Читать книгу Der Mann mit der Säge - Jens van der Kreet - Страница 8
6.
ОглавлениеIm Keller des Hauses in der Augustinusstraße hatte Erwin, während er mit den Renovierungsarbeiten beschäftigt war, eine einsame, aber – wie er glaubte – mutige und verantwortungsvolle Entscheidung getroffen.
Er würde nicht zurücktreten.
Aus Respekt vor den Mechanismen einer repräsentativen Demokratie – immerhin war er von den Parteigremien ordnungsgemäß gewählt worden. Und weil er es ihnen zeigen wollte.
Erwin hatte, nachdem sie ihn abserviert hatten, kurze Zeit darüber nachgedacht, ob das Häuschen unten am Sportplatz, das er besaß, der heimliche Grund gewesen sein könnte, dass sie ihn absägen wollten. Hatte nicht damals die Naturverbundene Ökologische Partei das Gelände als Naturschutzgebiet ausweisen wollen? Er meinte sogar, in seiner Fraktion Unterstützer für dieses Projekt ausgemacht zu haben, aber aus Rücksicht zu ihm hatte sich offenbar keiner aus der Deckung gewagt.
Das war schade, denn dann hätte er ihnen die beruhigende Antwort geben können, dass er das Häuschen, das er seit Jahren nicht mehr gepflegt hatte, sowieso abreißen wollte. Jeder, der sein Freund war, wusste es im Prinzip. Jeder, der nicht sein Freund war, hätte jederzeit erfahren können, dass ihm an diesem Wochenendhäuschen nichts mehr lag, sondern dass er für die nächsten paar Jahre die Renovierung seines Wohnhauses in der Augustinusstraße als Daueraufgabe anvisiert hatte: Zunächst den Partykeller, dann den Wintergarten, schließlich die Küche, das Wohnzimmer, den Dachboden … Er hatte für die nächsten paar Jahre mehr als genug zu tun damit.
Jetzt, da er seinen heroischen Entschluss getroffen hatte, war er mit sich wieder im Reinen. Sorgen machte ihm sein ältester Sohn.
Ich hätte mich mehr um Michael kümmern müssen, dachte Erwin, nicht können, müssen. Gerade in den letzten Jahren war ich doch nie für ihn da. Wir hätten mal gemeinsam zum Fußball gehen müssen.
Er hoffte, dass er das bald tun könne, wenn Michael wieder normal wäre. Würde er jemals wieder normal werden? Ich sollte ihn anrufen, dachte er, verwarf diese Idee aber bald wieder. Er hatte das Gefühl, dass Michael im Moment nicht gut auf ihn zu sprechen war, der Himmel wusste, warum.
War es besser, ihn in Ruhe zu lassen? War Michael am ehesten selbst in der Lage, die Dinge in die Hand zu nehmen? Oder müssten womöglich Hedi und er das Sorgerecht für Rebecca übernehmen? Würde er einen Entzug machen und sich mit Renate aussöhnen? Würde alles gut werden?
Plötzlich erklang Hedis Stimme.
„Erwin! Telefon.“
„Was gibt es denn Dringendes?“, ächzte er, als er die Treppe erklomm.
Innerlich strahlte er. Solange die Menschen seine Nummer wählten, gehörte er dazu. Solange die Leute ihn anriefen, war er wichtig. Solange es klingelte und Hedi ihn rufen musste, war er eine tragende Säule des Gemeinwesens.
„Wer ist es denn?“
„Günther Schmidt von der SPD ist dran.“
Erwin nahm den Hörer.
„Erwin Lohse.“
„Schmidt. Guten Tag, Erwin.“
„Hallo Günther. Was gibt’s?“
„Du bist bestimmt beim Mittagessen. Ich will dich nicht lange stören.“
„Du störst nicht. Ich renoviere den Partykeller und wollte sowieso gerade eine Pause machen.“
„Ich habe nicht viel Zeit“, sagte der Pressereferent des SPD-Gemeindeverbandes Altweiler.
„Was kann ich für dich tun?“
„Es geht um Folgendes. Es ist bestimmt nur ein Fehler der Post. Aber weder Christian noch Martin noch sonst wer hat bisher deine Rücktrittserklärung bekommen. Ich vermute, dem Wahlleiter hast du schon Meldung gemacht. Aber wir brauchen aus Sicherheitsgründen eine Erklärung von dir. Schriftlich. Dann kann ich hier den Bericht fertig machen und das an die Presse faxen.“
„Du irrst dich.“
„Du hast die Erklärungen also bereits abgegeben. Es tut mir Leid, dass ich dich an diesem schönen Sonntagnachmittag belästigt habe. Ich habe deinen Brief sicherlich verlegt.“
Günther war schon kurz davor, aufzulegen, als Erwin fortfuhr:
„Mit Irrtum habe ich etwas anderes gemeint.“
„Kannst du das bitte genauer erläutern?“
„Ich trete nicht zurück.“
„Wie bitte? Soll das ein Scherz sein?“
„Das ist kein Scherz, Günther. Ich bleibe auf den Listen. Ich bin ordnungsgemäß gewählt.“
Günther lachte laut auf.
„Wie bitte? Der Gemeindeverbandsvorstand hat einstimmig beschlossen, dass du deine Kandidatur zurückziehst, die Fraktion hat es beschlossen, und auch der Ortsverein hat sich gegen dich entschieden.“
„Das interessiert mich nicht. Ich bin ordnungsgemäß gewählt.“
Wieder lachte Günther.
„Ich wüsste nicht, was es hier zu lachen gibt.“
„Erwin, die gleichen Leute, die dich im letzten November auf die Liste gesetzt haben, holen dich jetzt wieder herunter. Wir haben eben einen Fehler gemacht, und den haben wir jetzt eingesehen. Da kannst du dich nicht einfach querstellen.“
„Und ob ich kann!“
Erwin begann leicht zu zittern. Hedi, die dies offenbar bemerkte, kam zu ihm und griff ihn am Unterarm.
„Was ist los?“, flüsterte sie.
Erwin reagierte nicht auf sie.
„Das ist eine bodenlose Frechheit“, sagte Günther, „komm mir jetzt nicht mit Demokratie und dem ganzen Klimbim. Was hat das mit Demokratie zu tun, wenn ein alter Diktator wie du an seinem Sessel klebt?“
„Günther, ich sage es dir in aller Deutlichkeit: Ich bin demokratisch gewählt und ich ziehe mich nicht zurück. Ich bleibe drauf auf der Liste. Schluss. Aus. Ende.“
„Na, wenn das so ist. Dann bin ich mal gespannt, was der Bürgermeister dazu sagt. Ein Parteiausschlussverfahren müsste man dir anhängen.“
„Damit kommst du nicht durch, Günther, und das weißt du. Was den Bürgermeister betrifft: Mir ist es egal, was Martin dazu zu sagen hat. Wenn er seine absolute Mehrheit behalten will, dann muss er mich und unsere und damit auch meine Partei bei der Wahl unterstützen.“
„Deine Partei“, sagte Günther, „dass ich nicht lache. Du trittst zurück – und damit basta. Tu, was du für richtig hältst. Ich sag dem Bürgermeister Bescheid, soll der sich darum kümmern!“
„Okay. Soll der sich darum kümmern. – Günther?“, fragte Erwin.
„Was ist denn noch?“
„Bist du dir nicht zu schade, für den Bürgermeister die Drecksarbeit zu erledigen?“
Ein Zittern lag in seiner Stimme.
„Hier geht es nicht nur um den Bürgermeister, Erwin. Hier geht es um die Partei, hier geht es um uns alle.“
„Hat das der Bürgermeister zu euch gesagt?“
„Erwin, ich habe keine Lust, weiter mit dir über dein parteischädigendes Verhalten zu reden. Mach das mit dem Bürgermeister ab.“
„Okay. Eine Frage noch.“
„Schieß los!“
Der Mann am anderen Ende der Leitung wirkte jetzt zunehmend gereizt und lustlos.
„Ist es wegen dem Sommerhaus am Sportplatz? Ich bin jederzeit bereit, es abreißen zu lassen. Hätte nur mal einer von euch mit mir darüber gesprochen …“
„Hinterher kann man das immer schön sagen.“
Eine Pause entstand, dann fuhr Günther Schmidt fort: „Erst die Fraktion gegeneinander ausspielen wegen dieses Sommerhauses, und dann sagen, ich reiße es ab. Nein danke, Doppelagenten können wir im Wahlkampf nicht gebrauchen.“
Ohne jeden weiteren Gruß legte der Pressechef des Gemeindeverbandes auf.
Erwin, der weiter zitterte, ging langsam zum Küchentisch und setzte sich auf seinen Stuhl.
Der Mann mit der Säge, dachte Erwin, so nennt man ihn, den guten Martin Wolf. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ich einmal der Baum für ihn sein würde, ich, der ihn gefördert hat?
Hedi trug den großen Topf mit der Brühbohnensuppe stellte diesen auf den Untersetzer in der Mitte des Küchentischs. Dann ergriff sie Erwins Hand und streichelte darüber.
„Was ist denn, Mummelchen?“, fragte Hedi und versuchte mit ihrem Mädchentonfall, Erwin zu beruhigen. Erwin erlangte derweil seine Fassung langsam wieder.
„Ich hätte diesem Blödmann inzwischen vieles zugetraut, aber das nun nicht.“
„Was hat denn der Schmidt Günther angestellt?“
„Den meine ich gar nicht.“
„Von wem redest du denn dann? Du hast doch eben mit Günther Schmidt gesprochen.“
„Ja, ich habe mit Günther geredet. Aber ich meine den Bürgermeister. Er hat die gesamte Fraktion und den ganzen Gemeindeverband gegen mich aufgehetzt. Er erzählt überall herum, dass ich die Fraktion gegeneinander ausgespielt hätte wegen unseres Sommerhauses am Sportplatz.“
„Aber das wollten wir doch abreißen“, sagte Hedi.
Sie schüttelte den Kopf.
„Das wissen die ja nicht. Der Bürgermeister will jetzt offenbar den Antrag der Naturverbundenen Ökologen unterstützen, das Gelände als Naturschutzgebiet ausweisen und unser Häuschen abreißen. Davon würden wir sogar profitieren, weil wir es dann nicht selbst abreißen müssen und auch noch finanziell entschädigt werden. Aber statt mit mir darüber zu reden, geht er davon aus, dass ich ihn sabotieren will. Und jetzt hat er das allen als die Wahrheit aufgetischt. Jetzt sind sie alle gegen mich. Was sagst du dazu?“
„Nun“, sagte sie, während sie ihre beiden Teller mit der Suppe füllte, „das Beste wäre, wenn du dich jetzt zurückziehst. Diese Frechheiten musst du dir doch nicht gefallen lassen.“
„Bist du verrückt? Ich werde kämpfen. Jetzt erst recht.“
„Ach, Erwin“, seufzte Hedi, „du bist noch so stur wie eh und je. Du hast dich nicht verändert in all den Jahren, was das betrifft. Immer geht es dir nur ums Prinzip. Aber obwohl ich dagegen bin, unterstütze ich dich dabei. Versprich mir bitte bloß eins:“, sagte sie, und schaute ihm tief in die Augen.
„Pass auf dich auf, ja?“
Ihrem Blick ausweichend und ohne auf ihren Wunsch einzugehen, sagte er nur diesen einen Satz:
„Der Kampf ist eröffnet.“
Er ahnte nicht, dass er später einsehen würde, dass der Vorschlag seiner Frau nicht der schlechteste war.