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Danewerkstellung

5. Februar 1864

Am Vortag waren wichtige Männer am Danewerk gewesen. Mads hatte sie von Weitem gesehen, wie sie auf Schanze 6 gestanden und in die Gegend geblickt, hierhin und dorthin gezeigt hatten.

»Das sind General de Meza und sein Stab«, hatten die Kameraden sich zugeflüstert. Mads jedoch hatte die Bedeutung der Worte kaum wahrgenommen. Er hatte den Tag in einem Nebel aus Schmerz und Erinnerung an das Grauen des Vortags verbracht, war immer wieder aufgeschreckt, wenn sich jemand ihm unbemerkt genähert oder ein lautes Geräusch gemacht hatte.

Auch jetzt noch fühlte er sich wie gefangen in einem bösen Traum. Die Gesichter der sterbenden Soldaten wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen, und er meinte, noch immer die fremdländischen Worte des Erstochenen zu hören. Es verlangte ihn danach, zu erfahren, woher der Mann gestammt hatte und warum zum Teufel er gemeint hatte, so fern der Heimat in den Krieg ziehen zu müssen. Er wagte jedoch nicht, jemanden zu fragen. Mitleid mit dem Feind schien nicht angebracht zu sein, wenn er sich die Reden seiner Kameraden anhörte. Hunde nannten sie sie, ehrlose Schweine. Mads wollte sich die Ohren zuhalten, doch selbst dazu fühlte er sich zu schwach.

Ein grauer, trüber Himmel hing über ihnen und gab Mads das Gefühl, niedergedrückt und erstickt zu werden. Es war einige Grad wärmer geworden, und er konnte den Schnee riechen, der sich in den Wolken sammelte. Sein Körper jedoch scherte sich nicht um die herrschende Temperatur. Mal lief ihm der Schweiß in Strömen den Rücken hinab, dann wieder zitterte er so sehr, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Sein Bein brannte wie Feuer, doch sein Schmerz war ein Witz verglichen mit dem Leiden, gegen das die Feldärzte und Sanitäter weiterhin kämpften. Er würde sie gewiss nicht mit einem Streifschuss behelligen, wenn sie nun bereits seit zwei ganzen Tagen ohne Schlaf versuchten, die Leben der schwerverletzten Kameraden zu retten. Es gelang ihnen in viel zu wenigen Fällen. Immer wieder wurden tote Körper aus der Lazarettbaracke hinausgetragen und zu den anderen gelegt, weit entfernt von den Aufenthaltsorten der Lebenden und doch zu nah, um sie je für einen Augenblick zu vergessen.

Ferdinand blieb an seiner Seite, doch auch in den Augen des Freundes hatte sich etwas verändert. Seit die Tränen versiegt waren, blickten sie leer und schweiften immer wieder in die Ferne. Sie alle hatten sich verändert. Er sah es in den Gesichtern der Kameraden. Manche wurden still, andere aggressiv, doch keiner war mehr derselbe, als der er die Heimat verlassen hatte.

Wie würde es sein, zurückzukehren? Er stellte sich Ferdinand vor, wie er wieder in Haderslev mit seiner Mutter in der Backstube stand. Würde er je wieder einen Laib Brot formen können, ohne an den pappigen Zwieback zu denken, den sie hier am Danewerk gegessen hatten? Und er selbst? Würde er je wieder ein Haus bauen, eine Mauer errichten, ohne sich vorzustellen, eine Kanonenkugel würde in sie einschlagen und sie zerstören? Und wenn es ihm schon nach einer einzigen Schlacht so ging – was würde aus ihm geworden sein, wenn dieser Krieg zu Ende war? Wenn er dann überhaupt noch lebte … Vielleicht würde er auch als namenloser, toter Körper in einem Massengrab liegen, so wie es gewiss das Schicksal des fremden Soldaten geworden war. Er schluckte schwer und war froh, als sein Vorgesetzter zum Sammeln rief und ihn damit aus den trüben Gedanken riss. Inzwischen waren die Wolken aufgebrochen, und dicke Flocken schwebten zur Erde.

Ferdinand reichte ihm die Hand und half ihm auf, dann sagte er verträumt: »Ob es in Haderslev auch schneit? Mein kleiner Christian liebt es, die Schneeflocken mit der Zunge einzufangen.«

Mads drückte die Hand des Freundes. »Es geht ihm sicherlich gut, mach dir keine Sorgen.«

Sie gingen zur Stabsbaracke, stellten sich mit den anderen auf und warteten, bis ihr Kommandant das Wort an sie richtete. Diesem schien es nicht leicht zu fallen, denn er zögerte minutenlang, setzte immer wieder an, brach ab und rückte dann doch endlich mit der Sprache heraus.

»General de Meza und sein Stab haben entschieden, dass wir noch heute abrücken.«

Die Worte fielen schwer wie Steine auf sie herab. Im wilden Tanz der Schneeflocken senkte sich eine Erstarrung auf die gesamte Truppe, die Mads einschloss und ihn ebenfalls zu Eis werden ließ. Dann begannen die ersten Männer, leise zu murmeln. Ungläubig. Schließlich wagte es einer, laut zu sprechen.

»Abrücken? Aber warum? Und wohin?«

Auch der Kommandant fand seine Sprache wieder und wurde endlich so offiziell, wie es seine Aufgabe gebot, ehe sich die Unruhe ausbreiten konnte. »Unsere Truppe verlässt das Danewerk am frühen Abend und zieht sich nach Düppel zurück.«

»Und die anderen Kompanien?«

Mads wartete darauf, dass der Vorgesetzte dem Soldaten, der ihn so ungehörig und wie einen Gleichrangigen ansprach, die Leviten las. Der Hauptmann jedoch ließ sich auf das Gespräch ein. Es schien Mads, dass auch die Offiziere von der Entscheidung überrascht worden waren und nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten.

»Alle gehen. Das Danewerk wird geräumt. Wir nehmen mit, was wir irgend können.«

»Die Stellung wird einfach kampflos aufgegeben?« Die Stimme des Soldaten überschlug sich. »Ich habe meinen Bruder in Missunde verloren! Und jetzt laufen wir davon?«

Der Hauptmann blieb ruhig, erklärte teilnahmslos: »Der Befehl ist eindeutig. Die Schlei und die Sümpfe im Westen frieren zu und sind kein Schutz mehr gegen den Feind. Wir dürfen nicht riskieren, dass sie uns hier in den Rücken fallen. Wir gehen nach Düppel, andere Kompanien weiter hinauf in den Norden.«

»Aber das Danewerk! Jahrhunderte hat es standgehalten!«

»Und das würde es auch weiterhin.« Der Tonfall des Hauptmanns war strenger geworden. »Doch hätten sie es frontal angreifen wollen, hätten sie es längst getan. Sie kommen von den Seiten. Deswegen Missunde. Wenn sie dort gesiegt hätten, hätten sie die Schlei überquert und uns eingekesselt. Dein Bruder ist nicht umsonst gestorben, Junge. Nun aber genug. General de Meza und sein Kriegsrat haben entschieden. Packt eure Tornister. Um sieben Uhr brechen wir auf!« Mit einer Handbewegung entließ er die Truppe und ging mit großen Schritten davon.

Mads und Ferdinand blieben ebenso unschlüssig stehen wie die übrigen Kameraden. Das Danewerk kampflos aufgeben? Es war nicht so, dass sich Mads nach weiteren Kämpfen gesehnt hätte, doch er wusste um die Bedeutung des mächtigen Schutzwalls für das gesamte Königreich Dänemark. Was würde diese Entscheidung zur Folge haben? Hatte der König sie gutgeheißen?

Endlich rissen sie sich aus ihrer ungläubigen Starre und gingen zu ihren Quartieren, um ihre wenigen Habseligkeiten zu holen. Mads spürte, wie das Stehen ihn angestrengt hatte, und auch das Laufen tat ihm weh. Und nun ganz bis Düppel, mehr als neun Meilen auf schnellem Rückzug, in dem dichten Schneefall? Sein Herz sank, und rasch verwickelte er Ferdinand in ein Gespräch, um sich nicht seinen Sorgen hinzugeben.

Sie packten ihre Tornister, brieten Eier und Speck und aßen schweigend, um sich für den langen Marsch zu stärken. Der salzige, rauchige Geschmack war seltsam tröstlich. Er erinnerte Mads an seine Sonntagsfrühstücke mit Bodil. Er war nicht traurig, weiter nach Norden zu gehen, denn so wäre er schon wieder näher bei ihr. Dennoch schmerzte ihn die kampflose Aufgabe des Danewerks.

Sie warteten unruhig auf die Uhrzeit, zu der der Abzug beginnen sollte. Als es endlich so weit war, war das letzte Tageslicht verschwunden und der Boden bereits von einer dicken Schneeschicht bedeckt. Die Welt um sie war unwirklich, der frische Schnee ließ die Nacht heller erscheinen, die weißen Bäume und Büsche am Wegesrand sahen gespenstisch aus. Vom ersten Schritt an fiel das Laufen schwer, und durch das dichte Schneetreiben mussten sie sich anstrengen, die Vordermänner nicht aus den Augen zu verlieren.

Sie hatten Anweisung bekommen, sich leise zu verhalten, und so gingen sie schweigend und mit schnellen Schritten hintereinander her. Beinahe lautlos bewegte sich die Truppe, der Schnee dämpfte alle Geräusche. Nur das dumpfe Knirschen ihrer Fußtritte war zu hören. Mads stemmte sich gegen den Wind, der ihm die eisigen Flocken ins Gesicht peitschte. Vor sich sah er Ferdinands Tornister auf- und abwippen, und jedes Mal, wenn er drohte, ihn aus den Augen zu verlieren, zwang er sich, schneller zu gehen. Bei jedem Schritt, den er mit dem linken Bein tat, fuhr der Schmerz wie ein Messer in ihn hinein. Es dauerte nicht lange und er mochte kaum noch auftreten. So hinkte er hinter Ferdinand her und bemühte sich, nicht andauernd aufzustöhnen.

Hab ich es doch gewusst. Nicht tauglich.

Die Stimme seines Vaters hallte in seinen Ohren wider. Er war in diesen Krieg gezogen, um Bernhard Jessen etwas zu beweisen – um sich selbst zu beweisen, dass er etwas besser konnte als er. Und nun humpelte er genau wie dieser und würde nie wieder in die Schlacht geschickt werden können.

Nein! Mads biss die Zähne zusammen und straffte die Schultern. Er hatte keine dauerhafte Verletzung davongetragen. Er war nicht untauglich, der Streifschuss würde heilen und er abermals kämpfen und seinen Schwur erfüllen! Er hatte bereits einen Freund gerettet, und er würde es wieder tun. Mads beschleunigte seine Schritte, bis er direkt hinter Ferdinand ging.

Er hielt durch, mehrere Stunden lang. Andere schafften es nicht. Er sah Männer fallen, die einfach mit dem Gesicht nach unten im Schnee liegen blieben. Dem ersten versuchte er aufzuhelfen, doch es gelang ihm nicht, kostete nur zusätzlich Kraft. Der Mann wollte nicht aufstehen. »Schlafen«, murmelte er und machte sich schwer wie ein Stein. Mads musste ihn seinem Schicksal überlassen. Dem zweiten und dritten sah er mit zugeschnürter Kehle hinterher, danach wandte er nicht einmal mehr den Blick. Voran, nur voran. Nicht zurückbleiben.

Dann kam der Moment, in dem alle Willenskraft nicht länger half. Kameraden überholten ihn, ohne ihn anzusehen. Mads verstand sie. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Keiner hatte die Kraft, sich um den anderen zu scheren. Der Schnee fiel mit unverminderter Heftigkeit und klebte an ihren Hosenbeinen und Stiefeln. Er machte jeden Schritt zur Qual, drückte ihnen die Schultern nieder und trübte ihre Sicht. Mads fiel zurück, immer weiter und weiter. Solange er die Truppe noch schemenhaft erkennen konnte, ihre leisen Geräusche noch hörte, redete er sich ein, dass alles nicht so schlimm war. Er würde eine Weile langsamer gehen, bis er wieder Kraft geschöpft hatte.

Doch die Kraft kehrte nicht zurück. Er mühte sich verbissen, Anschluss zu halten, aber letztendlich musste er aufgeben. Ausruhen, nur ein wenig. Schließlich wusste er, wohin sie wollten, und konnte dort wieder zu seiner Truppe stoßen.

Er ließ sich nicht fallen wie die verzweifelten, geschwächten Kameraden zuvor. Er wusste, er durfte sich nicht in den Schnee legen. Auch wenn sein Geist schwächer wurde, die tanzenden Flocken vor seinen Augen jegliche Realität verschwimmen ließen und der ständige Schmerz ihn schwindlig machte, gewann seine Vernunft die Oberhand. Er musste Schutz suchen, durfte sich nicht einschneien lassen, sonst würde er erfrieren.

Dort, ein Baum. Er taumelte darauf zu. Weitere Bäume, dicht zusammen, ein Wald. Endlich keine eisigen Flocken mehr im Gesicht, und auch der Wind war weniger stark zu spüren. Das Gehen fiel ihm leichter. Hinter einem Gebüsch, an einer Stelle, die der Schnee kaum erreicht hatte, ließ er sich fallen.

Schlafen. Nur schlafen. Mads schloss die Augen.

Die Welt so stille

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