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Danewerkstellung

2. Februar 1864

Sie hatten es geahnt, schon tagelang. Angespannte Erwartung hatte in der Luft gelegen, seit die Nachricht vom abgelehnten Ultimatum die Danewerkstellung erreicht hatte. Mads hatte in den Gesichtern seiner Kameraden die gleichen Gefühle gesehen, die sich zweifellos auch auf seinem zeigten – Furcht vor dem Ungewissen, gemischt mit einer nervösen Aufregung und aufgesetzter, teils ausufernder Heiterkeit. Ruhelos hatten sie in jeder freien Minute auf den Schanzen gestanden und in die Ferne gespäht.

Nun war aus der Ahnung Gewissheit geworden. Die ersten Schüsse dieses Krieges waren gefallen, als die Preußen am Vortag die Eider überquert hatten und gegen die dänischen Stellungen vorgerückt waren. Weitere Angriffe würden folgen. Mads und die anderen standen in vorderster Linie und würden die Feinde am Vordringen in den Norden hindern!

So hatten die Offiziere es ihnen heute beim Frühstück gesagt. Sie hatten alles darangesetzt, Begeisterung in ihren Untergebenen zu wecken, und bei vielen war es gelungen.

Mads aber fragte sich, wer diese Feinde waren und was sie zu ihren Feinden machte. Waren es nicht junge Männer wie er? Die meisten würden nicht einmal einen persönlichen Grund haben, in diesen Krieg zu ziehen, sondern waren schlicht einberufen worden. Was gab ihnen das Recht, die Waffen gegeneinander zu erheben?

Er hatte seinen Kaffee getrunken, der schon kalt gewesen war, kaum dass Mads ihn in den Becher gefüllt hatte. Nachdenklich hatte er die Kameraden betrachtet, von denen nicht alle zu ihren Familien zurückkehren würden. Er war ein kleiner Junge gewesen, als der Dreijährige Krieg unzählige Opfer gefordert hatte, und sah sie noch vor sich: die verstümmelten Männer, die weinenden Witwen, die vielen neuen Kreuze auf den Friedhöfen. Wie viele würden es dieses Mal sein?

Als fernes Donnergrollen aufzog, dachten sie zunächst an ein Gewitter. Dann aber kam der Reiter: »Die Preußen greifen Missunde an! Erst mit der Infanterie, dann mit Kanonen, jetzt wieder mit Fußsoldaten. Das Dorf brennt schon, doch unsere Stellung hält stand!«

Das Dorf brennt schon …

Mads sah die Menschen vor sich, deren Häuser in Flammen aufgingen. Frauen wie seine Bodil, die niemandem etwas zuleide getan hatten, Kinder wie das, das er sich sehnlichst wünschte. Ihm blieb jedoch keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Der Krieg war da, keine drei Meilen von ihnen entfernt. Seine Truppe wurde versammelt, es folgten Waffenübungen, stundenlang. Immer wieder zogen sie ihre Bajonette und gingen aufeinander los. Sie übten das schnelle Laden ihrer Gewehre, bis sie es im Schlaf hätten tun können – das Pulvertütchen aufreißen, den Inhalt in den Lauf schütten, feststopfen, dann die Kugel hineinpressen. Immer wieder zielten sie, schossen auf Holzzäune. Der Pulverdampf färbte ihre Gesichter schwarz, während ihre Kameraden in Missunde um ihr Leben kämpften. So wie sie selbst es am folgenden Tag tun würden. Denn so lautete ihr Befehl: hinaus auf den Königshügel, dem Feind entgegen.

Mads hatte die unbewaldete Anhöhe im Vorfeld des Danewerks schon in den Tagen ihrer Ankunft erklommen. Es war ein eisiger, aber klarer Tag gewesen, und kurz hatte sich sogar die Sonne gezeigt. Man hatte weit ins Land blicken können, über die flachen Felder bis zu den Dächern der Stadt Schleswig. Die nahen seeähnlichen Noore und die Schlei, über die diese mit dem Meer verbunden waren, hatten ruhig dagelegen, das Sonnenlicht hatte ihre Oberfläche zum Glitzern gebracht. Und nun sollten sie diese friedliche Landschaft mit Kampf und Tod überziehen.

Mads fragte sich, wie weit sie am folgenden Tag würden blicken können. Der Nebel hüllte alles ein, als seien die Wolken vom Himmel gekommen und hätten sich auf der Erde niedergelassen. Bis zum Abend wurde die Sicht nicht besser.

Obwohl die Nachricht eintraf, dass es zwar Verluste auf beiden Seiten gegeben habe, Missundes Verteidigung aber standgehalten hatte, wurde es eine unruhige Nacht für Mads und seine Kameraden. An den kalten Wind, der durch die Dachbalken der Baracken pfiff, auf denen sie lagen, hatten sie sich gewöhnt, auch daran, langsam eingeschneit zu werden, die Finger und Nasen nicht mehr zu spüren. Doch es waren die Gedanken an das Kommende, die die Männer keine Ruhe finden ließen.

Im Morgengrauen kletterte Mads als Erster vom Dach, nachdem er nur wenige Stunden geschlafen hatte. Seine Schritte knirschten auf dem hart gefrorenen Schnee, und er blies in seine Hände, um sie aufzutauen. Er fühlte das dringende Bedürfnis, an Bodil zu schreiben, ein letztes Mal vielleicht, doch da riefen schon die Offiziere ihre Männer zusammen. Ein schnelles Frühstück wurde ausgegeben, die klamme Kleidung so gut es ging am Feuer getrocknet. Der Kaffee war dünn und lauwarm, der Zwieback hatte durch die ständige Feuchtigkeit jede Knusprigkeit verloren. Mads kaute und hatte das Gefühl, an der Pampe in seinem Mund zu ersticken. Doch auch das Schlucken fiel ihm schwer. Die Aussicht auf den Tag schnürte seine Kehle zu.

Dann war es so weit – der Befehl erklang, sie schulterten ihre Tornister, nahmen ihre Waffen in die kältestarren Hände und verließen die schützenden Wälle. Der Schnee fiel mal stärker, mal schwächer vom grauen Himmel. Mads hielt mit den Kameraden Schritt, doch sein eigener Herzschlag pochte ihm so laut in den Ohren, dass er nichts anderes hörte. Er fühlte sich so hilflos, wie er sich bisher nur ein einziges Mal in seinem Leben gefühlt hatte – als sein Bruder August vor seinen Augen versunken war. Er spürte die stetig zunehmende Kälte des Tages so heftig, als triebe er selbst in einem See voller Eisschollen. Nicht einmal das schnelle Gehen brachte ihn dazu, sich wärmer zu fühlen. Er hätte am liebsten das Gewehr weggeworfen, wäre fortgelaufen, nach Hause zu Bodil, hätte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und den Krieg vergessen. Doch das war unmöglich. Seine Vorgesetzten riefen Befehle, und er befolgte sie so wie alle anderen. Sie ließen das schützende Danewerk hinter sich und boten ihre verletzlichen Körper dem Feind dar.

Sie passierten die Vorpostenstellungen bei Bustorf und dem Dorf Wedelspang, dann erklommen sie den Königshügel, bergan über den hart gefrorenen Boden. Mads wurde eingeteilt, mit vier weiteren Soldaten eine Kanone hinaufzuschieben. Es war ein schmales Ding auf Rädern, die ihm bis zur Schulter reichten, doch auf dem unwegsamen Gelände wog das Gefährt so schwer, dass die Männer bereits nach wenigen Metern schnauften. Plötzlich rutschten Mads’ Füße weg, er fiel bäuchlings hin und glitt ein Stück bergab. Panik erfasste ihn – wenn die anderen die Kanone nicht halten konnten, würde sie ihn überrollen!

Die angstvollen Rufe der Männer bestätigten seine Furcht, er hörte schon das Knirschen der Räder dicht an seinem Ohr, wälzte sich herum und rappelte sich auf. Gerade rechtzeitig, um sich auf die Kanone zu stürzen und den Kameraden zu helfen, sie unter Kontrolle zu bringen. Sie schafften es unter Aufbietung all ihrer Kräfte, schoben das Gefährt das letzte Stück den Hügel hinauf und ließen sich keuchend zu Boden fallen, kaum dass sie es sicher positioniert hatten.

Mads’ Arme und Beine fühlten sich an, als bestünden sie aus durchgeweichtem Zwieback, sie zitterten, und kalter Schweiß durchnässte sein Hemd. Er öffnete seinen Tornister, nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche und bemühte sich, ruhig zu atmen. Er folgte mit dem Blick dem Lauf der Kanone, der den Hügel hinab auf die Ebene deutete. Noch war kein Feind zu sehen. Knicks, dicht mit Sträuchern bewachsene Erdwälle, durchzogen das Gelände und boten den dänischen Soldaten Deckung. Am Fuße des Königshügels lag das Dorf Oberselk, in dem ebenfalls Truppen postiert waren.

Mads und seine Kameraden wurden zusammengerufen und ihren Positionen zugeteilt. Sie nutzten die Unebenheiten des Geländes, kauerten sich in Gräben und hinter Anhöhen. Dann warteten sie zitternd auf das, was geschehen würde. Und es geschah.

Trompetenfanfaren, die die Luft durchschnitten, waren das erste Anzeichen, dass es begann. Mads kniete sich hin, spähte über den Rand der Anhöhe und hielt den Atem an. Der Lärm von Schüssen hallte bis zu ihnen hinauf, dann loderte Mündungsfeuer im Dorf Oberselk auf. Die Feinde rückten vor. Von seiner erhöhten Position konnte Mads alles genau beobachten, und was er sah, ließ ihm das Herz schneller schlagen. Immer weiter wurden die Dänen aus dem Dorf und dem umliegenden Gelände zurückgedrängt, immer näher kam der Krieg zu ihm. Er hatte sich etwas beweisen wollen und befand sich nun in einer Lage, aus der es keinen Ausweg gab. Er dachte an Bodil, und Tränen stiegen in ihm auf.

»Bereit machen, Männer!«, rief sein Kommandant. »Die Österreicher sind im Anmarsch.«

Österreicher also. Nicht die Preußen, die am Vortag das Blutbad in Missunde angerichtet hatten. Dort hatten sie nicht siegen können. Würde es den Verbündeten hier gelingen? Sie mussten es verhindern!

So, wie er von seinem Platz aus die Vorgänge in südlicher Richtung beobachten konnte, vermochte man in entgegengesetzter Richtung hinter die dänischen Schanzen zu sehen. Es durfte nicht geschehen, dass den Feinden die Erstürmung gelang!

Doch die österreichischen Kolonnen rückten vor, passierten Knick um Knick und hatten schließlich den Fuß des Hügels erreicht.

»Laden – Feuer!«, ertönten die Befehle, und Mads befolgte sie, wie er es bei den Waffenübungen so oft getan hatte. Er schoss zum ersten Mal auf einen Menschen und war froh, durch den Qualm nicht zu sehen, ob und wen er traf. Laden, feuern, laden, feuern – mechanisch, ohne nachzudenken, vollzog er immer wieder dieselben Handgriffe. Kanonenschüsse krachten neben ihm, Blitze aus Rohren und Gewehrläufen zuckten durch den grauen Nachmittag.

Er wusste nicht, ob es Minuten oder Stunden waren, die sie die Österreicher mit ihren Schüssen auf Abstand hielten. Die Geräusche um ihn herum vermischten sich zu einer grauenerregenden Symphonie aus Schreien, Knallen und Trompetenklängen. Irgendwann stand er auf und folgte den Kameraden ein Stück den Hügel hinab auf den Feind zu.

Nun war es so weit. Mann gegen Mann, Auge in Auge mit dem Feind, der auch nur aus jungen Männern bestand, die aus dem einen oder anderen Grunde keine Wahl hatten, als in diesem Augenblick genau an dieser Stelle zu sein und um ihr Leben zu kämpfen. Denn kämpften sie wirklich um irgendetwas anderes? Um Land, um Macht? Für einen fernen König oder Kaiser? Mads glaubte nicht mehr daran.

Und doch lud er sein Gewehr erneut, richtete es auf einen anstürmenden Gegner. Er vermied es, den Mann genauer anzusehen, stattdessen beschwor er Bodils Gesicht herauf, sah vor sich, wie sie weinen würde, wenn er starb. Das gab ihm die Kraft, abzudrücken. Der Schrei war so nah wie keiner zuvor. Der Körper, der eben noch mit kräftigen Schritten bergauf gestürmt war, sackte in sich zusammen und fiel auf den bereits plattgetrampelten Schnee. Mads wandte sich ab und dem nächsten Gegner zu, verbot sich, über das nachzudenken, was er tat. Er lud, feuerte, wollte erneut laden. Doch da war einer der Männer mit den weißen Armbinden schon viel zu nah bei ihm. Er würde es nicht mehr schaffen! Mads riss sein Bajonett aus dem Gürtel und steckte es mit zitternden Fingern eilig vorn auf sein Gewehr. Die Klinge des anderen blitzte, und sie zeigte auf ihn. Ohne Zögern, noch immer das Bild von Bodil vor Augen, hob Mads seine Waffe und stieß die Spitze in Richtung des Fremden. Dessen Bajonett schrammte haarscharf an Mads’ Arm vorbei, sein eigenes jedoch verfehlte das Ziel nicht. Der Mann schrie auf und ging in die Knie. Mads zog seine Waffe zurück. Er wollte nicht hinsehen, wollte sich zwingen, an Bodil zu denken und an nichts sonst.

Doch er sah hin. Dies hier war etwas anderes als ein Schuss. Er hatte in seinem Arm gespürt, wie das Bajonett in den Leib des Fremden gedrungen war, hatte die Nachgiebigkeit gefühlt, die Weichheit des Fleisches. Jetzt sah er, wie das Blut des Mannes dessen Uniformjacke dunkel färbte, dasselbe Blut, das von seiner Klinge in den Schnee tropfte.

Sein Gegner stammelte Worte in einer Sprache, die Mads nicht verstand. Sprachen Österreicher nicht auch eine Art Deutsch? Wer waren diese Männer? Mads wusste nicht viel von Politik und noch weniger über die in fremden Ländern. Woher kam der Mann, der nun röchelnd vor ihm lag?

Es ist gleichgültig, er ist ein Feind!, redete sich Mads ein, doch der Gedanke ließ ihn nicht los. Er wusste, er hatte keine Zeit, lange bei dem Sterbenden zu verharren, doch er war wie gelähmt, konnte den Blick nicht abwenden von dem Grauen. Der Mann sackte zusammen und wimmerte nur noch.

»Mads!«, erklang plötzlich eine bekannte Stimme von links neben ihm. »Hilf mir!«

Es war Ferdinand. Er hatte seinen Gegner entwaffnet, dabei aber auch sein Gewehr verloren. Jetzt war der Österreicher drauf und dran, seines schneller wieder schussbereit zu machen. Mads blieb keine Wahl. Nach einem letzten Blick auf den ersten Menschen, den er mit eigener Hand getötet hatte, wandte er sich Ferdinands Gegner zu, der eben abdrücken wollte, und rammte ihm das Bajonett in den Rücken. Feige, dachte er. Jemanden von hinten zu erstechen – widersprach das nicht allem Ehrgefühl? Doch dieser Krieg hatte nichts Ehrenhaftes. Er kannte Ferdinand seit Kindertagen. Sollte er ihn sterben lassen, obwohl er ihn hätte retten können – nur um nicht ehrlos zu töten? Gab es überhaupt ehrenvolles Morden?

Mads hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Er schoss und stach, wich aus und schlug um sich, während seine Gedanken die wildesten Richtungen einschlugen. Bald dachte er gar nichts mehr, sah nur noch Bodils weinendes Gesicht und wurde immer sicherer, dass es genauso kommen würde. Dass er seine Frau nie wiedersehen würde. Denn trotz allen Kämpfens fielen er und seine Kameraden immer weiter zurück, den Hügel hinauf, über seine Kuppe und bereits ein Stückchen auf der anderen Seite wieder hinunter.

Es war aussichtslos. Er blickte sich um; sie waren nur noch so wenige! Überall die Fremden mit den weißen Armbinden, eine Übermacht, die aus der Ebene nachrückte. Er sah eine ihrer Kanonen, die sich auf die eigenen Männer richtete, da der Feind sie bereits eingenommen hatte. Schon knallte es. Mads schrie auf anstelle der beiden Getroffenen, denn die konnten nicht mehr schreien. Körperteile flogen umher und klatschten auf dem Boden auf, ein Arm, ein Bein, wie die Gliedmaßen einer Puppe, die ein wütendes Kind ihr ausgerissen hatte. Mads wurde so übel, dass ihm das Gegessene in einem Schwall aufstieg und er sich erbrechen musste. Er sah, dass es dem Mann, der eben auf ihn hatte losgehen wollen, genauso erging.

Warum beendeten sie diesen Wahnsinn nicht? Es ging ihnen doch allen gleich schlecht damit! Doch die Trompeten erklangen, und die Österreicher stürmten voran. Sein Gegner wischte sich mit dem Arm über das kalkbleiche Gesicht und hob seine Waffe. Mads rannte los und schaffte es hinter eine kleine Anhöhe, aus der direkten Schusslinie. Er zog ein weiteres Pulvertütchen aus seiner Tasche, da hörte er es.

»Rückzug!«

Der Ruf schallte durch die Kampfgeräusche zu ihm herüber. Mads wusste im ersten Augenblick nicht, ob er richtig gehört hatte.

»Rückzug hinter die Schanzen!«

Doch, er hatte! Es war das Signal, den Kampf verloren zu geben und die eigene Haut zu retten. Ein letztes Mal feuerte Mads sein Gewehr ab in Richtung des bleichen Soldaten, der ihm inzwischen gefährlich nahe gekommen war. Er wartete nicht ab, ob er getroffen hatte, sondern fuhr herum und rannte blindlings den Hügel hinab, weiter und immer weiter, den Kameraden nach, auf die schützenden Wälle des Danewerks zu.

Da hörte er einen Schuss, nahe, viel zu nahe, spürte einen Schlag hinten an seinem linken Oberschenkel. Sein Bein wurde warm, dann feucht, doch er rannte weiter. Nur nicht innehalten, nur nicht stehen bleiben. Nur nicht fallen. Weiter, voran! Mads rannte. Wieder ein Schuss, etwas, das dicht an seinem Ohr vorbeizischte. Der Kamerad neben ihm schrie auf, ging zu Boden. Es war nicht Ferdinand, zum Glück, denn der lief ein Stück vor ihm. Doch die Angst schnürte Mads die Kehle zu, machte ihm das Atmen noch schwerer, als die Anstrengung es ohnehin tat. Er schnappte nach Luft. Nicht nachdenken, nur rennen, weiter und weiter.

Er schlitterte bergab, rutschte mehr, als dass er lief, und blieb doch auf den Füßen. Die Geräusche wurden endlich leiser, die Schreie, die Schüsse, die Schritte von tausenden Stiefeln auf dem gefrorenen Boden. Wedelspang tauchte auf, ein Dorf nur, zwar mit dänischen Truppen besetzt, doch längst nicht sicher. Sie verschnauften einen kurzen Augenblick, dann wurden sie weiterbefohlen, an der Stellung Bustorf vorbei. Auch hier würden sie nicht bleiben, sie waren den ausgeruhten Kameraden keine Hilfe mehr. Zu viele waren verletzt, wurden mitgeschleppt von erschöpften, blutbefleckten Männern. Sie mussten die Danewerkstellung erreichen, das sichere Bollwerk. Die Welt um Mads drehte sich. Immer wieder tanzten schwarze Schatten vor seinen Augen.

Dort, die Schanzen! Gleich hatte er es geschafft. Die Kampfgeräusche blieben hinter ihnen zurück, er hörte nur noch das Keuchen und Wimmern seiner Kameraden. Dann wurde alles still, bis auf das Rauschen in Mads’ Ohren, das zu einem markerschütternden Pfeifen anschwoll. Der Schmerz kam wie ein Faustschlag. Mads ging in die Knie, setzte sich auf den Hosenboden, lehnte sich gegen eine der rettenden Holzwände. Geschafft.

Das Pfeifen blieb, er hörte nichts, sah aber, was um ihn herum geschah. Er wollte die Augen schließen, doch er konnte es nicht. Da war der blonde Hans aus København, ein hübscher, junger Mann, und ihm fehlte ein Teil seines Armes. Das Blut sprudelte aus dem Stumpf heraus, sein Mund war aufgerissen zu einem wahnsinnigen Schrei. Zwei Kameraden schleppten ihn in die Baracke, in der die Sanitäter ihren Dienst taten. Mads wusste, er würde Hans nicht lebend wiedersehen. Und auch die anderen nicht, die jetzt, einer nach dem anderen, vom Schlachtfeld in die Baracke getragen wurden. Blut troff aus Bäuchen, Beinstümpfen, Hälsen. Einem Soldaten fehlte das halbe Gesicht, es war nur noch ein blutiger Klumpen rohen Fleisches, ohne Auge, ohne Ohr. Mads’ Magen krampfte sich zusammen, und er würgte bittere Galle hoch.

Sein Bein brannte wie Feuer. Er wand sich, um sich von hinten zu betrachten, einzuschätzen, ob die Wunde einer Behandlung bedurfte. Er wollte keinesfalls für eine Nichtigkeit die Sanitäter bemühen, die Leben zu retten hatten. Mads betastete durch den aufgerissenen Stoff hindurch seinen Oberschenkel und stellte fest, dass er nicht allzu stark blutete. Er biss die Zähne zusammen und entschied, dass er sich nicht behandeln lassen musste. Er brauchte nur ein wenig Ruhe. Endlich gelang es ihm, die Augen zu schließen.

Er wusste nicht, wie lange er dort gesessen hatte, ob er geschlafen hatte oder nicht. Doch als sein Kopf wieder klar wurde, hatte das Pfeifen in seinen Ohren nachgelassen. Er hörte wieder, was um ihn herum vor sich ging. Von einer nahen Schanze aus wurde geschossen, und Mads zuckte bei jedem Knall zusammen. Das Durcheinander in der Stellung aber hatte sich geordnet, nur aus der Sanitätsbaracke drangen weiterhin Schreie und Wehklagen. Die leichter verletzten Kameraden verbanden sich gegenseitig, die Unverletzten brachten Kaffee. Die Offiziere hielten Reden, lobten den tapferen Kampf und berichteten, wie der Gefechtstag zu Ende gegangen war. Mads war immer noch übel, und die Worte, die er hörte, machten es nicht besser. Der Feind hatte nicht nur den Königshügel erobert, sondern auch Wedelspang. Erst bei Bustorf war er vor Kurzem aufgehalten worden, da er direkt vom Danewerk aus beschossen werden konnte.

Es dämmerte bereits, als Mads sich aufrappelte. Er nahm eine Laterne und machte sich auf die Suche nach Ferdinand. Er fand ihn schluchzend in der Ecke der halb fertigen Baracke, auf deren Dach sie schliefen.

»Bist du verletzt?«, fragte Mads und hockte sich neben den Freund, vorsichtig, um sein verwundetes Bein zu schonen.

»Nein.« Ferdinand hob den Kopf, den er in den Armen vergraben hatte, und schniefte. »Und du?«

»Ein wenig.« Er deutete auf sein Bein.

»Lass mal sehen.«

»Nicht nötig.«

Doch Ferdinand bestand darauf, und Mads ließ die Hose herunter. Der Freund griff nach der Laterne und beleuchtete Mads’ entblößtes Bein, so gut es ging.

»Es blutet nicht mehr.« Vorsichtig fühlte er über die Wunde. »War wohl nur ein Streifschuss. Die tun höllisch weh, hab ich gehört.«

»Es geht schon wieder.« Mads zog sich an, dann setzten sie sich auf den eisigen Boden. »Warum weinst du, mein Freund?«

Ferdinand lachte auf. »Warum weinst du nicht?« Er begann erneut zu schluchzen.

Da erst brach alles Geschehene über Mads herein. Er hatte getötet, eigenhändig, hatte Leben ausgelöscht, um sein eigenes zu retten, das er unvorsichtigerweise in die Hände eines Königs und seiner Minister gelegt hatte. Und das war erst der Anfang, die erste Schlacht, die um ein Haar seine letzte gewesen wäre. Er spürte das Zittern, das seinen Körper erfasste, doch erst als Ferdinand den Arm um ihn legte und sich für seine Rettung bedankte, brachen die Tränen auch aus Mads heraus. So saßen sie eine Weile beisammen, zwei Jugendfreunde, verzweifelt über das Erlebte.

Als es schließlich zu kalt wurde, rappelten sie sich auf und verließen die Baracke. Es war mittlerweile dunkel, Fackeln, Kochfeuer und Laternen brannten. Sie zwangen sich dazu, einige Bissen der faden Pfannkuchen zu essen, die ein Kamerad gebacken hatte, dann suchten sie sich ein Eckchen in einer fertiggestellten Baracke, um wenigstens in dieser Nacht nicht allein und in der Kälte zu schlafen. Außerdem hätte Mads mit seinem schmerzenden Bein ohnehin nicht aufs Dach klettern können.

Sie stiegen über die Männer, die bereits im Sitzen und dicht aneinandergelehnt im Stroh schliefen. Eigentlich war kein Platz mehr in dem überfüllten Raum, doch in dieser Nacht rückten alle enger zusammen. Die Nähe der Kameraden war tröstlich, und die Wärme tat ihnen gut. Mads’ Wunde schmerzte, aber seit Ferdinand gesagt hatte, es sei nur ein Streifschuss, sorgte er sich weniger. Es würde heilen.

Und dann?

Er fürchtete sich vor dem kommenden Tag. Würden die Feinde im Freudentaumel über den Sieg die Danewerkstellung angreifen?

Und war diese wirklich sicher?

Die Welt so stille

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