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3.

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Erwin Lohse drückte auf das Gaspedal.

„19 Uhr“, meldete die sonore Stimme des Nachrichtensprechers der Europawelle, „Saarbrücken – Nach dem Rücktritt von Bundesfinanzminister Lafontaine wird dessen Privathaus in Saarbrücken weiterhin von Journalisten belagert …“.

Erwin drückte auf den Ausschaltknopf. Er konnte es nicht mehr hören, außerdem musste er sich auf den Verkehr konzentrieren, bei der Geschwindigkeit. Hoffentlich werde ich nicht noch von der Polizei angehalten, dachte er.

19 Uhr. Das heißt, die Fraktionssitzung hatte schon begonnen. Es war peinlich, wenn ausgerechnet der Fraktionsvorsitzende zu spät kam.

Er war am Nachmittag mit Hedi im Baumarkt einkaufen gewesen, danach hatte er begonnen, die frisch erworbene Stichsäge auszuprobieren, um die Renovierung des Partykellers fortzusetzen. Die Spanplatten, mit denen er die Wand des Kellers auskleiden wollte, lagen funktionsbereit im Keller, und es hatte nahe gelegen, schon mal mit der Montage zu beginnen. Darüber hatte er dann die Zeit vergessen. Ein Spaziergänger überquerte die Straße in Höhe des Rathauses. Beinahe hätte Erwin ihn übersehen, denn es war bereits dunkel, und der Spaziergänger trug keine Leuchtkleidung. Erwin, in dem die Wut wieder aufstieg, hupte. Seit Oskars Demission am Tag zuvor war er schlecht gelaunt.

Er parkte den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Rathaus, der jetzt relativ leer war. Er stürzte die Treppe zum Ratssaal hinauf. Neben dem prächtigen Ratssaal, in dem die Gemeinderatsitzungen stattfanden, befand sich ein kleinerer Konferenzraum, in dem die Fraktionssitzung stattfand.

Um 19.00 Uhr.

Er blickte auf seine Armbanduhr.

19.10 Uhr.

Zu spät.

Mist!

Er trat ein.

Martin Wolf hatte die Sitzung bereits eröffnet, was eigentlich Erwins Part als Fraktionsvorsitzender gewesen wäre. Er blickte in die Runde. Die Gesichter seiner Fraktionskollegen blickten ausdruckslos. Kein Scherz kam über ihre Lippen, es herrschte Totenstille. Hatte sie die politische Situation so mitgenommen?

Er klopfte auf den Tisch, der der Tür am nächsten lag, und an dem sein Kollege Rainer Späth Platz genommen hatte und schmetterte ein kraftvolles „Guten Abend“ in die Runde. Rainer Späth zupfte nervös an seinem Vollbart und blickte ihn grimmig an. Er grüßte nicht zurück.

Erwin nahm am Rande der U-förmigen Tischformation Platz, an der Wölbung des U saß der Bürgermeister wie eine Art Lehrer.

„Schön, dass du es noch geschafft hast, Erwin“, sagte Martin.

Seine Tonart klang einen Schwung kälter als er es von Martin gewohnt war.

„Mit derartiger Undiszipliniertheit ist die Kommunalwahl natürlich nicht zu gewinnen“, warf Erwins Stellvertreter Klein unaufgefordert ein.

Nur mühsam konnte Erwin ein Wort des Unmuts unterschlucken.

Bleib ruhig, dachte er.

Wolf wälzte sich durch weitere Tagesordnungspunkte, die Erwin mit einem flauen Gefühl in der Magengrube verfolgte. Ihm fiel auf, dass seine Genossen, in deren Mitte er saß, nicht über seine Witzchen lachten, ihm nichts zuflüsterten, kurz: ihn beständig ignorierten. Auf seine Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge wurde nicht eingegangen. Was ist los mit ihnen?, fragte er sich.

„Kommen wir zum Tagesordnungspunkt ‚Verschiedenes‘“, eröffnete Martin das letzte zu besprechende Thema. „Hier ist besonders die aktuelle politische Situation zu nennen, und die Auswirkungen, die sich daraus für unseren Wahlkampf ergeben.“

Es herrschte gespanntes Schweigen, was Wolf zu genießen schien.

„Eines ist klar: Solange die politischen Führungskräfte, die uns kurz vor dem Wahltag im Stich lassen, uns nicht helfen, müssen wir es selbst tun. Das bedeutet, dass unser personelles Angebot attraktiver werden muss. Zwar sind die Listen für die Gemeinderatswahl bereits aufgestellt, dennoch sollten wir noch nachsteuern.“

Er legte eine Folie auf den Projektor, der neben seinem Schreibtisch stand und knipste das Gerät an, das zunächst mit einem kräftigen Brummen antwortete, um nach kurzer Bedenkzeit sein Licht in Richtung der Wand auszustrahlen.

Auf der Grafik waren mehrere Balken in verschiedenen Farben abgebildet. Von links nach rechts wurden die Balken höher.

„Diese Grafik zeigt die Entwicklung der Durchschnittsalter unserer Gemeinderäte im Verlauf der letzten sieben Legislaturperioden“, sagte der Bürgermeister.

„Das Durchschnittsalter, das in den wilden Siebziger Jahren noch bei 45 Jahren gelegen hatte, ist nach und nach angestiegen. Die Juso-Vorsitzenden aus dieser Zeit sind in einigen Ortsteilen noch heute die jüngsten Vorstandsmitglieder. In den letzten beiden Legislaturperioden sind nur vier neue Leute für uns in den Gemeinderat hinein gekommen. Und von denen ist keiner unter vierzig. Statt unsere jungen Mitglieder zu fördern und sie frühzeitig in den Gemeinderat zu schicken, wie es die CDU tut, schicken wir sie Plakate kleben, und denken, damit hat es sich. Ein fataler Fehlschluss. Das Ergebnis ist, dass uns die jungen Leute nicht mehr wählen. Von der Kriegsgeneration wählen die meisten schon aus Prinzip die CDU, übrig bleiben die Alt-68er und die Bergleute. Und davon gibt es jeweils immer weniger. Das bedeutet: Wir müssen attraktiver für die Jugend werden“, schloss Wolf.

Dann geschah, was Erwin Lohse nicht für möglich gehalten hatte: Wolf erntete frenetischen Applaus.

Erwin stockte der Atem.

„Wenn ich da mal kurz einhaken darf“, sagte er, „Martin, du hast verhindert, dass Manuel Schneider in Kuhbach auf Platz zwei aufgestellt wird. Jetzt kommst du mir mit Verjüngung der Partei? Das ist doch nicht konsequent!“

„Anstatt dass wir hier über vergossene Milch reden, lass mich dir erläutern, wie ich mir diese Neuorientierung vorstelle“, fuhr der Bürgermeister fort, „wir werden das am besten so machen: Alle Kandidaten, die älter als 65 Jahre sind, treten von ihren Listenplätzen zurück, um Platz für die Jungen zu machen.“

Erwin schluckte. Der einzige in der Fraktion, der älter als 65 war, war er.

Was für eine ausgemachte Sauerei!

Eine solche Hinterlist hätte er Wolf niemals zugetraut.

„Martin, ich glaube nicht, dass solche Schnellschüsse geeignet sind, unsere Chancen bei der Wahl zu steigern. Ein solches Zeichen der Nervosität kommt beim Wahlvolk schlecht an. Außerdem ist Jugendlichkeit nicht alles. Die Leute wollen Männer mit Erfahrung. Mich kennt in Altweiler jeder. Bei den Vereinen habe ich einen guten Ruf. Die Leute wissen, was ich geleistet habe, und sind froh, dass ich nochmal antrete.“

„Aber du musst doch zugeben, dass du langsam zu alt dafür bist“, meinte Herbert Franz.

„Kompetenz ist keine Frage des Alters, Herbert.“

„Ich kann die betroffenen Genossen nur davor warnen, jetzt Unruhe in die Partei zu bringen, indem man aus persönlichen Gründen gegen die Strategie der Partei opponiert“, sagte Günther Schmidt, der Pressereferent des Gemeindeverbandes, der bislang eng und problemlos mit Erwin zusammengearbeitet hatte, „das müsstest du als unser langjähriger Fraktionsvorsitzender doch am besten wissen“.

„Ich denke, dass wir nun genug Aussprache zu diesem Thema hatten und bitte darum, dass diejenigen, die meinen Vorschlag unterstützen, die Hand heben“, sagte Martin.

Erwin hoffte, dass genügend Freunde, die er in der Fraktion hatte, diesen Vorschlag des Bürgermeisters ablehnen würden. Er glaubte aufgrund seiner Erfahrung, dass die meisten auf seiner Seite stünden. Dann wäre die Sache geklärt, und Erwin würde sie auf sich beruhen lassen und nicht nachkarten. Doch die Stimmung war bedrohlich.

Sie hatten ihn heute Abend wie einen Eindringling behandelt, der nicht wirklich willkommen war. Deshalb hätte er das Abstimmungsergebnis kommen sehen müssen. Dennoch traf es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als alle außer ihm selbst ihre Hand hoben und sich für seine Demission aussprachen.

Vorbei.

Nach fünfunddreißig Jahren Mitgliedschaft im Gemeinderat von Altweiler hatte man ihn abserviert. Einfach so. Erwin fühlte eine große Leere in sich aufsteigen. Neben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit für die Arbeiterwohlfahrt und seiner Vorstandstätigkeit im örtlichen Kaninchenzuchtverein waren der Gemeinderat und die Arbeit für seine Partei eine Leidenschaft, die einen großen Teil seiner Lebensqualität ausmachte. Er konnte nicht fassen, dass die Leute, die ihm alle etwas zu verdanken hatten, für die er sich jahrelang aufgeopfert hatte, ihn einfach fallen lassen konnten.

Er blickte um sich. Seine Genossen setzten die Sitzung fort, als wäre nichts. Sie widerten ihn an. Erwin erhob sich von seinem Platz und verließ die Sitzung grußlos.

Der Mann mit der Säge

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