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Angeln
2. Februar 1864
Der Mutter ging es nicht gut. Sie hatte sich in der Frühe übergeben und war gar nicht erst aufgestanden. Grete und Fie spielten friedlich mit ihren Puppen, und Line nutzte die Gelegenheit, sich davonzumachen. Ihre morgendlichen Pflichten waren getan, sodass sie ohne schlechtes Gewissen ihrer Wege gehen konnte.
Der Tag war frostig und trübe. Die Sonne hatte sich bisher nicht gezeigt, und vom Wald her schlich dichter Nebel über die Felder und in das Dorf. Line zog fröstelnd ihre Schals enger um sich. Sie fühlte sich seltsam. Normalerweise konnte sie es kaum erwarten, den Gutshof zu verlassen und durch die Gegend zu streifen. An diesem Tag jedoch war sie nicht in der Stimmung dafür. Sie versuchte es eine Weile, doch sobald ihre Kleider klamm wurden, hatte sie keine Freude mehr an ihrer Freiheit. Mit hängendem Kopf schlich sie zurück auf den Hof.
»He, Line!« Claus, der Knecht, der nach Johanns Tod eingestellt worden war, kam auf sie zu. »Hast du nichts zu tun? Du kannst mit mir runter nach Kappeln fahren, die Herrschaften haben Gäste zum Abendessen und wünschen Fisch.«
Lines Stimmung hellte sich augenblicklich auf. Sie mochte Claus, obwohl sie bei seinem Anblick stets an Johann und dessen trauriges Ende denken musste. Doch das war schließlich nicht die Schuld des neuen Knechts. Der war ein netter, junger Kerl, wenn er Line auch ein wenig einfältig vorkam.
»Gern. Ich suche die besten Fische aus!«
»Weiß ich. Darum nehm ich dich doch mit. Sag du der Herrin Bescheid, ich spanne an.«
Bald zuckelten sie im Pferdekarren die holprige Landstraße entlang nach Süden. Der Nebel wurde immer dichter, es schneite leicht, und Line wunderte sich, dass Claus und das Pferd nicht die Orientierung verloren. Das kräftige Kaltblut jedoch trabte zielstrebig voran durch die menschenleere Landschaft. Erst als sie sich gegen Mittag der Schlei näherten, nahm die Betriebsamkeit auf den Straßen zu.
»Wer sind diese Männer, Claus?«, wisperte Line und zeigte auf eine Gruppe Uniformierter.
»Dänische Soldaten. Die sind hier überall.«
»Dänen?« Line riss die Augen auf. »Echte Dänen aus dem Königreich oder Schleswiger wie wir?«
»Solche und solche, glaub ich.«
»Und was tun die hier?«
»Es wird erzählt, dass es Krieg gibt. Na ja, uns werden sie schon in Ruhe lassen.«
»Krieg? Warum denn bloß?«
»Keine Ahnung.« Er zuckte mit den Schultern. »Kümmert mich auch nicht.«
Damit war die Angelegenheit für Claus erledigt. Line aber musterte die Männer mit den dunkelblauen Mänteln und Kappen, den hellblauen Hosen und den hohen, glänzend schwarzen Stiefeln argwöhnisch. Sie trugen Gewehre in den Händen, und an ihren Gürteln hingen lange, schmale Klingen, die in dem dumpfen Licht des Nebeltages matt schimmerten.
Bevor sie nach Kappeln einfuhren, passierten sie Wälle und Zäune, hinter denen sich die Soldaten gesammelt hatten. Line war zuletzt im vergangenen Herbst in Kappeln gewesen und konnte sich nicht erinnern, damals schon solche Dinge hier gesehen zu haben. Claus zügelte das Pferd und ließ es langsam durch den schmalen Durchlass in den Wällen gehen. Das gab Line die Gelegenheit, sich alles noch genauer anzusehen. Die Soldaten saßen oder standen vor einfachen Unterständen und Hütten, die kaum genug Schutz vor dem Wetter bieten konnten. Und da waren dicke, schwarze Rohre auf riesigen Rädern, die ihre Öffnungen bedrohlich auf sie richteten.
»Was ist das?«, flüsterte Line und zeigte auf eines der seltsamen Gefährte.
»Eine Kanone«, sagte Claus, als wäre es etwas ganz Gewöhnliches, während er das Pferd wieder antrieb. »Sie stopfen Kugeln rein und Schießpulver, und dann – bumm!«
Das Frösteln, das Line überlief, kam nicht allein von der feuchten Kälte, die ihr unter die Kleider gekrochen war. Schnell begann sie, das Abendlied zu summen, und als sie am Hafen Halt machten und die Verkaufsstände der Fischer aufsuchten, hatte sie sich beruhigt. Claus hatte bestimmt recht. Wer sollte ihnen schon etwas anhaben wollen?
Sie suchte fünf schöne, fette Dorsche aus und handelte die Fischersfrau noch herunter, als Claus bereits den geforderten Preis zahlen wollte. Stolz auf sich und ihr Geschick kletterte sie wieder auf den Pferdewagen. Claus sah sie von der Seite bewundernd an.
»Schade, dass du noch so jung bist, mein blondes Engelchen. Dich könnte ich mir als mein Weib vorstellen.«
»Halt die Klappe, Claus. Ich heirate nicht. Und von einem Engel bin ich meilenweit entfernt.«
»Aber sicher heiratest du. Und warum dann nicht mich? Ich kann noch ein paar Jahre warten.« Er sagte es so freundlich, dass Line wusste, vor ihm brauchte sie keine Angst zu haben. Sie musste lachen.
»Da kannst du warten, bis du schwarz wirst.«
»Meinetwegen.« Claus lachte ebenfalls, und sie machten sich auf den Heimweg.
Line ließ ihren Blick auf der Schlei ruhen, bis sie sie hinter sich gelassen hatten. Sie war kein Fluss, sondern ein Meeresarm, das wusste Line. Ihr gefiel das ruhige Gewässer, das das flache Land durchschnitt. Es war an manchen Stellen unüberwindbar breit, an anderen wieder so schmal, dass man meinte, ohne Mühe ans gegenüberliegende Ufer schwimmen zu können. Line hatte es noch nie versucht, doch es war eines der Dinge, die sie sich für den kommenden Sommer fest vorgenommen hatte. An diesem Tag jedoch trieben Eisschollen im Wasser, und die ufernahen Bereiche waren gefroren.
Als sie wieder die dänischen Stellungen mit den Kanonen passierten, kehrte das mulmige Gefühl in Lines Bauch zurück. Die Soldaten unterhielten sich leise, doch einzelne Worte drangen an Lines Ohr.
Krieg.
Kämpfen.
In ihrem einzigen Schuljahr war der Großteil des Unterrichts auf Dänisch abgehalten worden, sodass sie die fremde Sprache fast so gut zu verstehen gelernt hatte wie ihre eigene. Naturtalent hatte ihr Lehrer sie genannt. Es hatte ihr nichts genützt. Die Mutter hatte jeden weiteren Schulbesuch verboten, obwohl Line wusste, dass Kinder eigentlich bis zur Konfirmation in die Schule gehen mussten. So stand es geschrieben, doch die Mutter hatte angegeben, Line bei der Arbeit und für die Aufsicht über ihre Schwestern zu benötigen, und schon war keine Rede mehr von der Schule gewesen. Und das, obwohl doch diese seltsame Patin, die sie nie getroffen hatte, ihr mindestens für ein weiteres Jahr alle Kosten bezahlt hätte. Obwohl sie noch so vieles hätte lernen können, was ihr vielleicht ermöglicht hätte, später einmal mehr zum Auskommen ihrer Familie beizutragen.
In diesem Augenblick aber, hier auf dem Wagen mit Claus, wünschte Line, sie würde die Sprache der Soldaten nicht verstehen.
Preußen.
Kämpfen.
Krieg.
Tod.
Das Schlimmste war, dass sie ihre Furcht in den Augen der jungen Männer widergespiegelt sah. Claus mochte noch so sehr behaupten, der Krieg ginge sie nichts an – Line glaubte ihm nicht. Der Knecht begann, ein fröhliches Lied zu pfeifen, doch sie hörte nur die Stimmen der Soldaten, sogar noch, als sie sie längst hinter sich gelassen hatten.
Line war froh, dass Claus pfiff und vor sich hinplapperte, ohne eine Antwort von ihr zu erwarten. Sie saß zusammengekauert auf dem Wagen, ihre Wollschals eng um sich geschlungen, doch das Frösteln wollte nicht nachlassen. Immer wieder sah sie die Waffen vor sich, die mannshohen Gewehre, die langen, scharfen Klingen. Sie stellte sich vor, wie diese in die Körper der Feinde drangen, sie aufschlitzten und tot zusammenbrechen ließen.
Line fragte sich, wer diese Feinde waren. Wen wollten diese Dänen töten?
Sie wusste, dass es im Norden ein Land gab, das das dänische Königreich genannt wurde. Und dass Schleswig, ihre Heimat, irgendwie zu diesem Königreich gehörte und irgendwie auch wieder nicht. In der Schule wurde Dänisch gesprochen und gelehrt, und es gab viele Menschen, die es auch im Alltag sprachen. So wie sie und ihre Mutter Deutsch und wieder andere Friesisch sprachen, das sich seltsam anhörte und Line neugierig machte, es zu lernen.
Sie hob erneut an, Claus nach dem Krieg zu fragen, doch er machte nur eine abwehrende Handbewegung und fuhr mit dem Pfeifen fort. Auf einmal meinte Line, es keinen Augenblick länger ertragen zu können. Sie hielt sich die Ohren zu und begann, ihr eigenes Lied zu summen, aber dieses Mal machte es die Furcht nicht kleiner.
Und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.
Doch dieser Nebel war nicht wunderbar. Er war beängstigend. Line fühlte sich, als würde ihr die Luft zum Atmen genommen, als würde sich weiße, feuchte Watte überall um sie herum befinden und ihre Fasern in ihren Mund dringen, in ihre Nase und ihren ganzen Körper.
Kaum dass sie den Gutshof erreichten, sprang sie vom noch fahrenden Karren und lief in ihre Kammer.