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Angeln
5. Februar 1864
Line blickte aus einem der Fenster der riesigen Gutsküche. Grete und Fie tobten mit den Kindern der anderen Mägde über den Hof. Sie fingen die dicken Schneeflocken mit ihren Mündern, ließen sie auf ihren Nasenspitzen landen oder schnappten mit den Händen danach. Das Kichern der Kleinen drang an Lines Ohr und machte sie einerseits froh, andererseits so neidisch, dass es wehtat. Ihre Hände schmerzten von dem heißen Putzwasser, in das sie immer wieder den Lappen tauchte, mit dem sie die Arbeitstische schrubbte. Sie waren übersät von den angetrockneten Resten des Essens, das die Köchinnen stundenlang für das bevorstehende Festmahl am Abend bereitet hatten.
Als endlich alle Spuren beseitigt waren, seufzte Line froh. Die Arbeit machte ihr nichts aus, doch es gab Tätigkeiten, die ihr lieber waren als das Putzen der Küche. Sie trat in den Hof, lief auf ihre Schwestern zu, hob Fie von den Füßen und wirbelte sie durch die Luft.
»Hej, min lille snefnug! Kleine Schneeflocke, flieg!«
»Arlina!«
Line stellte die begeistert glucksende Sophie schnell auf die Füße und trat ihrer Mutter entgegen, die schon wieder ihr wütendstes Gesicht aufgesetzt hatte. Dabei war sich Line an diesem Tag wirklich keiner Schuld bewusst. Sie hatte sich doch bemüht, alles zu tun, was von ihr verlangt wurde! Und seit dem Ausflug mit Claus und der unheimlichen Begegnung mit den Soldaten hatte sie den Gutshof nicht mehr verlassen.
»Ja, Frau Mutter?«
»Du sollst nicht Dänisch reden!«
»Aber warum denn nicht?«
»Wir sind Deutsche.«
»Ich dachte, wir sind Schleswiger. Und die sprechen alles Mögliche – Deutsch, Dänisch, Friesisch. Ich mag die verschiedenen Sprachen.«
Wieder einmal musste Line einer Ohrfeige ausweichen. Dass sie es schaffte, erzürnte Catharina nur noch mehr.
»Wenn das deine werte Frau Patin wüsste, dass ihre geschätzte Schule dir solche Unarten beigebracht hat! Wo sie doch so stolz drauf ist, dass die Familie ihres Gatten all die preußischen Offiziere stellt.« Sie lachte böse auf. »Wir sind im Krieg, du dummes Ding! Und wenn ich dir sage, du sprichst kein Dänisch auf diesem Hof, dann tust du es auch nicht!«
Sie standen sich gegenüber, starrten einander in die Augen. Line spürte, wie sich in ihr eine solch brennende Wut ausbreitete, dass sie kaum atmen konnte. Was hatte sie ihrer Mutter angetan, dass diese nur Schlechtes an ihr fand, egal, was sie tat? Der Zorn über diese Ungerechtigkeit ergriff von Line Besitz, und ehe sie wusste, was sie tat, öffnete sie den Mund und sagte ruhig: »Du må have spist søm, din dumme heks! Gå ad helvede til!«
Dann drehte sie sich um, ganz langsam, straffte die Schultern und ging davon. Hinter ihr blieb es still, selbst das Lachen der Kinder war verstummt. Nach wenigen Augenblicken jedoch hörte sie das klappernde Geräusch von Catharinas Holzschuhen auf dem Pflaster, fühlte sich am Zopf gepackt und herumgerissen. In den Augen der Mutter flackerte Hass, und diesmal war es nicht die flache Hand, die Line im Gesicht traf. Der Faustschlag ließ sie zu Boden gehen, sofort schmeckte sie Blut.
»Der Teufel hat dich mir gebracht, du widerwärtiges Geschöpf! Ich gehe noch heute zum Herrn und bitte ihn, dich vom Hof zu jagen!«
Line war froh, dass sich die Mutter entfernte. So konnte sie ihre Tränen nicht sehen. Sie wollte nicht weinen, doch der Schlag hatte nicht nur ihren Körper verletzt, sondern vor allem ihren Stolz. Sie fühlte sich plötzlich winzig klein, wie ein halber Mensch.
Auch Grete und Fie weinten, die herrlichen Schneeflocken waren vergessen. Line rappelte sich auf und wischte sich das Blut von der Lippe. Sie hatte zu viel gewagt. Aber sie hatte nicht anders gekonnt! Jetzt musste sie schnell entscheiden, was zu tun war, ehe die Mutter ihre Drohung wahrmachte und sie ohne eine Anstellung auf der Straße stehen würde.
Abwesend tätschelte sie ihren Schwestern die Köpfe, dann rannte sie in ihre Kammer und zog sich so warm wie möglich an. Immerhin hatte sie einen ordentlichen Marsch vor sich. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass Wange und Lippen bereits anschwollen, doch das war nicht zu ändern. Sie atmete tief durch, verließ den Gutshof und machte sich auf den Weg ins Dorf. Es schneite noch immer, aber Line hatte keine Freude mehr daran. Missmutig wischte sie sich die Flocken aus dem Gesicht. Sie ließ die Häuser des Dorfes hinter sich und stapfte in südlicher Richtung weiter durch den Schnee, kreuzte die Landstraße und erreichte den weitläufigen Hof des Bauern Lorenzen. Dort sprach sie den erstbesten Menschen an, einen Jungen, der in ihrem Alter sein mochte, aber längst nicht ihre Körpergröße besaß.
»Ich suche den Knecht Carl Dittmann. Wo finde ich den?«
»Na, rate mal!« Der Junge lachte gehässig. »Der sitzt im Eber und säuft, wie immer. Und wie siehst du überhaupt aus? Hast du dich geprügelt?«
Line ballte die Fäuste. Sie hatte nicht übel Lust, sich mit dem unverschämten Kerl zu prügeln! For fanden! Was war das für ein entsetzlicher Tag? Nun war sie den ganzen Weg hier hinausgekommen, nur um gesagt zu bekommen, dass ihr Vater in dem Gasthaus saß, das keine fünf Minuten vom Gutshof entfernt lag! Sie fuhr wortlos herum und stapfte durch das immer stärker werdende Schneegestöber denselben Weg zurück, den sie eben gekommen war, in den Ohren noch das Hohnlachen des Jungen.
Als sie das Wirtshaus erreichte, zögerte sie einen Augenblick. Sie hatte den Schwarzen Eber bereits betreten, doch Kinder und vor allem Mädchen waren dort nicht gern gesehen. Aber es half nichts, sie musste mit ihrem Vater reden. Vielleicht konnte er ihr helfen, eine Anstellung zu finden. Sie stieß die Tür auf und fand sich im Gastraum wieder, in dem die Luft von Rauch und Ausdünstungen der Gäste geschwängert war. Sie verharrte einen Moment und ließ den Blick über die an den Tischen und am Tresen sitzenden Männer schweifen. Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr.
»Die Preußen und Österreicher sind schon mit Tausenden von Soldaten südlich der Schlei.«
»Und bald kommen sie auch hierher zu uns, um uns zu befreien. Die paar Dänen werden sie nicht aufhalten.«
»Wovon befreien?«
»Von der Dänenherrschaft!«
»Was weißt du von der Herrschaft, Paul? Du arbeitest und säufst, nichts weiter. Was kümmert dich die Politik?«
Schallendes Gelächter.
»Mich stören die Dänen nicht.«
»Aber mich! Warum sollen unsere deutschen Kinder in der Schule Dänisch sprechen?«
»Du hast doch gar keine Kinder!«
Wieder dröhnte das Lachen der Trinker durch den stickigen Raum. Line hatte inzwischen ihren Vater ausmachen können und ging auf ihn zu. Er saß mit zwei anderen Männern ins Gespräch vertieft am Tresen.
»Herr Vater?«, sprach Line ihn schüchtern an. Der Mann wandte sich zu ihr um, sah sie aus blutunterlaufenen Augen an.
»Was willst du?«, lallte er.
»Ich möchte Ihnen eine Frage stellen.«
»Ist das deine Tochter, Carl?«, fragte einer der anderen Männer. »Hübsches Ding. Schöne blaue Augen. Nur die Lippe sieht übel aus.«
Line wurde heiß unter den vielen Schichten Kleidung, die sie trug.
»Ihre Mutter behauptet es«, sagte Carl abfällig und sah Line an. »Hau ab, Mädchen.«
»Ich brauche Ihre Hilfe, Herr Vater.«
»Seh ich aus, als ob ich dir helfen kann?«
»Ich suche eine Stellung, vielleicht wissen Sie …«
»Was soll das heißen? Du hast doch Arbeit auf dem Gutshof.«
»Ja, aber da kann ich nicht bleiben.« Lines Kehle wurde eng, als sie daran dachte, ihre Schwestern alleinzulassen. »Ich möchte woanders arbeiten.«
»Dann such dir was.«
»Können Sie mir nicht helfen?«
»Warum sollte ich?«
»Weil Sie mein Vater sind!«
Die drei Männer sahen sie schweigend an. Einer der Begleiter ihres Vaters blies ihr Rauch ins Gesicht. Line wurde übel.
Dann sagte Carl: »Bin ich nicht.« Er drehte sich auf dem Hocker um. »Wirtin? Noch ein Bier!«
Einer seiner Kameraden sah sie mitleidig an, dann wandten ihr auch die beiden den Rücken zu. Eine junge Schankmagd, die gerade einen Tisch mit Getränken versorgt hatte, entdeckte Line, die wie vom Donner gerührt dastand.
»Was machst du hier, Kind? Raus mit dir!«
»Nein!« Line spürte, wie ihr die Tränen kamen. »Ich muss mit meinem Vater sprechen.«
Da fuhr Carl auf dem Stuhl herum. »Ich hab dir schon gesagt, ich bin’s nicht! Nur weil deine Mutter und irgendeine Witwe es behaupten, ist es noch lange nicht wahr.«
»Aber ich trage doch Ihren Namen! Es steht im Kirchenbuch, und …«
»Was die Pfaffen da reinschreiben, ist mir gleich. Ich hab keine Kinder. Verzieh dich!«
Die Schankmagd stellte ihr Tablett ab, nahm Line am Arm und führte sie aus dem Wirtshaus hinaus auf die Straße.
»Sei ihm nicht böse, er ist betrunken.« Sie tätschelte Line die Wange. »Versuch noch mal, mit ihm zu reden, wenn er nüchtern ist.«
Die Frau ließ sie allein und ging wieder in den Eber. Nun konnte Line die Tränen nicht mehr zurückhalten. Was sollte sie jetzt tun? Schluchzend schlang sie die Arme um sich und versuchte, sich zu beruhigen. Doch die Angst, ohne eine neue Anstellung davongejagt zu werden, letztlich im Armenhaus zu landen, verhinderte dies. Sie begann zu laufen, fort von den Häusern, durch Felder und Wälder, Schneegestöber und Eiseskälte, immer voran, der Furcht davon. Als diese endlich der Erschöpfung wich, hatte Line bereits die Geltinger Bucht erreicht. Sie befreite ein Stück des Sandstrandes vom Schnee, ließ sich schwer atmend fallen und starrte aufs Meer hinaus. Es lag friedlich da, die Wellen trafen sanft und gleichmäßig auf den Strand.
Als sie so dasaß und das Abendlied summte, blieb sie an der einen Zeile hängen, die den Mond beschrieb.
Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön.
Endlich wurde sie ruhig und war wieder zu klaren Gedanken fähig. Und plötzlich war da keine Spur mehr von Angst, nur noch Wut. Welches Recht hatte ihre Mutter, sie zu schlagen? Welches ihr Vater, sie zu verleugnen? Wer war sie, nur der Schmutz unter deren Fingernägeln? Nein, sie war Line Dittmann, und sie war zu vielem in der Lage! Sie war wie der Mond. So sehr auch alle versuchten, sie klein zu machen, ihr weiszumachen, sie sei nur ein halber Mensch, wertlos und dumm – sie war rund und schön und vollständig! Und jetzt würde sie nach Hause gehen, ihrer Mutter gegenübertreten und sie fragen, was Carl damit gemeint hatte, dass er nicht ihr Vater sei.
Sie stand auf, klopfte sich den Sand von der Kleidung und machte sich auf den langen Heimweg. Der Schnee, der den ganzen Tag über unaufhörlich gefallen war, lag inzwischen so hoch, dass Line bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln versank. Sie musste sich gegen den Sturm stemmen, zu dem der Wind unbemerkt angewachsen war, und die dicht fallenden Schneeflocken waren so hart gefroren, dass sie ihr im Gesicht schmerzten wie Nadelstiche. Doch je mehr der Gegenwind sie aufzuhalten versuchte, desto stärker fühlte sich Line.
Als sie den Gutshof erreichte, sank ihr Mut. Sie sah Catharinas hassverzerrte Miene vor sich und musste alle Kraft sammeln, durch das hohe Tor zu treten. Dann aber ging sie zielstrebig auf die Küche zu, wo sie zu dieser Zeit die meisten Mägde wusste. Tatsächlich war ihre Mutter dort, füllte Suppe in Teller, die ihr zwei adrett gekleidete Serviermägde abnahmen, um sie den Herrschaften zu bringen. Catharinas Blick fiel auf ihre Tochter, sie ließ den Schöpflöffel in den Suppentopf fallen und kam, die Hände in die Hüften gestützt, auf Line zu. Da trat ihr die Köchin in den Weg.
»Line! Gut, dass du da bist. Lauf schnell in den Hühnerstall, einer der Gäste wünscht Brateier statt des Fleisches zum Hauptgang, und wir haben alle Eier von heute Morgen für den Kuchen benutzt! Hoffen wir, dass du noch ein paar findest.«
Line rannte aus der Küche und in den Stall und wühlte sich durch die Strohnester, dass die Hennen aufgeregt gackernd herumflatterten. Endlich fand sie ein Ei, dann ein zweites. Sie lief zurück in die Küche, die Köchin lobte sie, und sofort bekam sie eine neue Aufgabe. Ihrer Mutter blieb keine Zeit, sie anzusprechen. Als die Kutschen der Gäste den Hof verließen, war die Küchenarbeit noch längst nicht getan.
Als der Hälfte der Mägde, Catharina eingeschlossen, erlaubt wurde, sich zurückzuziehen, trat sie zu Line und raunte: »Lass dich bloß nicht in unserer Kammer blicken.« Dann verschwand sie.
Line wusch und trocknete Teller, Schüsseln und Besteck bis spät in die Nacht. Absichtlich zögerte sie die Arbeit so lange wie möglich hinaus, und als nur noch sie und die Köchin in der Küche waren, sagte sie: »Gehen Sie doch auch schon schlafen, Frau Müller. Ich räume noch schnell die Reste in die Speisekammer.«
»Du bist ein gutes Kind, Line.« Die Köchin sah ihr aufmerksam ins Gesicht, zum ersten Mal an diesem Abend. »Deine Lippe sieht böse aus.«
»Ach, es ist nichts.«
»Deine Mutter sollte nicht so mit dir umspringen.«
Line grinste freudlos. »Sagen Sie das ihr!«
»Das werde ich bei Gelegenheit tun. Doch nun gehe ich schlafen, und du kümmerst dich um die Essensreste. Sieh zu, dass ja nicht alles in der Speisekammer ankommt.« Die ältere Frau zwinkerte Line verschwörerisch zu und verschwand.
Line räumte die Schüsseln und Platten in die kühle Kammer, nahm sich dann ein großes Stück Braten und setzte sich vor das Herdfeuer. Nach dem Essen wurde sie so müde, dass sie sich einfach an Ort und Stelle zusammenrollte.
So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder …
Sie summte das Abendlied, bis sie erschöpft einschlief.