Читать книгу Vier Werte, die Eltern & Jugendliche durch die Pubertät tragen - Jesper Juul - Страница 8
Genießen Sie Ihre Kinder!
ОглавлениеFür die etwa 14-jährigen Jugendlichen kommt der Zeitpunkt, an dem sie entweder durch die Konfirmation oder Firmung ihre Taufe bestätigen. Dieses Ereignis markiert zugleich den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein. In den meisten Familien versammeln sich aus diesem Anlass zahlreiche Freunde und Verwandte, um den jungen Erwachsenen zu feiern. Man isst und trinkt, der Jugendliche bekommt Geschenke, die Eltern halten Reden. Letzteres bedeutet oft, dass entweder die Mutter oder der Vater eine Rede auf ihre Tochter oder ihren Sohn hält und auf die vergangenen 14 Jahre zurückblickt. Mal überwiegen die ernsten, mal die heiteren Töne, heutzutage oft gefolgt von einem Lied oder untermalt mit einer Fotoshow oder auch ein paar Videoclips.
Bei den Feierlichkeiten zur Konfirmation wird so dem Kind quasi sein ganzes bisheriges Leben mit auf den Weg gegeben, was in vieler Hinsicht eine schöne und bedeutungsvolle Tradition ist.
Inzwischen ist es bei manchen Familien auch üblich, dass sich der Konfirmand mit einer eigenen Rede bedankt.
Als ich konfirmiert wurde, waren es in der Regel die Väter, die am Tisch aufstanden und eine Rede hielten, heute sind dies ebenso oft die Mütter oder beide Eltern. Seit vielen Jahren plädiere ich dafür, dass die Eltern zwei verschiedene Reden halten sollten, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde. Doch zunächst etwas über die Situation der Familie zu diesem Zeitpunkt.
Das Kind kommt in die Pubertät, ist also dabei, sich eine individuelle Identität zu erwerben, wozu verschiedenste geglückte und missglückte Experimente gehören. Die Eltern sind demzufolge mehr oder minder beunruhigt, wie das Ganze wohl enden wird. Der junge Mensch muss sich mit allen möglichen Dingen, wie etwa Schule, Ausbildung, Freundschaften, Sexualität, Alkohol, Drogen, persönlichem Stil und Religion, auseinandersetzen. Es warten also jede Menge innere und äußere Turbulenzen auf ihn.
Den Eltern bleibt in dieser Zeit nicht viel mehr als die Zuschauerrolle und die Frage an sich selbst, ob sie ihre Elternrolle bisher gut genug ausgefüllt haben: Haben wir alles richtig gemacht? War unser Einsatz ausreichend?
Haben sie ihrem Kind alles Nötige mitgegeben, damit es ein selbstbestimmtes gutes Leben führen kann? Ist es stark genug, um Alkohol und Zigaretten zu meiden? Bringt es genug Verantwortungsgefühl und Selbstdisziplin auf, um in der Schule klarzukommen? Verfügt es über individuelle Stärke und Charakter, um zwischen guten und schlechten Freunden unterscheiden zu können?
Wir reden also von einer Zeit, in der nicht nur die Jugendlichen ihr Interesse nach innen wenden, sondern auch die Eltern – in der neutralsten Bedeutung des Wortes – selbstbezogen werden. Diese Selbstbezogenheit von Eltern und Kindern wirkt auf den anderen oft provozierend, weil sie in wechselseitigen Zuschreibungen und Kategorisierungen zum Ausdruck kommt und auf diese Weise die weiterhin starke Sehnsucht nach der Zusammengehörigkeit und Nähe, die noch vor Kurzem bestanden hat, verbirgt.
Zu meiner Jugendzeit ging es in erster Linie darum, ob der junge Mensch wohlerzogen war und sich ordentlich benehmen konnte. Das betrachtete man damals nahezu als Garantie dafür, dass schon alles gut gehen würde. Aber das war eine Illusion. Heute wissen wir es besser, und obwohl wir immer noch Wert auf eine wohlerzogene Oberfläche legen, sind sich die meisten Eltern darin einig, dass sehr viel mehr nötig ist, um ein sicheres Fundament zu bilden, auf dem das Leben des jungen Menschen ruhen kann. Das Schlüsselwort lautet Selbstgefühl. Es ist der Kitt, der alle anderen Elemente zusammenhält, der Stärke und Flexibilität verleiht. Ein gesundes Selbstgefühl bedeutet, ein nüchternes, differenziertes und bejahendes Bild von sich selbst zu haben.
Warum ist ein gesundes Selbstgefühl so wichtig? Ist es nicht in Wahrheit eine neue Form von Ich-Bezogenheit und Individualismus, die Kinder und Jugendliche glauben lässt, sie könnten auf Gemeinschaft verzichten und folglich auch Empathie und Solidarität ignorieren?
Diese Frage ist legitim, weil ein Teil der Eltern in den letzten 20 Jahren seine Aufgabe missverstanden und Kinder mit einem großen Ego herangezogen hat, das dann entsteht, wenn man Kinder zu oft und unverhältnismäßig lobt, sie stets »in Watte packt« und ihnen durch ständige Serviceleistungen eine »Rundum-sorglos-Betreuung« zukommen lässt.
Ein gesundes Selbstgefühl ist eine existenzielle Qualität, die Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen hilft, persönliche und soziale Krisen und Traumata zu bewältigen.
Es ist diejenige Qualität, die sowohl die intellektuelle Entwicklung eines Kindes und Jugendlichen als auch den Erwerb von sozialer Kompetenz optimal unterstützt.
In den ersten 14 Lebensjahren ihres Kindes können Eltern zu seinem gesunden Selbstgefühl beitragen, indem sie Neugier, Interesse und Engagement zeigen, die individuelle Persönlichkeit ihres Kindes anerkennen und moralische Abwertungen sowie physische und psychische Gewalt verhindern.
Hinzu kommt die allerwichtigste Komponente: dass sich das Kind selbst als wertvoll für das Leben seiner Eltern empfindet.
In diesem Punkt greifen die pädagogischen Vorstellungen in Vergangenheit und Gegenwart oft zu kurz.
Die Tradition, dem Konfirmanden Bilder aus seinem Leben zu zeigen, ist schön und bedeutsam, weil eine solide Verankerung in der Vergangenheit eine gute Voraussetzung für die Zukunft ist. Daher schlage ich vor, dass sich zumindest ein Elternteil in den Wochen vor der Konfirmation mit folgender Frage beschäftigt: Ich habe nun 14 Jahre lang mit meinem Kind zusammengelebt. Inwiefern haben unsere Gemeinschaft und die Persönlichkeit meines Kindes meinem Leben wertvolle Nuancen und Erkenntnisse beschert? Inwiefern hat mein Kind mein Leben bereichert?
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf aufmerksam machen, dass Bereicherung, Selbsterkenntnis und persönliche Entwicklung oft das Ergebnis von Krisen und Konflikten sind und nicht von Glück und Harmonie.
Ich habe im Laufe der Zeit an mehreren Konfirmationen teilgenommen, auf denen solche Reden gehalten wurden, was jedes Mal ein sehr rührendes und besonders intensives Erlebnis war. In der Regel wird der Jugendliche, der im Mittelpunkt des Festes steht, von einer tiefen Freude erfüllt, und die Augen der Erwachsenen füllen sich mit Tränen. Letzteres geschieht zum einen aufgrund des schönen Erlebnisses, doch vor allem, weil sie plötzlich die riesige Sehnsucht spüren, die sie in sich tragen. Unsere eigenen Eltern waren ja so sehr mit der Erziehung ihrer Kinder beschäftigt, dass sie kaum einen Gedanken daran verschwendeten, sich von der Existenz ihrer Kinder bereichert zu fühlen.
Bei den heutigen Eltern ist es leider nicht viel anders. Sie sind so sehr auf die Gefahren fixiert, die einen jungen Menschen bedrohen, dass sie es versäumen, die wichtigste Art der Vorbeugung zu unterstützen – nämlich den Aufbau eines gesunden Selbstgefühls. Ich habe schon oft darauf hingewiesen, dass die Eltern von Teenagern ihre Kinder vor allen Dingen genießen sollten – und zwar so, wie sie wirklich sind.
Eine Mutter, die diese Aufforderung in einem meiner Bücher gelesen hat, erzählte mir, sie habe das Buch daraufhin wütend weit von sich auf den Boden geschleudert, fest entschlossen, keine weitere Zeile mehr darin zu lesen. Doch der Satz, man solle seine Kinder vor allem genießen, ging ihr in den folgenden Wochen nicht mehr aus dem Kopf. Also beschloss sie, es einmal auf einen Versuch ankommen zu lassen.
Sie machte die ebenso überraschende wie schockierende Erfahrung, wie schwer das ist. Sie hatte zwei Söhne im Alter von 14 und 17 Jahren, mit denen sie tägliche Konflikte erlebte. Glücklicherweise übte sie sich weiter darin, sich zurückzulehnen und ihre Söhne zu genießen, und eines Tages erhielt ich folgende Rückmeldung: »Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, für all meinen Einsatz als Mutter belohnt zu werden, und im Laufe weniger Tage hat sich meine Beziehung zu meinen Söhnen komplett verändert. Ich hatte ihnen nichts davon gesagt, doch endlich schienen auch sie sich wirklich entspannen zu können. Nun tragen wir keine Kämpfe mehr aus und reden viel mehr miteinander.«
Wenn die ganze Familie versammelt ist und die vergangenen Jahre anlässlich der Konfirmation oder Firmung Revue passieren lässt, ist dies ein schöner Anlass, das Zusammenleben mit den Kindern bewusst zu genießen.