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4.

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16.45 Uhr.

Michael Lohse hielt das Bier in seiner Linken, die Fernbedienung in seiner Rechten und glotzte auf den Fernseher.

Er war kein Freund des Herumzappens, es machte ihn nervös. Dennoch switchte er heute Nachmittag hin und her. Switchte von Stadion zu Stadion. Er konnte sich nicht richtig auf die Bundesliga konzentrieren, die im Fernsehen lief.

Früher wäre er samstags um diese Zeit nicht vor dem Fernseher anzutreffen gewesen. Früher hätte er mit seinen drei Kindern den Zoo besucht. Vor zwanzig Jahren hatte er sogar selbst samstags gespielt. Das waren noch Zeiten gewesen.

Jetzt glotzte er in diesen Kasten, in der Hoffnung, irgendeine Fußball-Sensation könnte ihn für kurze Zeit davon abhalten, sich selbst zu bemitleiden.

Es ist unglaublich, dachte er, dass man gar nicht merkt, wie man langsam aber sicher vereinsamt. Es ist ein schleichender Prozess. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass Frösche, die in kochendes Wasser geworfen werden, sofort wieder herausspringen. Wenn das Wasser aber langsam erhitzt wird, während sie darin sitzen, dann bleiben sie drinnen. Und sterben.

Er nahm einen großzügigen Schluck aus seiner Flasche. Auf dem Wohnzimmertisch standen fünf weitere davon, die waren leer.

Genau wie der Frosch in das kochende Wasser, war er in die Einsamkeit gelangt. Er hatte es nicht bemerkt, als seine Kontakte allmählich weniger wurden. Er fand, dass an seinem Leben die Einsamkeit das mit Abstand schlimmste Übel war. Die Monotonie an sich war nur das zweitschlimmste. Er war nicht für die Einsamkeit gemacht.

Es begann, als er Renate kennen lernte. Er war damals siebzehn gewesen und hatte aktiv Fußball gespielt. Sie hatten ihn dafür bewundert, dass er mit Renate liiert war, einem Mädchen mit sportlichem Körper und glänzendem schwarzen Haar. Wenn man ehrlich war, hatte sie sich seitdem äußerst gut gehalten.

Er nahm einen weiteren Zug aus seiner Flasche.

Er hatte heute Nachmittag keinen Bock auf die Bundesliga. Warum hatte er sich dieses verfluchte Pay-TV gekauft? Würde besser mal wieder auf den Fußballplatz gehen, dachte Michael. Treffe ich den einen oder den anderen? Aber, wenn er es sich ehrlich überlegte, hatte er auf diese „Anderen“ keine Lust. Immer dieselben alten Nasen, die hier hängen geblieben sind, dachte er verbittert, so wie ich. Ich mag sie nicht mehr sehen.

Er nahm einen weiteren Schluck.

Das Bier schmeckte heute mal wieder erstklassig.

Ein Tor ist gefallen.

„Was interessiert es mich?“, sagte er laut. Was sagte es überhaupt über die Qualität einer Spielklasse, wenn ausgerechnet eine Mannschaft aus der Pfalz ihr amtierender Titelträger war? Ein Saarländer verzieh der Bundesliga so etwas nicht.

Er wusste, dass er etwas tun musste, um wieder einen Rhythmus in sein Leben zu bekommen. Doch es war nicht die leichteste Übung. Er war in diesem Trott drin, er konnte den Trott nicht aus seinem Leben herausbekommen, wenn sich sonst in seinem Leben nichts änderte.

Was aber sollte er denn schon ändern? Er lebte in diesem Kaff, er schuftete noch in demselben Betrieb, in dem er damals seine Lehre gemacht hatte, er und seine Frau schwiegen sich täglich von morgens bis abends an. Seine Kinder wurden ihm täglich fremder.

Ich lebe wie Al Bundy, dachte Michael. Nur mit dem Unterschied, dass dessen Frau nicht fremdging. Er nahm noch einen Schluck. Er wusste, dass sie es tat. Es war so offensichtlich.

Je länger diese Fußballspiele dauerten, desto mehr fiel ihm die Sendung auf die Nerven. Wieso habe ich diese Scheiße gekauft?, fragte er sich, früher hätte ich mich dafür geohrfeigt. Fußball war doch der Arbeitersport! Und Michael war ein Sozialist der reinen Schule gewesen. Früher wäre er niemals auf die Idee gekommen, sich an der kapitalistischen Ausplünderung seiner Lieblingssportart zu beteiligen.

Wir werden eben alle älter.

Michael fragte sich, wo diese Schlampe war.

Er verspürte bereits ein leichtes Rauschgefühl vom Alkohol. Dummheit frisst, Intelligenz säuft, das hatte schon sein Großvater Jonathan immer gesagt. Erstaunlich war jedoch, dass er sich trotz des Alkohols in seinem Blut nicht besser fühlte. Je länger er da saß und in die Glotze stierte, desto gereizter wurde er.

Er beschloss, die Glotze auszumachen und sich anzuziehen. Er entschied sich für seinen Sonntagsstaat. Blaues Hemd. Krawatte rot. Die schwarze Jacke. Wenn Renate samstags nachmittags das Haus verlassen konnte, dann konnte er das auch. Von seinen Mädchen ließ sich sowieso keine mehr blicken.

Es war kalt für einen Märztag. Es fiel ihm auf, als er die Straße betrat. Der Kragen der Jacke verursachte einen üblen Juckreiz an seinem roten Bart. Er fühlte sich nicht wohl.

Du blödes Kaff, dachte er. Seit fünfundvierzig Jahren wohne ich in dieser trüben Einsiedelei.

An der Einmündung seiner Tannenstraße in die Neuenwalder Straße musste er sich entscheiden, ob er rechts Richtung Sportplatz „Zu den drei Eichen“ abbiegen wollte, um seinem alten Club, den Sportfreunden Altweiler, beim Landesliga-Match gegen die benachbarte Kleinstadt zuschauen sollte oder ob er nach links Richtung Ortsmitte gehen wollte.

Er überlegte kurz, stellte sich vor, welche Leute in seinem Alter wohl auf dem Fußballplatz herumlungern würden, und entschied sich flugs für den Weg nach links. Das Herz schlägt links, dachte er.

Vielleicht hätten sich die Dinge anders entwickelt, wenn er stattdessen zum Sportplatz gegangen wäre.

Linke Hand vor dem Erreichen der Ortsmitte passierte er die Eulenklause.

Er blieb kurz stehen und dachte nach.

Dann betrat er die Kneipe.

Die holzgetäfelten dunkelbraunen Wände der Gaststätte versprühten ihren altertümlichen, wenig einladenden, etwas spießigen Charme. Die Kneipe war leer.

Er bestellte ein Bier. Die Gesellschaft tat ihm gut. Er verspürte eine heraufziehende Wärme in seinem Körper, nachdem er in dieser gut beheizten Pilsstube am Tresen Platz genommen hatte.

„Was darf ich dir zapfen?“ fragte Jupp.

„Rate mal“, entgegnete Michael. Jupp lachte.

Jupp stellte Michael ein frisch gezapftes Bier hin und befragte ihn dann, wie es seine Art war, zu den Themen, von denen er vermutete, dass sich der jeweilige Gast dafür interessierte. Michael lief aus unerfindlichen Gründen noch immer als SPD-Mann. Hätte Jupp gewusst, dass Michael das Fußballpaket gekauft hatte, hätte er ihn zu seiner Meinung über die Bundesliga befragt.

„Wie ist denn deine Meinung zum Rücktritt von Oskar Lafontaine?“

„Der wird sich noch wundern, wie langweilig es zuhause ist“, sagte Michael.

„Nun, er erhält eine gute Pension. Da kann es ihm doch egal sein.“

„Ich glaube, ohne Arbeit würde ich endgültig kaputt gehen. Ich würde mich zu Tode langweilen.“

„Du hast doch bestimmt genug Arbeit zuhause. Ich zum Beispiel habe einen Stall voller Enten, und demnächst schaffe ich mir noch Hühner an. Ich hätte genug zu tun, ich könnte morgen hier aufhören.“

„Es ist nicht einmal das, was ich auf der Arbeit tue“, entgegnete Michael. „Es ist nur, wenn ich alleine zuhause sitze, und – was weiß ich – den Estrich lege, dann fehlen mir die Arbeitskollegen. Verstehst du? Für mich ist Arbeit nicht nur arbeiten. Es ist in unserer heutigen Zeit die einzige Möglichkeit, unter Leuten zu sein. Du hast hier auch den ganzen Tag Leute um dich herum!“

„Die ganze Nacht, meinst du.“

Michael nahm einen großen Schluck und unterdrückte ein Aufstoßen.

„Ich verstehe was du meinst“, sagte Jupp, „du meinst, das ist wie in der Steinzeit. Wo du mit deinen Leuten gemeinsam auf die Jagd gehst.“

„Wir Jungs sind so programmiert.“

„Glaubst du, dass der Schröder jetzt hinschmeißt?“

„Die haben bisher schlechte Politik gemacht, warum sollen die nicht auch in Zukunft schlechte Politik machen können? Aber - mal was ganz anderes, Jupp. Ist es bei dir in der Kneipe immer so leer wie heute?“

„Normalerweise nicht. Der Bürgermeister feiert doch heute seinen fünfzigsten Geburtstag. Er gibt einen großen Empfang im Dorfgemeinschaftshaus.“

„Ach ja?“

„Er hat eine ganze Menge Leute eingeladen. Man hört, es sei auch viel Politprominenz anwesend. Wieso weißt du davon nichts, ich dachte, du bist in der Partei?“

„Ich bin schon lange nicht mehr politisch aktiv. Andererseits wundert mich, warum mein Vater nichts erwähnt hat. Er nimmt wahrscheinlich daran teil.“

Michael errötete. Es kam nicht gut an, von wichtigen gesellschaftlichen Anlässen ausgeschlossen zu sein.

Er trank noch weitere zwei Bier und zwei Ramazzotti, dann bezahlte er und verließ die Eulenklause.

Richtung Ortsmitte wurde der Verkehr hektischer. Untypisch für einen Samstagabend in einem solchen Kaff, dachte Michael, große Ereignisse werfen eben ihre Schatten voraus.

Auf dem großen Parkplatz vor dem Dorfgemeinschaftshaus, das umrahmt von Geschäften, unweit neben dem Rathaus auf der gleichen Straßenseite der Neuenwalder Straße gelegen war, war es voll geworden. Hier standen einige schwarze Mercedes und BMWs neben unscheinbareren Autos.

Aha, dachte Michael, die Politprominenz erweist dem Bürgermeister die Ehre. Die ganze Landes-Parteispitze ist angetreten.

Rein zufällig hatte sein Spaziergang Michael an die Eingangstür des Dorfgemeinschaftshauses geführt, wo gerade Winfried Bauer, der Kreisvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, und seine Frau den Raum betraten. Bauer hielt seiner Gattin die Tür auf. Als Michael ihn grüßte, rümpfte er die Nase, um ihm zu verstehen zu geben, dass man seinen Zustand riechen konnte.

Verstohlen blickte Michael Lohse durch das Fenster des Festsaales. Der riesige Saal war voll mit Gästen. In einem improvisierten Halbrund hatten sie sich um das Geburtstagskind, das gerade eine Rede zu halten schien, versammelt. Viele hatten ein Sektglas in der Hand, einige applaudierten. Offenbar war der Jubilar also gerade mit seiner Lobhudelei fertig geworden.

Idioten, dachte Michael Lohse. Schleimen diesen aufgeblasenen Schnösel an. Haben alle doch keine Würde und keine Selbstachtung mehr, diese Narren.

Kalter Wind umwehte ihn, doch stieg ihm aufgrund seiner Erregung das Blut zu Kopf und erhitzte sein Gemüt. Michael blickte um sich. Stille. Niemand betrat mehr das Dorfgemeinschaftshaus. Offenbar waren alle wichtigen Leute aus dem weiten Umkreis jetzt in diesem Raum. Er schaute sich die Versammlung an.

Die sehen mich nicht, dachte er, hier draußen ist es dunkel und innen Kronleuchter.

Er erkannte den Landesparteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Reinhard Klimmt, er erkannte Winfried Bauer, er erblickte den Vorsitzenden seines Fußballvereins und noch ein paar weitere Vereinsvorsitzende aus dem Dorf, er erkannte Leute aus der Partei.

Seltsam, dachte Michael, mein Vater ist gar nicht da. Seit Urzeiten hatte er in der Partei mitgemischt. Früher wäre er an herausgehobener Stelle präsent gewesen. Doch die Zeiten ändern sich.

Plötzlich stockte ihm der Atem. Was er da sah, konnte er kaum glauben. War das da vorne tatsächlich seine Frau? Renate war eingeladen?! Michael war perplex. Unglaublich. Biedert sich diese Schlampe bei diesem Wichtigtuer an. Wie erstarrt, beobachtete Michael Lohse, wie seine Frau, ein Glas Sekt in der Hand, sich mit diesem eingebildeten Wichtigtuer unterhielt. Flüsterte sie ihm was ins Ohr?

Plötzlich hörte Michael den Groschen fallen.

Martin. Es ist Martin Wolf. Sie tut es mit ihm.

Seine Selbstbeherrschung wurde einer harten Prüfung unterzogen. Einer Prüfung, die sie nicht bestehen konnte. Ohne weiter nachzudenken betrat er das Dorfgemeinschaftshaus.

Anzugträger sahen ihm gleichgültig zu, wie er sich zielstrebig dem Festsaal näherte. Heiner Plattling, der Vorsitzende des Angelsportvereins, begrüßte ihn freundlich. Ohne eine Miene zu verziehen oder ihn gar zu grüßen, ging Michael an ihm vorbei.

Der Festsaal war mit Girlanden geschmückt. An der linken Seite des Saals entlang erstreckte sich ein riesiges Buffet, auf dem sich kalte und warme Speisen in reichlicher Fülle sowie viele frisch gefüllte Gläser mit Sekt und Sekt-Orange dem Publikum präsentierten.

Martin Wolf stand am Mikrofon, etwa an der Stelle, wo er wenige Minuten zuvor seine Rede gehalten hatte.

„Das Buffet ist …“, begann er, dann wurde er von dem Eindringling überrascht. Rüde drückte Michael Martin vom Mikrofon weg und versuchte, ihn mit einem ungeschickten Schlag auf die Schulter, zu Boden zu stoßen.

„Du Schwein“, schrie Michael, und an das Publikum gerichtet, plärrte er ins Mikrofon: „Dieser Mann hier ist ein primitiver Lustmolch.“

In diesem Moment versuchten zwei Leute aus Martin Wolfs Gästeriege Michael von hinten vom Mikrofon weg zu zerren. Michael gelang es mit der Kraft eines angegriffenen Tieres, sich loszureißen.

„Michael, lass gut sein, du hast doch getrunken. Du riechst nach Alkohol! So beruhige dich doch“, sagte Martin.

Doch Michael dachte nicht daran, sich einwickeln zu lassen.

„Du fieses Arschloch“, schrie er, „du hast meine Frau gefickt!“

Ein Raunen ging durch das Publikum. In diesem Moment erblickte Michael Lohse seine Gattin, die sich aus Scham im hintersten Winkel des Saales, zwischen Buffet und Fenster zusammengekauert hatte.

„Ach – da ist unser kleines Luder!“ schrie er, sich gegen erneute Versuche der Gäste wehrend, ihn zu ergreifen, „na, wie ist denn unser Bürgermeister im Bett?“

Michaels Wut wurde in dem Maße stärker, in dem er sich in die Sache hinein steigerte.

„Kann unser kleiner Freund mittlerweile gut bumsen, wo er früher gestottert hat, wenn ein Mädchen in der Nähe war?“, brüllte er.

Mit irrem Blick näherte er sich seiner Frau, wobei er die Hand hob, andeutend, dass er sie schlagen wolle.

„Du widerliches Flittchen!“ brüllte er noch einmal, und anstatt sie zu schlagen, zog er mit der Wucht, die nach acht Bier und zwei Ramazzotti übrig geblieben war, an der Tischdecke, auf der das kostbare Buffet stand. Da die Tischdecke sich über den gesamten Tisch, auf dem das Büffet aufgebaut war, erstreckte, war der Schaden immens.

Zunächst kippten die Warmhaltegefäße, in denen das Fleisch, der Fisch und die Soßen aufbewahrt wurden, nach vorne über, dann fielen die Porzellanschüsseln mit den Salaten von den Tischen und zerbrachen. Die Sektgläser fielen bald danach von den Tischen, zersplitterten und verletzten Renate an ihrem Unterarm, während sich Sekt und Orangensaft auf den Parkettboden ergossen und sich mit den Antipasti vermischten, woraus sich ein widerlicher Brei ergab.

Michael war gerade im Begriff, seiner Frau mit dem Handrücken ins Gesicht zu schlagen, als ihn der Vorsitzende des Judoclubs, Manfred Schäfer mit einem geschickten Handgriff aufs Kreuz legte.

Dann wurde Michael schwarz vor Augen.

Der Mann mit der Säge

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