Читать книгу Vier Werte, die Eltern & Jugendliche durch die Pubertät tragen - Jesper Juul - Страница 10
Antwort von Jesper Juul:
ОглавлениеWir alle verfügen über selbstdestruktive Eigenschaften, die wir aus unseren Herkunftsfamilien mitgenommen haben. Manche werden über mehrere Generationen hinweg weitergegeben. Nicht als genetisches Erbe, sondern als Ergebnis der Tatsache, dass Kinder ihre Eltern als Vorbilder nehmen – also mehr oder minder bewusst deren Verhalten kopieren. Jede neue Liebesbeziehung birgt die Hoffnung, dass sich diese selbstdestruktiven Eigenschaften heilen lassen. Eine neue Beziehung birgt drei Möglichkeiten: Sie kann sich symptomheilend, symptomerhaltend oder symptomverstärkend auswirken. In Ihrer Ehe hat die symptomverstärkende Tendenz die Oberhand gewonnen. Ihre Neigung zu Überanpassung und »Gefallsucht« ist stärker geworden, ebenso die Einsamkeit Ihres Mannes und seine Neigung zu einem selbstdestruktiven Lebensstil.
An unseren Verhaltensmustern tragen wir zunächst keine Schuld. Als Kinder und Jugendliche haben wir sie entwickelt, um in der Familie, in die wir hineingeboren wurden und von deren Liebe und Fürsorge wir total abhängig waren, leben und »überleben« zu können (und paradoxerweise ignorieren wir auch den Schmerz, den dies mit sich bringt).
Sie und Ihr Mann leiden beispielsweise an ganz unterschiedlichen Formen von Überverantwortung, die Menschen dazu bringt, mit Rücksicht auf die Gemeinschaft ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu verleugnen. Sie weigern sich beide, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass dieses Verhalten weder Ihnen selbst noch der Gemeinschaft dient – somit ist Ihre Tochter diejenige, die den Schmerz tragen und zum Ausdruck bringen muss.
Der Schmerz, an den wir uns als Individuum gewöhnt haben, wird langsam, aber sicher auf diejenigen übertragen, die wir lieben, und wenn dies geschieht, ist die Zeit reif für das, was wir persönliche Entwicklung nennen: Dann sollten wir einen oder mehrere Versuche unternehmen, ein Verhalten zu entwickeln, das unseren eigenen Schmerz beseitigt und unsere Nächsten von einer Bürde befreit.
Diese Entwicklung wird fast immer von ernsten Krisen in der Paarbeziehung und / oder den Symptomen unserer Kinder in Gang gesetzt, mit denen diese versuchen, sich ihren Eltern anzupassen. Falls wir uns dieser Herausforderung entziehen, indem wir etwa nur die anderen kritisieren, geschieht es sehr oft, dass wir ernsthaft erkranken. Und wenn uns auch das noch nicht dazu bringt, in uns zu gehen und unsere Verhaltensmuster zu ändern, wird das Ergebnis in seiner mildesten Form die Einsamkeit sein, die Sie beschreiben.
Ihre Familie hat zwei Möglichkeiten, die negative Abwärtsspirale aufzuhalten: Sie und Ihr Mann können sich professionelle Hilfe holen und erforschen, ob es möglich ist, Ihrer Beziehung etwas Konstruktives für beide Partner abzugewinnen. Falls sich dies als möglich erweist, sollte im nächsten Schritt die ganze Familie Hilfe bekommen. Sie können aber auch Ihre selbstdestruktiven Gedanken und Handlungen ändern und sich schnellstmöglich scheiden lassen. Ihre Tochter steht am Anfang der Pubertät und sehr kurz davor, ein Verhalten und ein Selbstbild zu entwickeln, das ihr in den kommenden Jahren große Probleme bereiten wird. Rein emotional hat Ihre Tochter sich für eine Seite entschieden, was jedoch nicht heißt, dass die Beziehung zwischen Ihnen beiden gut ist. Sie sind die beste Wahl, die Ihre Tochter zur Auswahl hat, doch als Frau sind auch Sie ein denkbar schlechtes Vorbild für Ihre Tochter.
Wir wissen bereits, dass ihr Schmerz als Zorn, Hass und Wut zum Ausdruck kommt, und es sind ausgerechnet diese Gefühle, die unsere Gesellschaft leider hart und gnadenlos niederschlägt, wenn sie sich in zwischenmenschlichen Beziehungen außerhalb der Familie bemerkbar machen.
Zeigen Sie Ihrer Tochter, wie man als Frau Verantwortung für sich selbst und seine Grenzen übernehmen kann, ohne in die Opferrolle zu schlüpfen.
Um die Beziehung zu ihrem Vater muss sie sich später im Leben kümmern, falls er jetzt keine professionelle Hilfe haben will.
Das Verhalten Ihrer Tochter hat Ihnen lange Zeit gesagt: »Nehmt euch zusammen!« Jetzt sage ich es auch.