustriert sind und nicht mehr wählen gehen. Die bleiben zuhause, und ich hab dann eine Mehrheit gegen mich, die mich sabotiert. Ich werde nichts mehr durchbringen können und bei der nächsten Bürgermeisterwahl wird man mich abwählen. So ist das! So einfach ist das!“
Martin erhob sich und begann, um den Mahagonitisch zu tigern.
Die beiden Herren sahen sich eine Weile an, dann ließ Klein seinen Blick über die Regale wandern. Martin hatte Verständnis dafür, dass Klein seinen Feierabend lieber mit seiner 16 Jahre jüngeren Lebensgefährtin verbringen würde. Doch hier ging es um Wichtigeres. Um ihn.
Klein stand an Position zwei der Liste für den Gemeinderat, und so hatte er Verantwortung zu tragen.
„Welche Gegenmaßnahme schlägst du vor?“, fragte Klein.
„Welche Gegenmaßnahmen können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch durchsetzen? Die Listen sind aufgestellt, die Wahlprogramme sind erarbeitet, kurz: Viel können wir nicht mehr tun. Aber einiges geht noch.“
„Konkret?“
„Ich will die Fraktion verjüngen.“
Klein spitzte die Ohren.
„Ich stelle mir das so vor, dass ein paar der Altvorderen auf ihre Ämter verzichten. Die meisten von ihnen haben das sechzigste Lebensjahr bereits überschritten.“
„An wen genau denkst du da?“
Patricia kam mit der Kanne und schenkte ihnen Kaffee ein.
„Ich schlage vor, wir fangen vorne an“, sagte Wolf.
Klein fiel die Kinnlade herunter.
„Du willst Erwin absägen?“
„Es ist unsere einzige Chance“, erwiderte Wolf, „wir wollen stärkste Fraktion werden. Und – sieh mal: Du hättest gleich zwei Vorteile davon. Du würdest den Fraktionsvorsitz übernehmen. Und du wärst Vorsitzender der stärksten Fraktion. Ist das ein Angebot?“
„Das kannst du nicht machen. Erwin ist zu beliebt bei den Menschen im Ort.“
„Erwins Zeit ist vorbei.“
„Hat er dir nicht all die Jahre den Rücken frei gehalten?“
„Brauche ich jemanden, der mir den Rücken freihält?“
„Weißt du noch, die Sache mit dem Bauauftrag für die Sporthalle damals? Der kalte Schweiß bricht mir aus, wenn ich daran denke. Es hätte uns allen den Job kosten können.“
„Mit Prämien für verdiente Genossen gewinne ich keine Wahl. Neue Zeiten erfordern neue Maßnahmen.“
„Wenn du einen neuen Spitzenmann aufbauen musst, so kurz vor der Wahl, dann schmälert das deine Chancen.“
„Es wundert mich, das von dir zu hören. Schließlich sollst du der neue Spitzenmann sein.“
„Mich kennen nur wenige Leute in der Gemeinde. Was passiert, wenn ich danach für ein mögliches Wahldesaster verantwortlich gemacht werde?“
„Wo wir hier unter uns sind, und ich verlasse mich darauf, dass diese Dinge unter uns bleiben: Die Verjüngung ist nur einer der Gründe, warum ich auf Erwin verzichten möchte.“
Wolf setzte sich wieder auf seinen Platz.
„Also ist deine Verjüngung nur ein Vorwand. Und um mir dieses Lügenmärchen anzuhören, vergeude ich meine Zeit. Ich bin gespannt, was wirklich dahinter steckt.“
„Kannst du dich an den gemeinsamen Antrag von der CDU und den Naturverbundenen Ökologen erinnern, den die beiden Fraktionen in den letzten Monaten mehrmals eingebracht haben?“
„Den Antrag, den wir mehrmals abgelehnt haben? Mit dem wir die Bevölkerung mehrmals gegen uns aufgebracht haben? Das Naturschutzgebiet.“
„Die Aue hinter dem Sportplatz. Seit dort Biber gesichtet wurden, ist es ein Prestigeprojekt der Naturverbundenen Ökologen gewesen, aber als dann die ersten vom Aussterben bedrohten Schlangen aufgetaucht sind …“
„Blindschleichen“, unterbrach ihn Klein.
„Gut, Blindschleichen“, sagte Wolf, „jedenfalls hat plötzlich die ganze Bevölkerung der Gemeinde ihr Herz für diese Brache entdeckt. Sogar die CDU ist auf den Zug aufgesprungen, nur wir nicht. Nach gültiger Rechtslage kann auf dem Gebiet nach wie vor gebaut werden.“
„Wir waren dagegen, weil das Gebiet von den Bürgern der Gemeinde als Freizeitgelände genutzt wird, zum Beispiel von Erwin, der dort sein Wochenendhaus hat. Wenn das Gelände als Naturschutzgebiet ausgewiesen wird, kann er es nicht mehr mit dem Auto befahren.“
„Nicht nur das. Das Haus ist beim Bauamt nicht genehmigt. Ich habe das überprüft. Wenn wir das Areal als Naturschutzgebiet ausweisen, dann können wir das Haus nicht mehr nachträglich genehmigen. Wir können es im Gegenteil jederzeit abreißen lassen. Wir werden das Gebiet als Naturschutzgebiet ausweisen, das Häuschen, für das keine Genehmigung vorliegt, zurückbauen und das ganze Gelände, soweit nötig, renaturieren. Voilà: Martin Wolf. Umweltfreundlich. Kompetent. Bürgernah. Vergiss nicht, dass in diesem Jahr zusätzlich die Grünen antreten. Das ist die Chance, die NÖP endlich aus dem Gemeinderat herauszubekommen.“
„Ich verstehe“, fasste Klein zusammen, „und Erwin als Besitzer dieses Wochenendhauses würde dieses Projekt natürlich hintertreiben. Das würde ich zumindest tun, wenn mir das Haus gehören würde.“
„Jedenfalls muss Erwin weg. Und du wirst ihn beerben. Das war‘s schon. Schönen Feierabend. Und vergiss nicht: morgen Abend! Fraktionssitzung!“
„Alles klar!“
Als er ging, hinterließ Klein ein schlechtes Gefühl beim Bürgermeister. Martin Wolf hätte gerade bei Christian Klein mehr Enthusiasmus und weniger Zweifel erwartet. War er nicht jung und ehrgeizig genug, sich auf den Fraktionsvorsitz zu freuen? Fürchtete er sich? Wenn ja, vor wem? Vor dem Fraktionsvorsitz? Vor dem Wähler? Oder doch vor Erwin? Wie weit ging seine Loyalität? Martin Wolf nahm sich vor, bei der anstehenden Umstrukturierung seiner Mannschaft äußerste Vorsicht an den Tag zu legen.