Читать книгу Der Mann mit der Säge - Jens van der Kreet - Страница 7
5.
ОглавлениеDer Wintergarten war der schönste Platz im Haus ihrer Großeltern in der Augustinusstraße, fand Nina. Besonders natürlich, wenn es regnete oder schneite. Mit altmodischen Teppichen ausgelegt, fühlte sie sich durch das hölzerne Dach geschützt und sicher, und ein wohliges Frösteln lief über ihren Rücken, wenn die dicken Regentropfen gegen das Glas der Wintergartenwand prasselten.
Hinzu kam, dass in diesem mit Möbeln aus den fünfziger Jahren und dem muffigen Geruch des Gestern ausgestatteten Raum die Erinnerung an ihre Kindheit stets lebendig geblieben war, denn es war der Ort, an dem ihre Großeltern stundenlang Mau-Mau oder „Mensch ärgere dich nicht“ mit ihr gespielt hatten. Nun saßen sie hier im Wintergarten bei Kaffee und Kuchen.
„Dein Vater ist ein kranker Mann, Nina“, versuchte Oma noch einmal auf das Thema zurück zu kommen. Nina hatte wenig Interesse, sich mit dieser peinlichen Geschichte zu beschäftigen, doch letztlich blieb ihr nichts anderes übrig, denn er war schließlich ihr Vater.
Ohrenbetäubender Lärm erschütterte den idyllischen Anbau.
„Was ist das für ein Krach?“, fragte Nina.
„Das war bloß Großvater mit der Bohrmaschine.“
„Was hantiert er mit der Bohrmaschine herum?“
„Du weißt doch, dass er den Partykeller renoviert. Es ist mir lieber so.“
„Warum?“
„Er hat schlechte Laune.“
„Wegen der Sache letzte Woche?“
„Ja, auch deswegen.“
Nina schwieg, das Wort „auch“ überhörte sie.
Ich will es so genau nicht wissen, ich muss mich nicht noch mehr belasten.
„Wer außer dir soll denn die Ordnung bei euch zuhause noch aufrechterhalten? Deine Mutter? Ist verschwunden und hat die Scheidung eingereicht. Deine große Schwester wohnt nicht mehr bei euch.“
Sie schaute Nina mit ernster Miene an.
„Also wird es wohl an dir hängen bleiben.“
Verlegen bohrte das Mädchen mit ihrer Kuchengabel im Käsekuchen.
Nina war ein sozial engagierter Mensch, aber dennoch glaubte sie, ein Anrecht auf ein eigenes Leben, eine eigene Entwicklung hin zu einer eigenständigen erwachsenen Persönlichkeit zu haben, und mit sechzehn hatte sie andere Sorgen, als sich um ihren alkoholisierten Vater und ihre kleine Schwester zu kümmern. Doch was blieb ihr übrig?
Nina war es nicht gewohnt, dass ihre Oma so mit ihr redete. Es war nicht die Art, erwachsen zu werden, die sie sich gewünscht hatte.
Erwin brachte sich mit einem durchdringenden Bohrgeräusch in Erinnerung.
Ein Albtraum.
Nina sah auf die Uhr.
Sie beruhigte sich damit, dass sie mit Christina den heutigen Abend im Pub am Markt ausklingen lassen würde. Sie konnte es kaum erwarten, das Haus ihrer Großeltern zu verlassen. Der einzige Trost, schien es ihr, war der, dass ihr Großvater sie nicht auch noch seine miese Laune spüren ließ. Doch jetzt musste sie da erst mal durch.
Ihre Großmutter hatte ihnen beiden noch Kaffee geholt. Sie setzte sich auf das Chaiselongue des Wintergartens und lehnte sich zurück.
„Was hast du denn heute Abend noch vor?“
Der spontane Themenwechsel zauberte Nina ein Lächeln ins Gesicht.
„Christy und ich gehen ins Pub am Markt Billard spielen.“
„Oh, Billard“, erregte sich ihre Oma, „wird das denn heute noch gespielt.“
„Nicht mehr so oft, aber im Pub haben sie noch eins.“
„Sind denn auch junge Männer da?“, fragte die Großmutter mit einem Unterton, der Nina wütend machte.
Die unvermittelte Röte ihrer zarten Gesichtshaut überspielend, meinte sie cool, dass natürlich Jungs da wären, denn denen könne man schließlich kein Hausverbot geben. Doch ihre Großmutter gab noch nicht auf.
„Hast du denn noch keinen Freund?“, fragte sie, wobei sie letzteres Wort in die Länge zog, als sei es ein unanständiges.
„Nein, Oma.“
„Das ist aber nicht normal! In deinem Alter hat man als junges Mädchen heutzutage doch einen Freund!“
Merkt man, dass man erwachsen wird, daran, dass man die Besuche bei seinen Großeltern nicht mehr erträgt?
„Früher war das alles ganz anders. Als dein Großvater mir damals, nach der Tanzstunde, einen Blumenstrauß überreicht hat… Aber das war kurz nach dem Krieg.“
„Ich habe aber keinen Freund“, sagte Nina und entschuldigte sich dafür, dass sie denn nun gehen müsse. Die Großmutter zeigte sich verständig, unter der Bedingung, dass sie dann heute Abend aber bestimmt nach einem Freund Ausschau halten müsse.
Als sie bereits auf der Türschwelle stand, hatte die Neugier Ninas Bedürfnis nach seelischem Frieden besiegt. Sie konnte nicht anders, als ihrer Großmutter die Frage zu stellen, die ihr die ganze Zeit im Hinterkopf herumkasperte:
„Was ist denn mit Großvater eigentlich wirklich los?“
„Wieso?“ fragte Hedi.
„Du hast doch eben gesagt, Großvater sei ‚auch‘ wegen der Sache mit Vater schlecht gelaunt. Das heißt doch nichts anderes, als dass er noch wegen etwas Anderem schlecht gelaunt sein muss.“
„Ach mein Mädchen“, sagte Hedi und streichelte Nina zärtlich mit ihrer rechten Hand über das schwarze glänzende Haar ihrer Enkelin, „du willst es immer ganz genau wissen. Es ist nichts Schlimmes, er hat bloß Ärger mit der Partei und mit dem Bürgermeister. Du weißt ja, wie das ist in der Politik.“
„Ach so“, sagte Nina und verabschiedete sich.
Hedi küsste sie zum Abschied zärtlich auf die Stirn.
Drei Stunden später stand ihre beste Freundin Christina in der Tür, um sie abzuholen. Wie üblich hatte sich Christina schick gekleidet, sodass Nina sich trotz ihrer langen Vorarbeit an diesem Nachmittag in Blue Jeans und rotem Top mal wieder allzu gewöhnlich vorkam.
„Wohin gehen wir denn?“ fragte Nina Christina.
„Dumme Frage. Gibt ja nicht viel Auswahl hier.“
„Schätze, wir fangen mal im Pub am Markt an, oder?“
„Wir können später noch woanders hin. Vielleicht nimmt uns noch einer mit ins Eclair. Ein bisschen Tanzen muss schon sein“, schlug Christina vor.
„Was macht denn Tim heut’ Abend?“ fragte Nina.
„Der ist auf der Geburtstagsfeier von Kai, im Tennisheim.“
„Ah.“
Nina atmete auf.
„Wie gefällt dir mein neuer Lippenstift?“ fragte Christina, und deutete auf ihre dunkelrot geschminkten, allzu vollen Lippen.
„Willst du damit heute noch einen aufreißen?“
„Du spinnst wohl, Nina.“
„Schade.“
„Sei bloß still. Ich sollte dir erst mal einen Kerl besorgen.“
Nina knuffte sie von der Seite an.
„Einen, der es dir besorgt“, stichelte Christina weiter und kicherte.
Nina knuffte sie ein weiteres Mal, diesmal benutzte sie beide Fäuste. Dann machten sie sich auf den Weg.
Im Pub am Markt war um diese Zeit wenig los. An der Theke stand der einzige Gast außer ihnen beiden: Ein großer, wuchtiger Typ mit schulterlangen dunkelblonden Haaren und Vollbart, den Nina schon häufiger hier gesehen hatte. Er rauchte und musterte die beiden Mädchen, die das Lokal betraten.
Das Pub am Markt war nicht im rustikal-irischen Stil eingerichtet, wie andere Lokale, die sich mit dem englischen Wort für Gasthaus schmückten. Viel mehr ähnelte es einem Bistro für eine studentische Klientel, wie es in Großstädten üblich war: Der Boden des gesamten Gastraumes war mit dunklem Parkettboden ausgekleidet, Tische und Stühle schwarz, glatt und ohne Schnörkel. Keine Tischdecken, bloß eine Kerze in der Mitte des Tischs. Keine Gardinen, bloß große Fenster, die so viel Licht wie möglich in den Gastraum ließen. Vor dem Tresen waren Barhocker aus Stahl mit einer Sitzfläche aus schwarzem Leder festgeschraubt.
„Billard?“ fragte Christina.
„Gute Idee“, erwiderte Nina. Sie strebten nach dem Poolbillardtisch, der – etwas abseits – weit links in der Spielecke stand.
Christina war gut in Form. Sie konnte kurz nach dem Anstoß schon bald vier Kugeln einlochen, während Nina sogar mehrmals die Kugel verfehlte und den Queue in das grüne Filz rammte.
„Du wirkst unkonzentriert. Was ist los mit dir?“, fragte Christina.
Nina drehte den Kopf in Richtung des blonden Mannes am Tresen.
„Ich glaube, dieser Typ beobachtet uns“, flüsterte sie.
„Das ist voll der Psycho“, entgegnete Christina in normaler Lautstärke.
„Nicht so laut“, flüsterte Nina und lief rot an. Die Musik war noch nicht an, deshalb wunderte sich Nina darüber, dass ihre Freundin so laut redete, dass der Typ es mitbekommen könnte.
„Was denn?“ blaffte Christina zurück, „der hat mich an der Bushaltestelle letztens abends saudumm angelabert, als es geregnet hat, weißt du? Da hab ich auf der Bank gesessen und mit meinem Handy gespielt. Dann kommt der und grinst mich an. Und ich grins natürlich zurück. Dachte nicht, dass der mir dumm kommt. Dann fängt der an zu labern. Hat mir irgendwas erzählt von … Schmetterling und Orkan und so. Voll penetrant, der Typ. Dabei war ich doch grad dabei, voll den neuen Rekord aufzustellen bei Snake …“
„Du und dein Handyspiel. Wozu brauchst du überhaupt ein Handy?“
Nina schien die Anekdote als Beweislage nicht ausreichend, um den Typen offiziell als Psycho einzustufen. Sie beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken und weiterzuspielen. Doch der große Wurf wollte ihr heute nicht gelingen. Christina gewann das Spiel nach dreißig Minuten. Als die beiden an ihren Stammplatz am Fenster auf die gegenüberliegende Seite des Pubs am Markt strebten, saß der Typ noch da. Er hatte einen Bierkrug vor sich und den Kopf zwischen den Armen eingeklemmt. Entweder schlief er oder er meditierte.
Die beiden unterhielten sich kurz über die Ereignisse der vergangenen Woche, da setzte Christina plötzlich ein hämisches Grinsen auf.
„Was ist los? Was glotzt du mich an?“, fragte Nina.
„Nichts“, erwiderte Christina.
„Dann ist gut.“
Doch Christina behielt ihren leicht herablassenden Gesichtsausdruck bei.
„Ich kann dir einen besorgen“, sagte Christina.
„Was?“ fragte Nina.
„Ich kann dir einen Typen besorgen.“
„Ich will keinen Typen von dir, Christina. Wir haben lang und breit drüber gesprochen.“
„Ehrlich. Er ist süß. Passt zu dir. Ich hab mit Miriam drüber gesprochen.“
„Du hast … was?“ fragte Nina, „du hast mit Miriam drüber geredet?“
„Ja, hihi.“
„Na toll, dann weiß es bald jeder in meiner Schule. Hast du echt gut hingekriegt!“
Christina kramte ein Passfoto aus ihrer Handtasche und hielt es Nina hin.
Auf dem Foto war ein blässlicher Junge mit kurzgeschorenen dunkelbraunen Haaren, hohen Wangenknochen und Pickeln abgebildet.
„Na?“ fragte Christina.
Nina hielt das Foto in einer Armlänge Abstand von sich weg und betrachtete dann das Bild des Jünglings.
„Er ist schon ganz niedlich“, sagte sie, „ein Automatenfoto. Nun ja, jeder hat mal einen schlechten Tag.“
„Das ist Basti. Der gehört zu der Clique, die Nadine und Michelle letzte Woche im Eclair kennen gelernt haben. Er hat noch keine Freundin. Aber er sucht eine, die aussieht wie du“, erläuterte Christina.
„Hat er das gesagt?“
„Er hat gesagt, er sucht eine mit langen roten Haaren, großen Titten und einsachtzig groß.“
„Was will er dann von mir?“
„Ich glaube, er hat sich nicht so genau festgelegt.“
„Und jetzt?“
„Jetzt würde ich sagen, treffen wir uns doch einfach mal mit Basti. Tim und ich kommen mit. Wir können ihn unter irgendeinem Vorwand mitnehmen. Und dann ergibt sich das wie zufällig.“
Nina schüttelte den Kopf. Christina hatte schon viel dummes Zeug erzählt, aber das hier war die Krönung.
„Das ist so abgeschmackt. Da merkt doch jeder gleich, was los ist. Was glaubst du, wie verkrampft die Stimmung bei dem Treffen sein wird?“
„Na und? Dann weiß er es eben. Hauptsache, ihr lernt euch endlich einmal kennen.“
„Na gut, ich mache den Quatsch mit. Aber nur einmal. Damit du Ruhe gibst.“
„Klar“, antwortete Christina und küsste ihre Freundin auf die Wange.
„Du, ich muss mal zur Toilette. Kommst du mit oder passt du auf die Getränke auf?“ Ninas Caipirinha war noch voll.
„Ich bleib hier, schaffst du das auch alleine?“, antwortete Christina und holte ihr Handy aus der Handtasche.
Sie hat zu tun, dachte Nina, na denn.
Mittlerweile dröhnte laute Musik aus den Boxen, gerade lief ihr aktuelles Lieblingslied „Narcotic“ von Liquido. Doch die Musik konnte nicht den gellenden Schrei übertönen, der plötzlich den Raum erfüllte und der von der Toilette zu kommen schien.
„Du Scheiß-Ding!!!“ schrie die Person wie am Spieß.
Nina, die gerade auf dem Weg dahin war, konnte sehen, dass der Schrei von dem Typen mit der langen Mähne kam, der in der Mitte des Raumes gesessen hatte, als Christina und sie den Pub betreten hatten. Dem Typen, den Christina einen Psycho genannt hatte.
Jetzt, da sie der Toilette näher kam, konnte sie sehen, wie der Blonde seinen Fuß mit Schwung gegen den Zigarettenautomaten donnerte, der ein altmodisches, klobiges Teil war.
„Was soll denn das?“, blaffte ihn André, der Kellner, an, der herbeigeeilt war.
„Der Automat da ist kaputt. Ich habe fünf Mark hineingeworfen, und der Schacht klemmt. Und zurück gibt er mir das Geld nicht“, sagte der Typ.
„Ich will nicht, dass du mir hier die Bude zerlegst“, sagte André.
„Ist schon gut“, sagte der Typ und drückte wie bekloppt auf den Knopf, der die Münzenrückgabe aktivieren sollte.
Nina, die darauf wartete, dass André den engen Weg zur Toilette räumte, damit sie an dem rebellierenden Gast vorbei zum Klo gehen konnte, fand die Szenerie peinlich.
„Dieses Scheißding“, wiederholte der Langhaarige.
Als Nina von der Toilette zurückkam, stand er noch da. Diesmal hämmerte er mit der Handfläche gegen den Ausgabeschacht des altmodischen Gerätes.
„Wenn du mich fragst, hat das alles Methode“, nuschelte er.
„Sprichst du mit mir?“, fragte Nina. Ihr wurde mit einem Male mulmig.
„Mafia-Methoden sind das, jawohl“, ereiferte sich der Dunkelblonde und schaute Nina dabei an.
Nina ging wortlos an dem Mann vorbei und zu ihrem Tisch zurück.
„Der Typ da spinnt voll“, sagte sie.
„Sag ich doch“, meinte Christina, „ich habe den Krach gehört. Es war ja auch nicht zu überhören.“
Der blonde Typ trottete jetzt an ihnen beiden vorbei.
„Psycho! Psycho!“ raunzte Christina ihn an.
Verständnislos glotzte der Typ Christina an und ging dann kommentarlos an ihr vorbei.
„Sag mal, spinnst du?“ warf Nina ein.
„Ich? Wieso ich jetzt auf einmal?“
„Na, du kannst ihn doch nicht einfach so mit Schimpfwörtern überhäufen. Was würdest du denn sagen, wenn dir jemand auf der Straße die Worte ‚Schlampe! Schlampeʽ entgegenschleudern würde?“
„Das kann man doch überhaupt nicht vergleichen.“
Als sie sich wieder gesetzt hatten, hakte Christina nochmal nach.
„Oder findest du gut, wie er sich benimmt?“
„Vielleicht hat er gar nicht so Unrecht. Weißt du? Er möchte etwas haben. Er möchte rauchen. Und das ist ihm so wichtig, dass er dafür auf die Barrikaden geht. Vielleicht sollte ich das auch einmal tun.“
„Was? Einen Zigarettenautomaten zerstören?“
„Auf die Barrikaden gehen. Ich könnte auch mal zu Oma gehen und ihr ins Gesicht schleudern, dass ich mit sechzehn Jahren nicht mein kaputtes Elternhaus kitten, meine Schwester erziehen und meinen Vater in die Entzugsklinik bringen kann und dass ich das alles auch nicht will. Oder, was sagst du dazu?“
Schweigen.
„Was hast du gesagt? Ich habe gerade nicht zugehört.“
„Schon okay.“
„Ich habe übrigens eben, als du zur Toilette warst, Marc und Jonas angerufen. Die nehmen uns mit ins Eclair.“
Marc und Jonas waren Jungs, die die beiden aus dem Jugendclub kannten.
„Oh, cool“, erwiderte Nina.
Kurze Zeit darauf kamen die Jungs vorbei und nahmen die Mädchen mit zur Disko.
Als sie die Kneipe verließen, warf der verrückte Typ Nina noch einen verschwörerischen Blick zu. Sie bekam kurz Gänsehaut, dann vergaß sie die Geschichte bald.