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Angeln
Januar 1864
»Arlina Auguste Dittmann! Komm sofort her!«
Line verdrehte die Augen. Die Stimme ihrer Mutter konnte sich anhören wie ein Peitschenknall, und das verhieß nie etwas Gutes. Ebenso wenig, dass sie ihren vollen Namen benutzte. Schnell lief Line zur Tür des Dienstbotentrakts, vor der Catharina Thomsen stand, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Wo warst du?«
Line trat von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte mit ihren beinahe elf Jahren die Körpergröße ihrer Mutter fast erreicht, doch die herrische Stimme machte, dass sie sich winzig klein fühlte.
»An der See«, flüsterte sie. »Ich mag es so, zuzusehen, wie es über ihr langsam hell wird.«
»Du hattest bei Sonnenaufgang die Hühner zu füttern. Jetzt ist es Mittag!«
»Ich habe sie gefüttert, bevor ich gegangen bin, Frau Mutter.«
»Du schleichst dich im Dunklen in den Hühnerstall, nur um dich dann davonzumachen?«
Und in die Speisekammer, dachte Line und musste sich ein Lachen verbeißen. Sie hatte am Strand gesessen, den Wellen gelauscht und das stibitzte Brot gegessen, und es hatte ihr so gut geschmeckt, wie es ihr in Gesellschaft ihrer Familie nie schmeckte.
»Was grinst du so?«
Geschickt wich Line dem Schlag aus, von dem sie gewusst hatte, dass er kommen würde. Inzwischen beherrschte sie es meisterhaft. Sie sprang aus der Reichweite der Mutter und rief: »Warum schimpfen Sie immer nur mich und nie die Grete und die Fie? Ich habe meine Pflichten getan, und trotzdem sind Sie böse mit mir!«
»Margarethe ist ein folgsames Mädchen und Sophie noch viel zu klein zum Unsinnmachen. Nur du bereitest mir ständig Ärger!«
»Aber ich habe doch …«
»Sei still und widersprich nicht, oder willst du schuld sein, dass uns die Herrschaften vom Gutshof verjagen? Du machst mir Schande!«
Das schaffst du schon allein, dachte Line erbost. Drei Kinder von drei Männern, wenn das nicht Schande genug ist! Jedenfalls sagten das die Leute im Dorf.
In ihren Gedanken siezte sie ihre Mutter nie. Es kam ihr seltsam vor, dass sie von allen geduzt, mit Weib oder Mädchen angesprochen wurde, nur ihre Töchter waren gezwungen, sie zu siezen.
Weitere Erwiderungen lagen auf Lines Zunge, und es fiel ihr schwer, sie zu hüten. Es führte jedoch zu nichts, die Mutter noch ärgerlicher zu machen. Wäre sie aus Sorge wütend gewesen, wäre es etwas anderes. Immerhin war kalter Winter, und Line war stundenlang fortgeblieben. Sie wusste jedoch, dass sich Catharina nicht um sie sorgte. Ihre Älteste war ihr gleichgültig, sie liebte nur Grete und Sophie.
»Geh jetzt und pass auf deine Schwestern auf. Dazu wirst du ja wohl in der Lage sein!«
»Ich bin zu sehr vielem in der Lage.«
Line war schon fast an ihrer Mutter vorbei auf dem Weg in das Gebäude, deshalb sah sie den Schlag diesmal nicht kommen. Sie meinte, ihr Kopf würde in Stücke zerspringen, so hart traf sie die flache Hand der Mutter am Hinterkopf.
»Halt dein vorlautes Maul, sonst jage ich dich eigenhändig vom Gut, und du kannst zusehen, wo du dich als Magd verdingst! Alt genug bist du allemal!«
Tränen schossen Line in die Augen, vor Wut, Schmerz und Angst gleichermaßen. An der Mutter hing sie nicht, doch sie kannte kein anderes Zuhause als den Gutshof und liebte ihre jüngeren Schwestern innig. Schnell lief sie los, damit die Mutter sie nicht weinen sah. In der winzigen Kammer warteten Grete und Sophie schon auf sie.
»Line, wo warst du? Frau Mutter war so wütend!«
»Ach Grete«, sagte Line und zupfte ihre Schwester an den langen, geflochtenen Zöpfen, dann legte sie ihre warme Überkleidung ab. »Ich kann es ihr doch nie recht machen. Ich war spazieren, sonst nichts.«
»Warum nimmst du mich nie mit? Ich bin schon sieben. Ich will nicht immer allein mit der Fie bleiben!«
»Ich bin fast elf.« Line schlüpfte aus den zu großen Lederstiefeln, die sie zu Weihnachten von den Herrschaften bekommen hatte. Sie passten ihr nur mit drei Paar Wollsocken. »Ich laufe viel zu weit für dich.« Line packte Grete und kitzelte sie am Bauch. »Auf deinen kurzen Beinchen hältst du nie mit mir Schritt!«
Grete kicherte und wand sich aus Lines Griff, dann nahmen beide je einen Arm der kleinen Sophie und schwangen sie hoch in die Luft. Das Mädchen gluckste fröhlich, und Lines Herz wurde schwer. Niemand hatte sie je geherzt und mit ihr gespielt. Sie hatte es für normal gehalten, doch nach der Geburt von Grete und besonders nach der von Fie war ihr bewusst geworden, dass ihre Mutter auch liebevoll sein konnte. Nur nicht zu ihr. Nie zu Line.
Sie wusste, auch an diesem Tage würden ihr ihre vorlauten Bemerkungen noch Ärger einbringen. Und der ließ nicht lange auf sich warten. Am Nachmittag betrat Catharina die Stube, gab ihren jüngeren Töchtern je einen Keks und sagte zu Line: »Raus mit dir. Du hilfst Berta beim Schlachten. Und diesmal wirst du die Hühner nicht nur rupfen und ausnehmen, sondern selbst das Beil schwingen!«
Line war wenig zimperlich, was Blut, Gedärme und andere unappetitliche Dinge anging, doch in diesem Augenblick stieg Übelkeit in ihr auf. Es war schlimm genug, beim Schlachten zuzusehen und das zuckende, kopflose Huhn entgegenzunehmen, und nun sollte sie selbst … Sie wusste genau, dass die Mutter sie nur dazu zwang, um sie zu bestrafen. Sie wollte sich wehren, da es nicht zu ihren Aufgaben gehörte, die gewöhnlich die Gutsherrin ihr erteilte. Da jedoch fügte Catharina mit höhnischer Stimme hinzu: »Du sagst doch, du bist zu vielem in der Lage. Nun beweise deine großen Worte auch!«
Line straffte die Schultern. Ja, sie würde es beweisen. Sie würde noch allen zeigen, was in ihr steckte. Um sich zu beruhigen, begann sie, das Abendlied zu summen. Das tat sie immer, wenn ihr etwas Unangenehmes bevorstand. In ihrem Kopf formte sie die Worte der zweiten Strophe, die sie am liebsten hatte.
Wie ist die Welt so stille …
Es war selten still um sie herum. Der weitläufige Gutshof summte zu jeder Tageszeit vor Betriebsamkeit, und wenn die tägliche Arbeit getan und sie in ihrer Kammer war, plapperten Grete und Fie ohne Unterlass. Schon deshalb liebte sie das Lied mit seiner sanften Melodie und den friedlichen Worten, das sie in ihrem einzigen Schuljahr gelernt hatte.
Mit jedem Schritt zum Schlachtplatz wurde sie ruhiger. Ihr war, als entferne sie sich von sich selbst. Sie fühlte sich eigenartig, so als sei sie gar nicht mehr Line, sondern eine Fremde. Sie betrachtete sich von außen: das für sein Alter große Mädchen mit der schmalen, aber robusten Statur, die unter vielen Lagen dicker wollener Kleidungsstücke verborgen war. Immer weiter ging sie, immer lauter summte sie das alte Lied, bis es ihren Kopf vollständig erfüllte.
So ertrug sie es, die Köpfe der sich sträubenden Hühner auf den Hauklotz zu legen, das Beil hinabfahren zu lassen und das hellrote Blut in den matschigen, schmutzig-weißen Schnee tropfen zu sehen. Erst als sie später die blutige Schürze ausgewaschen und ihre Hände gründlich geschrubbt hatte, war sie wieder gänzlich bei sich. Sie betrachtete sich im Spiegel, lächelte sich zu und fühlte sich, als sei sie an diesem Nachmittag mindestens eine Handbreit gewachsen.