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Angeln
6. Februar 1864
Line schrak aus dem Schlaf, als jemand sie an der Schulter rüttelte. Sie brauchte einige Augenblicke, um sich zu erinnern, wo sie war. Dann erkannte sie es. Durch die Küchenfenster fiel Morgensonne, ein ungewohnter Anblick in diesem Winter. Die Köchin stand über sie gebeugt und sah freundlich auf sie hinab.
»Du musst jetzt aufstehen, Line. Es ist nicht erlaubt, in der Küche zu schlafen, das weißt du.«
»Natürlich.« Sie rappelte sich auf. »Ich danke Ihnen, dass ich es trotzdem durfte.«
»Nun geh die Hühner füttern. Und dann musst du mit Catharina sprechen. So geht es nicht weiter mit euch.«
»Sie will mich vom Hof jagen lassen …«
»Ich weiß. Sie hat den ganzen Tag über ihre undankbare Älteste geschimpft. Aber glaub mir, Kind, sie ist die Einzige, die so von dir denkt. Wir anderen mögen dich sehr.«
Line versuchte ein Lächeln, doch es fiel ihr schwer. Was half es, wenn alle einen mochten, nur die eigene Mutter hielt einen für ein Teufelsbalg? Sie riss sich jedoch zusammen. Sie wusste, sie musste mit Catharina sprechen. Wenn sie nicht Line Dittmann war, wollte sie zumindest wissen, wer sie stattdessen war. Sie dankte der Köchin noch einmal, versorgte die Hühner und ging in ihre Kammer. Nur ihre Schwestern waren dort. Grete sah Line besorgt an.
»Wo warst du denn die ganze Nacht?«
»Ach Grete, die Mutter wollte mich hier nicht haben. Da hab ich eben woanders geschlafen.« Sie trat zur Waschschüssel und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. »Wo ist sie denn hin? Ich muss mit ihr reden.«
»Sie fegt die gute Stube. Nach der Gesellschaft gestern Abend sieht es dort wüst aus.«
»Geht bitte zu ihr und sagt ihr, dass ich hier auf sie warte.«
Line schickte ihre Schwestern hinaus und nutzte das Alleinsein, um sich gründlich zu waschen und die Unterwäsche zu wechseln. Sie schlüpfte in ein frisches Hemd und ihr zweites Paar Unaussprechliche – wobei Line kein Problem damit hatte, das Wort Unterhosen auszusprechen – und zog Bluse und Rock wieder darüber. Sie bürstete ihr Haar und flocht es zu einem dicken Zopf. Dann setzte sie sich auf ihr Bett und wartete.
Das Klappern der Holzschuhe kündigte das Erscheinen der Mutter an, noch ehe die Tür aufflog. Line straffte die Schultern. Ganz gleich, was nach der Unterredung mit ihr geschehen würde – sie musste herausfinden, ob Carl die Wahrheit gesagt hatte.
»So, du traust dich also, mich zu dir zum Gespräch zu bestellen? Als wärest du die große Gutsherrin!«
Catharina kam auf Line zu und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Line wich nicht aus, obwohl sie es hatte kommen sehen. Das schien ihre Mutter zu verwirren, denn sie schwieg für einen Augenblick, dann setzte sie sich auf den einzigen Stuhl im Raum.
»Warum machst du mir immer solche Schande?«
Line glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Die Stimme der Mutter klang erschöpft und sogar ein wenig traurig.
»Aber das tue ich gar nicht.« Line brachte die Worte kaum heraus, so eng war ihre Kehle. »Niemand außer Ihnen stört sich an mir.«
»Das sagen die bloß nicht. Natürlich denken sie schlecht über dich.«
»Das kann nicht meine Schuld sein.«
»Wessen dann, meine vielleicht?«
Da war die Wut wieder. Line biss sich auf die Unterlippe und zwang sich, ruhig zu bleiben. Doch die Mutter redete sich in Fahrt.
»Tue ich nicht alles, um euch Kinder durchzubringen? Meinst du, es ist für mich immer leicht, du undankbares Geschöpf?« Catharina sprang auf und begann, auf und ab zu gehen. »Ich habe genug mit Margarethe und Sophie zu tun. Ich brauche keine Arlina Auguste Dittmann, die sich mir in einem fort widersetzt.« Sie sprach den Namen übertrieben höhnisch aus, insbesondere den Nachnamen, und das gab Line den nötigen Mut, ihre Frage zu stellen.
»Frau Mutter … Ich war gestern bei Carl Dittmann. Er sagt, er ist nicht mein Vater.«
Catharina blieb wie vom Donner gerührt stehen. Dann fuhr sie herum und baute sich vor Line auf.
»Was wolltest du bei Carl?«
»Ihn nach einer Stellung fragen, falls Sie mich fortschicken.«
»Wie sollte der Saufbold dir zu einer Arbeit verhelfen?«
»Ich weiß es nicht. Es war nur ein Versuch, aber er wollte nichts von mir wissen. Ist er denn wirklich nicht mein Vater?«
Catharinas Gesicht verzog sich zu einem bösen Grinsen.
»Was kümmert es dich, wer dein Vater ist?«
»Ich will doch wissen, wer ich bin!«
»Ich kann dir sagen, wer du bist: ein aufsässiges, dummes Geschöpf, das mir nichts als Ärger bereitet!«
»Ich bin nicht dumm! Der Lehrer hat gesagt …«
»Der Lehrer! Ha! Du hättest nie eine Schule von innen sehen dürfen. Aber diese verfluchte Adlige meinte wohl, etwas wiedergut…« Sie schlug sich die Hand vor den Mund, als hätte sie beinahe ein Geheimnis verraten. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle und sagte ruhig: »Der Carl ist dein Vater, so steht es geschrieben, und nun genug davon. Ich gebe dir eine Woche Zeit, dir eine Stellung zu suchen, dann bist du von hier verschwunden, ist das klar?«
»Aber der Carl muss doch einen Grund haben …«
»Schluss damit, habe ich gesagt!«
Als Catharina erneut ausholte, sprang Line auf.
»Sagen Sie mir die Wahrheit!« Ihre Stimme überschlug sich vor Verzweiflung, doch sie spürte, eine weitere Gelegenheit würde sie nie erhalten. Und da ihre Mutter ohnehin ihre Meinung über sie nicht ändern würde, war nun auch alles gleichgültig. »Ich will es jetzt wissen, for helvede!«
»Du wagst es, mir schon wieder die Sprache des Feindes ins Gesicht zu schreien – mitten im Krieg?«
»Meine Feinde sind die Dänen nicht! Mein einziger Feind sind Sie, Frau Mutter!«
Im nachfolgenden Hagel aus Schlägen und Tritten hörte Line zwischen dem Keuchen der Mutter und ihren eigenen Schmerzensschreien die Worte heraus, die sich sofort in ihren Kopf einbrannten: »Carl sagt die Wahrheit, er ist nicht dein Vater. Aber du wirst nie erfahren, wer es ist. Du hast kein Recht auf eine Herkunft!«
Siehst du den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen, und ist doch rund und schön …
Als es vorüber war und Catharina die Kammer verlassen hatte, rappelte sich Line auf und bewegte vorsichtig Arme und Beine, drehte den Kopf hin und her, betastete Nase und Wangenknochen. Es schien alles heil, wenn auch wund und zerschunden. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Zähne, auf die sie sehr stolz war, und erkannte erleichtert, dass alle noch fest saßen. Nicht einmal die Wunde an der Lippe war wieder aufgeplatzt. Sie hatte ihr Gesicht mit den Armen vor den Schlägen geschützt, und offenbar war es ihr gut gelungen. Nur die Abdrücke der Holzschuhe würden hübsche blaue Flecken hinterlassen, nach den Schmerzen zu urteilen, die sie auf den Schenkeln und in der Rippengegend spürte.
Line war nicht einmal wütend auf ihre Mutter. Sie hatte sie gereizt, und vielleicht hatte sie die Prügel sogar verdient. Aber sie wusste, sie musste so schnell wie möglich aus dieser Kammer und vom Gutshof fort. Noch dringender jedoch wollte sie herausfinden, wer ihr Vater war. Ihre Mutter würde es ihr nicht verraten, doch womöglich kannte Carl die Wahrheit und würde sie ihr sagen – wenn sie ihn nüchtern antraf. Sie musste es versuchen.
So entschied sie, sich sofort auf die Suche nach dem Mann zu machen, dessen Namen sie offenbar zu Unrecht trug. Sie sah aus dem winzigen Fenster. Die Morgensonne war einem grauen Himmel gewichen, in dem sich schon wieder schneebeladene Wolken zusammengeballt hatten. Line zog ihre drei Paar Wollstrümpfe, ihre zwei wärmsten Röcke, drei dicke Leinenblusen, ihre Schürze, Armstulpen und vier Wollschals übereinander, wobei sie sich den obersten auch um den Kopf schlang. Sie fühlte sich eingeschnürt wie ein Strohballen, doch es war ihr lieber, als auf dem Weg zu Bauer Lorenzen zu erfrieren. Dieses Mal aber würde sie erst im Eber nachsehen, ob Carl Dittmann dort saß und soff!
Als sie schon die Kammer verlassen wollte, griff sie, einer Eingebung folgend, unter ihre Strohmatratze und zog die Schiefertafel und den Griffel hervor, die sie in der Schule benutzt hatte und seitdem versteckte. Sie schrieb in ihrer schönsten Schrift Jeg elsker dig auf die Tafel, dann schob sie sie unter Gretes Kopfkissen. Zwar konnte ihre kleine Schwester noch nicht lesen, und schon gar nicht Dänisch, aber Line wusste, dass Grete klug war. Sie würde herausfinden, was die Worte bedeuteten. So würde sie wenigstens wissen, dass Line sie lieb hatte, ganz egal, wohin es sie verschlagen würde, wenn die Mutter ihre Drohung wahr machte.
Line verließ die Kammer und den Gutshof und machte sich auf den Weg zum Eber. Die Luft war von gleicher Schwere und ähnlichem Gestank wie am Vortag, die Reden der Männer vom selben unverständlichen Inhalt, doch Carl war nicht anwesend. Line schlug die Tür hinter sich zu und machte sich auf zu Bauer Lorenzens Hof.
Es schneite wieder, und der viele Schnee, der am Vortag gefallen war, hatte sich auf den Wegen gesammelt und war nur stellenweise schon von Kutschenrädern und Fußtritten geplättet worden. An diesen Stellen war es spiegelglatt. Line aber stapfte und rutschte voran, ohne sich von ihrem Vorhaben ablenken zu lassen und ohne nach links oder rechts zu schauen. Deshalb wäre sie beim Überqueren der Landstraße beinahe von drei Kerlen über den Haufen geritten worden. Im letzten Augenblick sprang sie aus dem Weg und landete im Graben, wobei sie sich die ohnehin schmerzenden Rippen stieß und aufschrie.
Die Reiter preschten an ihr vorbei, dicht gefolgt von einer ganzen Horde weiterer Männer. Line konnte wegen der hohen Geschwindigkeit nicht erkennen, um wen es sich handelte, doch es kam ihr vor, als habe sie Uniformen ausgemacht. Die Hufe der Pferde schleuderten Schnee und Dreck auf, und Line bekam einige Klumpen ins Gesicht. Angewidert wischte sie sich mit ihrem Ärmel darüber, dann kroch sie mit schmerzenden Gliedern zurück auf die Straße.
Sie blickte den Reitern hinterher, von denen nur noch eine aufgewirbelte Schneewolke zu sehen war. Wer mochten diese Männer gewesen sein? Die dänischen Soldaten, die sie gesehen hatte, hatten keine Pferde bei sich gehabt. Waren dies Soldaten der anderen Seite, diese Preußen oder Österreicher, von denen die Säufer im Eber erzählt hatten? Line platzte beinahe vor Neugier, doch sie zwang sich, an ihr Vorhaben zu denken. Sie rannte das letzte Stück bis zum Hof und machte sich auf die Suche nach Carl Dittmann. Dieses Mal hatte sie mehr Glück. Sie fand ihn bei der Arbeit im Kuhstall.
»Herr Vater?«
Carl ließ die Mistgabel sinken und kam auf sie zu. Er runzelte die Stirn, als müsse er überlegen, ob er sie je im Leben gesehen hatte. Dann nickte er.
»Ich hab dir doch gestern schon gesagt, dass ich nichts für dich tun kann.«
Seine Stimme war zwar nicht gerade freundlich, aber immerhin sprach er nun weder abwertend noch verletzend mit ihr. Line schöpfte Mut.
»Ich muss Sie trotzdem dringend sprechen, bitte!«
Er sah schlecht aus, das Gesicht grau, die Nase rot, die Wangen eingefallen. Das Traumbild eines Vaters gab er bestimmt nicht ab, aber das wäre Line gleich gewesen, hätte er ihr nur bestätigt, dass er es war.
»Was willst du von mir?«
»Sie sagen, Sie sind nicht mein Vater. Wer ist es dann? Wissen Sie das?«
»Weiß deine Mutter es nicht? Wäre kein Wunder, so wie sie es getrieben hat.«
Und mir wirft sie vor, eine Schande zu sein, dachte Line. Laut sagte sie: »Sie weiß es, doch sie verschweigt es mir.«
»Sie wird ihre Gründe haben.«
Line befürchtete, in Tränen ausbrechen zu müssen. Der Mann war keineswegs böse, jedoch so gleichgültig, wie ein Mensch nur sein konnte. Mühsam presste sie hervor: »Können Sie mir bitte sagen, was Sie wissen, Herr V… Dittmann?«
»Es gab Gerüchte, doch darüber rede ich nicht. Könnte mich den Kopf kosten.« Er grinste. »Der ist zwar nichts wert, aber ich häng irgendwie am Leben. Auch wenn es in Wirklichkeit keins ist.«
Er wandte sich ab und fuhr fort, Kuhmist in eine Karre zu schippen. Da begann Line schließlich doch zu weinen. Keiner der Erwachsenen würde ihr die Wahrheit sagen! Sie würde nie erfahren, ob ihr Vater vielleicht ein anderer Menschenschlag war als Catharina Thomsen – möglicherweise gar nett, an ihr interessiert … falls es solche Väter überhaupt gab auf der Welt.
Line verließ den Stall und sah sich durch den Schleier ihrer Tränen unschlüssig um. Noch nie hatte sie sich so verloren gefühlt wie in diesem Augenblick. Selbst die Prügel der Mutter hatten nicht so wehgetan wie die Erkenntnis, ein Niemand zu sein.
Hatte tatsächlich der Teufel sie gebracht? Warum sonst sollten ihr immer wieder diese dänischen Schimpfworte einfallen, in denen sie ihn und die Hölle anrief? Zwar hatte sie die Flüche von den älteren Jungen in der Schule gelernt, doch sie waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Vielleicht, weil der Teufel ihr wirklicher Vater war? Line wusste nicht viel über ihn, nur das, was sonntags in der Kirche in Esgrus gepredigt wurde. Sie war nicht einmal sicher, ob sie überhaupt an ihn glaubte, und an Gott. Manchmal erschienen ihr die Geschichten über diese Wesen so wundersam und fremd, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass es sie wirklich gab.
So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.
So hieß es im Abendlied. Und da sie das Lied so liebte, zwang sich Line jeden Sonntag, die Dinge zu glauben, die der Pastor erzählte. Da war allerdings nie die Rede davon, dass der Teufel irgendwem Kinder unterschob. Aber was wusste sie schon? Sie war die einfältige Tochter einer armen Magd, die vor lauter Männerbekanntschaften nicht mehr wusste, wer sie geschwängert hatte. Die Tränen strömten jetzt in Sturzbächen über Lines Wangen, sie ballte die Fäuste und wollte erneut einen höllischen dänischen Fluch ausstoßen, doch sie biss sich schnell auf die Unterlippe.
Was sollte sie nun tun? Carl Dittmann war ihr keine Hilfe. Sie musste nachdenken, aber das Schluchzen, das ihren Körper schüttelte, hinderte sie daran. Ohne es zu bemerken, war sie das kurze Stück zur Landstraße gegangen, und plötzlich lenkte etwas ihren Blick auf sich, das sie all ihre Sorgen vergessen ließ.
In der Ferne tauchten Gestalten auf: Pferde, Menschen, Wagen. Sie näherten sich ihr unaufhaltsam. Die ganze Breite der Straße einnehmend, wälzten sie sich wie eine dunkle Flutwelle auf ihr entlang. Line rieb sich die Nässe aus den Augen, um besser sehen zu können. Aufregung erfasste sie, als der Strom der Reisenden immer näher kam. Sie sah sich um, suchte nach einem Unterschlupf, doch war die Landstraße an anderen Stellen von Bäumen und Knicks gesäumt, so war hier nicht einmal ein Gebüsch in der Nähe.
Ihr Blick fiel auf eine Reihe von Pferdewagen, die vor der Einfahrt zu Bauer Lorenzens Hof abgestellt waren. Vier waren offene Fuhrwerke, einer ein geschlossener Planwagen. Der sollte ihr Versteck werden, von dort aus würde sie die Ankömmlinge gut sehen können! Line lief los, schob die Plane des Wagens beiseite und kletterte hinauf. Er war leer bis auf eine Schicht Stroh. Line kuschelte sich hinein, sorgfältig darauf bedacht, die schmerzenden Stellen ihres Körpers nicht zu belasten. Dann hielt sie den Stoff einen Spaltbreit offen, um hinausspähen zu können. Bald war die Spitze des Zuges auf Höhe der Wagen. Ein lauter Ruf erscholl.
»Halt!«
Tausende von Beinen, Menschen- wie Pferdebeine, hielten in der Bewegung inne, kamen zum Stehen, genau vor ihrer Nase. Line wagte kaum, zu atmen. Jetzt erkannte sie deutlich, dass es Soldaten waren. Edel gekleidete auf Pferden, einfache zu Fuß, alle nass vom Schneetreiben, die meisten mit viel zu flachen Stiefelchen für dieses Wetter. Line bewegte ihre eisigen Zehen in den zu großen Lederstiefeln – wie mussten die Soldaten erst frieren?
Es waren keine Dänen, das erkannte sie. Zwar waren auch ihre Uniformen dunkelblau, doch sie trugen weiße Binden am linken Oberarm, und die Ränder ihrer Ärmel und Kappen waren rot. Einige hatten statt der Kappen goldverzierte Helme mit einem lustigen Dorn auf dem Kopf. Sie schob den Stoff ein Stückchen weiter beiseite und schaute an dem Heereszug entlang. Die Männer hatten etliche dieser Ungetüme auf Rädern dabei, die Claus Kanonen genannt hatte, und jeder trug eins der beachtlichen Gewehre, manche zusätzlich lange, spitze Messer und Spieße am Gürtel. Line schauderte, konnte aber nicht wegschauen.
Dann kam einer in ihr Blickfeld geritten, der aussah wie ein König – mindestens! Sein Pferd trug edles Zaumzeug und eine prächtige, vielfarbige Satteldecke. Der Reiter selbst, obwohl in ähnlicher Uniform wie die anderen Männer, strahlte so viel Eleganz aus, dass Line ihn verzückt anstarrte. Auf seinem Kopf saß eine hohe, fellbedeckte Mütze mit einem Totenkopf darauf, einem breiten goldenen Kinnriemen und einem Schweif aus rotem Stoff, der im Wind flatterte. Sein Schnurrbart thronte wie ein spitzes Dach über dem ernsten Mund, über den Mundwinkeln kräuselten sich die haarigen Enden. Der Mann ritt mit einigen weiteren durch die Einfahrt auf Bauer Lorenzens Hof zu.
Gespannt wartete Line, was nun geschehen würde. In der Zwischenzeit beobachtete sie weiter die Soldaten, von denen sich nicht wenige erschöpft in den Schnee fallen ließen, kaum dass ihr Anführer verschwunden war. Die Männer sahen übernächtigt und hungrig aus, fand Line. Nach einer Weile sprangen die Soldaten auf und nahmen Haltung an. Der königlich aussehende Herr kam wieder herbeigeritten. Ihm folgten seine Männer und Bauer Lorenzen höchstpersönlich, Carl Dittmann mit zwei Pferden am Zügel, der freche Junge mit zwei weiteren, dann mehrere Knechte mit Schubkarren voller Kisten, Säcke und Bündel. Sie alle steuerten geradewegs auf Lines Wagen zu. Erschrocken ließ sie den Stoff hinabfallen und rutschte in die hinterste, dunkelste Ecke, vergrub sich im Stroh und hielt den Atem an. Die Stimmen drangen von draußen zu ihr herein.
»Einen müssen Sie mir lassen, Herr Prinz, doch diese vier dürfen Sie gern mitnehmen.« Lorenzen klang stolz. »Es sind gute, stabile Wagen.«
»Einverstanden, Bauer. Sie werden reich entlohnt für Ihre kriegswichtige Hilfe.«
Das musste der Königliche gewesen sein, der offenbar ein Prinz war, wenn man der Anrede des Bauern glauben konnte.
»Den Proviant in den Planwagen. Die Männer, die nicht mehr laufen können, in die offenen.«
Erst als Lines Wagen zu ruckeln begann, wurde ihr bewusst, was die Worte bedeuten mussten. Doch bevor sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde schon der Stoff beiseitegeschoben, und Bündel und Säcke flogen auf die Ladefläche. Line biss sich auf die Unterlippe, um nicht aufzuschreien, als ein harter Gegenstand auf ihren misshandelten Rippen aufschlug.
Bald war der Wagen vollgepackt, die Plane wurde wieder geschlossen, ohne dass Line entdeckt worden war. Das Ruckeln aber ging weiter, ein Pferd schnaubte, dann setzte sich der Wagen in Bewegung. Line erstarrte. Geschah hier wirklich das, was sie befürchtete? Hatte der Edelmann Bauer Lorenzen seine Wagen abgekauft und würde diese mit in den Krieg nehmen? Mit der dummen, einfältigen Line darin, deren teuflische Neugier sie in diese missliche Lage gebracht hatte?
Sie musste hier raus, ganz schnell! Zitternd vor Angst kroch sie unter dem Stroh hervor und über Säcke und Bündel zum hinteren Ende des Fuhrwerkes. Dieses hatte inzwischen Fahrt aufgenommen. Vorsichtig schob Line die Plane ein Stückchen auf und hielt ein Auge an den Spalt. Bauer Lorenzens Hof verschwand bereits in der Ferne, sie und ihr Wagen waren ein Teil der unendlich scheinenden Walze aus Soldaten und Pferden, die in den Krieg zogen. Wenn sie jetzt hinaussprang, würden die Hufe der nachfolgenden Zugtiere sie unter sich begraben, so dicht folgten die anderen Wagen dem ihren. Die grimmigen Blicke der Männer taten ihr Übriges, um Line den Fluchtplan aufgeben zu lassen. Sie meinte schon, einen der langen Dolche in ihrem Bauch zu spüren. Wie sollte man sicher sein, dass Soldaten, noch dazu Preußen, keine Kinder aufspießten, wenn sie ihnen in die Quere kamen?
Natürlich hätte sie sich bemerkbar machen, weinend darum bitten können, herausgelassen zu werden, ehe sie so weit von zu Hause fort sein würde, dass sie den Weg nicht mehr fand. Sie hätte sich vielmals entschuldigen und um Gnade flehen können. Doch da war ein Gefühl in ihr, das die Angst zwar nicht schmälerte, aber gleichrangig mit ihr zu bestehen schien. Es war nicht allein die brennende Neugier, die sie ja bereits von sich kannte. Nein, da war etwas Neues, Größeres – die fieberhafte Spannung, endlich einmal etwas zu erleben! Wenn sie ehrlich war, wollte sie gar nicht aussteigen, wollte nicht zum Hof zurück und zur Mutter, die sie prügelte und fortjagte.
Also kroch Line zurück in ihre hinterste Ecke und wartete. Draußen begann ein Sturm zu toben, der den Wagen mit Fortschreiten der Zeit immer stärker schüttelte. Die Schneeflocken fielen nicht mehr lautlos wie am Morgen, sondern schlugen hörbar auf der Plane auf.
In den ersten Stunden hockte Line angststarr und bewegungslos da wie ein Stein, dann aber wurde es ihr zu langweilig und zu kalt. Hunger hatte sie obendrein. Und saß sie nicht in einem Proviantwagen fest? Wozu also hungern? Vorsichtig griff sie nach dem nächstbesten Bündel und öffnete es. Räucherwürste! Line lief das Wasser im Munde zusammen. Sie nahm eine Wurst und biss herzhaft hinein. Wie gut das schmeckte! Schließlich hatte sie nicht gefrühstückt. Das Letzte, was sie gegessen hatte, war der kalte Braten am Vorabend gewesen. Sie machte sich keine Sorgen darüber, den Soldaten etwas wegzunehmen. Immerhin kamen diese Sachen von Bauer Lorenzen, und arbeitete bei dem nicht ihr rechtmäßiger Vater? Selbst wenn er es nicht in Wirklichkeit war – es stand im Kirchenbuch. Also hatte sie doch wohl ein Recht, von dem Dienstherrn Carl Dittmanns verpflegt zu werden, oder etwa nicht?
Line aß eine weitere Wurst, dann machte sie sich auf die Suche nach Brot und fand etliche Laibe in einem Sack. Als sie schließlich noch eine Kiste mit verkorkten Milchkrügen entdeckte und neben ihrem Hunger auch den Durst gestillt hatte, wurde sie müde. Das Pfeifen des Windes, das Schaukeln des Wagens, die eintönigen Schritte der Pferde und Menschen, die murmelnden Stimmen, die zu ihr hereindrangen, der volle Bauch … Sie vermochte die Augen nicht mehr offenzuhalten. Selbst die Angst vor Entdeckung konnte nicht verhindern, dass sie einschlief.
Wie gut, dass ich Grete die Nachricht geschrieben habe, war ihr letzter Gedanke. Wer weiß, wann ich wieder nach Hause komme …
Line schrak auf, als das Fuhrwerk zum Stehen kam. Es war stockfinster, draußen pfiff noch immer der Wind.
»Kurze Pause!« Der Ruf kam von vorn und setzte sich durch die Reihen der Soldaten bis nach hinten fort.
Pause. Da würden die Männer essen wollen! Line presste sich in der hintersten Ecke des Wagens flach auf den Boden, schaufelte Stroh über sich und betete zu dem Gott, an den sie so gern glauben wollte. Ihr fielen jedoch nicht die richtigen Worte ein, immer nur das Abendlied. Es dröhnte in ihrem Kopf, als würde es lauthals gesungen.
So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder;
kalt ist der Abendhauch.
Sie meinte, den eisigen Hauch zu spüren. Dann wurde ihr klar, dass sie es wirklich tat. Die Geräusche eines einzelnen Menschen, Schnaufen, Atmen, waren jetzt ganz nah. Es war jemand im Wagen! Er hatte die Plane geöffnet, die frostige Luft hineingelassen, nun war er da, wühlte in den Vorräten herum und würde sie gleich entdecken. Was würde er mit ihr anstellen? Line atmete so flach wie möglich und kniff die Augen zu.
Dann ruckelte der Wagen ein letztes Mal, die menschlichen Geräusche entfernten sich. Von draußen erklang eine Stimme: »Hier sind Brot und Speck. Das sollte genügen.«
Line schluchzte erleichtert auf, wagte jedoch nicht, sich zu bewegen. Feuerschein flackerte zu ihr herein, Schmatzen ertönte und schließlich Schnarchen. Das Lager war zur Ruhe gekommen, Line dagegen war hellwach. Sollte sie die Flucht versuchen? Doch sie waren Stunden gefahren – woher sollte sie wissen, wo sie war, wenn sie jetzt in der finsteren Nacht den Wagen verließ? Hier drinnen war es wenigstens windgeschützt und unter dem Stroh einigermaßen warm. Also entschied sie, zu bleiben und abzuwarten, was weiter geschah.
Das Warten wurde allerdings dadurch erschwert, dass sie mittlerweile einen solch starken Druck auf ihrer Blase verspürte, dass sie es kaum noch ertragen konnte. Es half nichts: Sie musste eine Lösung finden. Hinaus- und wieder hineinklettern war unmöglich, zu groß war ihre Angst, entdeckt zu werden. Ebenso widerstrebte es ihr, sich einfach ins Stroh zu erleichtern. Immerhin lagen überall Lebensmittel! Da fiel ihr der Milchkrug ein, und sie lachte leise. Es gab doch für alles einen Ausweg, wenn man nur lange genug nachdachte. Sie trank noch rasch, so viel sie konnte, dann entleerte sie sich in das Gefäß, verschloss es sorgfältig und vergrub es unter dem Stroh, damit ja kein Soldat auf die Idee kam, daraus zu trinken. Danach verkroch sie sich erleichtert in ihrer Ecke.
Als der Ruf zur Weiterfahrt durch das Lager dröhnte, drang noch kein Tageslicht durch die Ritzen in der Plane. Es war tatsächlich nur eine kurze Ruhepause gewesen. Die Truppe musste es sehr eilig haben. Line war froh, dass nicht gefrühstückt wurde. Der Wagen setzte sich in Bewegung, ohne dass noch einmal ein Mensch ihn betreten hatte. Nun übermannte sie wieder die Müdigkeit, und war nicht jetzt die beste Gelegenheit zum Schlafen? Der Marsch schien vorerst einige Zeit voranzugehen, um die verlorenen Stunden aufzuholen. Line schloss die Augen und dachte an ihre Schwestern, die die zweite Nacht in Folge ohne sie verbrachten. Grete würde sich gewiss große Sorgen machen. Doch es war ganz gut, dass sie sich schon jetzt an das Alleinsein gewöhnte. Eine Woche hatte die Mutter Line nur gegeben, dann würde sie ohnehin nie mehr in der Kammer auf dem Gutshof schlafen.
Der Wagen ruckelte noch immer voran, als Line aufwachte. Inzwischen war heller Tag, und sie war hungrig. Wieder angelte sie nach den nächstbesten Bündeln, fand Brot, Speck und sogar getrocknete Apfelscheiben, die süß und gleichzeitig sauer waren und so gut, dass Line genießerisch die Augen schloss, während sie kaute. Sie ließ sich ihr Frühstück schmecken, dann fiel ihr ein, dass sie sich besser etwas einpackte. Wenn sie wegrennen musste – und irgendwann würde sie das müssen –, würde sie Nahrung brauchen, gerade in der Fremde, wo sie niemanden kannte. Sie nahm den Beutel mit den Räucherwürsten und den mit dem Speck, außerdem den Sack mit dem Brot und füllte den Inhalt so um, dass ein Bündel genau so viel enthielt, wie sie leicht tragen konnte. Sie schnürte es zu und band es sich unter der Schürze um den Bauch. Dann versteckte sie sich wieder im Stroh – gerade rechtzeitig, bevor das Fuhrwerk zum Stehen kam.
Die Angst, die in den letzten Stunden geruht hatte, kehrte mit einem Schlag zurück. Ein Mann kam in den Wagen gekrochen, und dieses Mal konnte sich Line nicht auf den Schutz der Dunkelheit verlassen. Doch vermutlich sah der Mensch nur, was er erwartete, dachte Line, als sich die Plane wieder schloss, ohne dass der Soldat sie entdeckt hatte. Und wer erwartete schon ein kleines Mädchen mitten in einem Kriegszug?
Die Fahrt wurde fortgesetzt, und Line grübelte, wo sie enden würde. Was hatte Claus über den Krieg gesagt? Er ging sie nichts an. Nun ging er Line sehr wohl etwas an, und sie hätte gern gewusst, was diese Preußen vorhatten. Sie war inzwischen sicher, dass es sich um preußische Soldaten handelte. Immerhin sprachen sie Deutsch – es klang zwar ein wenig fremd, doch Deutsch war es unverkennbar.
Wenn es aber Preußen waren, hieß das dann nicht, dass die dänischen Soldaten sie nicht hatten aufhalten können? War es also so gekommen, wie der Säufer im Eber es vorausgesagt hatte? Waren die Dänen, die Line bei Kappeln gesehen hatte, vielleicht längst von Kanonenkugeln zerfetzt – bumm, wie Claus gesagt hatte – oder erstochen worden? Lines Kehle wurde eng. Sie waren doch kaum älter gewesen als sie selbst und bestimmt jünger als der Claus. Traurigkeit breitete sich in ihr aus, ein Gefühl, das schlimmer war als Hunger und Kälte.
Etwas war anders, als der Wagen das nächste Mal anhielt. Hufschlag kam herbeigeprescht, laute Rufe flogen durch die Reihen der Soldaten, Befehle wurden weitergereicht, Fragen gestellt, Antworten gegeben, alles geriet in Bewegung. Line strengte sich an, um die Worte zu verstehen.
»Wir sind zu spät.«
»Die Dänen sind weg.«
»Was tun wir jetzt?«
»Die Vorhut reitet ihnen nach, wir anderen lagern ein paar Tage.«
»Ein Regiment nach Glücksburg, eins bleibt hier in Flensburg.«
Glücksburg, Flensburg … Die Namen kannte Line. Die Orte lagen ein ordentliches Stück von der Schlei entfernt an einem anderen Meeresarm, der ins Land hineinragte. Sie fragte sich, wie es wohl in diesen Städten aussah.
Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Einige Tage lagern – das bedeutete, dass der Proviantwagen leergeräumt würde! Sie musste sich auf ihre Flucht vorbereiten. Hier in der hintersten Ecke würde sie keine Möglichkeit haben, schnell zu verschwinden. Zum Fahrer hin war der Wagen durch eine durchgehende Plane abgesperrt, die nicht zu öffnen war. Line kroch über die Säcke mit dem Essen zum Eingang und spähte hinaus. Tatsächlich schlugen die Soldaten, über eine große Fläche des Landes verteilt, ihr Lager auf, errichteten Zelte und nahmen Holzunterstände in Beschlag. Die ersten Feuer waren bereits entzündet, sicherlich würde bald gegessen werden.
Da kam auch schon ein Mann zielstrebig auf sie zu. Line schluckte. Jetzt galt es! Sie würde ihn überraschen, an ihm vorbeispringen und fortlaufen. Sie war satt und ausgeruht, im Gegensatz zu den Soldaten. Aber sie war nur ein Mädchen in zu großen Stiefeln! Bevor die Furcht sie lähmen konnte, handelte sie. Sie schnellte hervor, sprang vom Wagen und rannte, ohne nach links und rechts zu sehen, bahnte sich ihren Weg durch die Lücken in der Masse der Soldaten, lief immer weiter. Ihre Stiefel hatten feste, gute Sohlen, trotzdem glitt sie wieder und wieder auf dem hart gefrorenen Schnee aus, strauchelte, fing sich wieder. Hinter sich hörte sie Rufe und Schritte, doch sie hielt nicht an, ignorierte ihre Rippen, die bei jedem ihrer hastigen Atemzüge stärker schmerzten. Weiter und weiter, Haken schlagen wie ein Hase, an den Männern und Zelten vorbei, schließlich aufs freie Feld, rechts von ihr Wasser, links von ihr Häuser, doch sie rannte voraus, fort von allem, in das weiße Nichts aus Schneetreiben, im Nacken die panische Angst.