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ОглавлениеProlog
Angeln, Herzogtum Schleswig
22. April 1853
»So dankst du es dem Herrn, dass er dich in seinen Dienst genommen hat.« Die Alte schnaubte. »Lässt dich kaum einen Monat nach deiner Ankunft schwängern, fällst wochenlang aus und hast dann ein Blag am Hals, das der Herr auch noch durchfüttern kann!«
Catharina ballte die Fäuste und setzte zu einer scharfen Erwiderung an, da überwältigte sie die nächste Wehe. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien, doch ein gequältes Stöhnen konnte sie nicht unterdrücken.
»Du musst pressen, Weib. Mach, dass das Ding aus dir rauskommt, damit wir alle bald zurück an die Arbeit können.«
Catharina presste, hatte jedoch nicht das Gefühl, dass die Geburt auch nur ein Stück voranging. Als sie wieder zu Atem kam, entfuhr es ihr: »Sie sind doch nur neidisch, weil Sie keine Kinder haben.«
Die Wirtschafterin, die die Aufsicht über alle Mägde auf dem Gutshof hatte, hockte sich neben dem schmalen Bett nieder und funkelte Catharina zwischen zusammengekniffenen Lidern an.
»Nur weil ich nicht für jeden die Beine breitgemacht habe wie du, du nutzlose Hure! Ich weiß nicht, warum dich die Herrschaften nicht längst davongejagt haben.«
»Weil ich eine gute Arbeiterin bin!«
In den Schweiß, der Catharina über das Gesicht lief, mischten sich Tränen des Schmerzes und der Wut.
»Bis jetzt vielleicht.« Hohn troff aus der Stimme der Alten. »Aber mit einem Gör am Rockzipfel bestimmt nicht mehr!«
In dem Augenblick schwang die Tür der winzigen Kammer auf. Vom Flur her drang Lampenschein in das abgedunkelte Zimmer, und vor dem hellen Hintergrund erschien die Gestalt einer hochgewachsenen Frau. Catharina konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Sie sah es erst, als sich die Person näherte.
»Freifrau Auguste«, stieß die Wirtschafterin hervor und knickste umständlich. »Haben Sie sich verirrt? Ich bringe Sie gleich zu den Herrschaften.«
»Bitte lassen Sie uns allein«, sagte die Besucherin schroff, streifte ihren Pelzmantel ab und ließ ihn achtlos auf einen Stuhl fallen. »Ich habe mit der Magd Catharina zu reden.«
Sie wartete, bis die Alte die Tür der Kammer hinter sich geschlossen hatte, dann trat sie dicht an Catharinas Lager heran. Die wurde im selben Augenblick von der nächsten Wehe erfasst, und dieses Mal konnte sie den Schrei nicht zurückhalten. Die Angst vor dem, was nun kommen würde, ließ sie schwach werden.
Die Besucherin wartete ruhig die Wehe ab, und als sich Catharinas Blick wieder klärte, sah sie das kalte Lächeln auf dem Gesicht der Adligen.
»Es tut weh, nicht wahr? Doch diese Schmerzen sind nichts gegen die, die ich dir zufügen werde, wenn du je ein Wort über den Vater dieses Blags verlierst.« Sie beugte sich so dicht über Catharina, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. »Ich hoffe, ich habe mich deutlich ausgedrückt. Kein Wort, niemals!«
Catharina schluchzte auf und nickte.
Die Besucherin richtete sich auf.
»Gut. Im Gegenzug dafür übernehme ich die Patenschaft für das Kind. Immerhin ist es … mit meinem Sohn verwandt.« Bis auf das kurze Zögern sagte sie die Worte ohne Ausdruck in der Stimme, doch Catharina sah dem Gesicht der Frau deutlich an, dass die Sache sie in Wahrheit alles andere als kalt ließ. »Es soll meinen Vornamen tragen. Ich lasse dir ein Taufkleid bringen. Darüber hinaus will ich nichts mehr mit ihm oder dir zu tun haben. Halte dich von meiner Familie fern!«
Sag das deinem Mann, dachte Catharina, dann kehrten die Schmerzen zurück, und sie dachte gar nichts mehr. Sie presste und presste, schrie und schrie, und endlich schien sich in ihrem Unterleib etwas zu bewegen. Hechelnd holte sie Atem, stieß dann hervor: »Ich brauche Hilfe. Jemand muss das Kind rausziehen!«
»Ich schicke dir gleich die Alte. Eines noch: Wie heißt der Knecht, mit dem du es letztes Jahr ebenfalls getrieben hast?«
Catharina blieb keine Zeit, sich über die derbe Sprache der Edelfrau zu wundern, die nicht zu dem feinen Kleid und dem Pelz passen wollte. »Carl Dittmann heißt der«, sagte sie rasch.
»Gut. Wir brauchen einen glaubhaften Zeugen für den Eintrag ins Taufregister. Ich bezahle die Witwe Franzen, damit sie aussagt, er sei der Kindsvater.«
»Carl bringt mich um!«, entfuhr es ihr. »Und er kann es auch gar nicht sein, ich kenn den doch erst seit acht Monaten.«
»Was wissen denn Männer von solchen Dingen? Er ist der Vater, so wird es im Kirchenbuch stehen, und du nimmst mit ins Grab, dass es nicht so ist. Verstanden?«
Catharinas Antwort ging in ihrem nächsten Schmerzensschrei unter. Sie spürte Wärme und Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen. Die Besucherin wandte sich angewidert ab, nahm ihren Pelz und verschwand. Catharina war allein mit ihrer Angst, sie presste und würgte, zitterte, schwitzte und schrie.
Endlich kam die Wirtschafterin zurück, griff ihr zwischen die Beine und zog. Catharina fühlte sich, als risse sie entzwei. Dann, plötzlich, war alle Schwere verschwunden. Ein letzter Krampf, ein Schwall und ein schmatzendes Geräusch, dann war es vorüber. Sie fühlte sich gänzlich leer, endlich wieder leicht nach all den Monaten. Ein wahnsinniges Kichern stieg in ihr auf.
»Ein Mädchen«, sagte die Alte. »Auch das noch.«
»Lebt es?«, fragte eine Stimme von der Tür her. Da erst bemerkte Catharina, dass die Freifrau zurückgekehrt war. Sie wollte ihr Kind ansehen, konnte den Blick aber nicht vom Gesicht der Besucherin wenden.
Ein Klatschen ertönte, dann ein dünnes Quäken.
»Es lebt.«
Die Adlige nickte, sah Catharina noch einmal scharf an, wandte sich um und ging.
»Sag schon, was wollte die hier?«, fuhr die Wirtschafterin sie an, schob ihr das Hemd hoch und legte das Kind auf ihre Brust. Catharina sah zum ersten Mal den hellen Haarflaum, die weit geöffneten Augen und den winzigen Mund ihrer Tochter. Sie wusste, sie hätte so etwas wie Liebe empfinden sollen, doch sie war nur erschöpft und sehnte sich nach Schlaf.
»Die Patenschaft übernehmen«, murmelte sie und gähnte.
Die Alte legte ein Laken über Mutter und Kind, dann sah sie Catharina forschend ins Gesicht.
»Dafür kommt sie den weiten Weg von Herrenhaus Angeln hierher? Um die Patin vom Blag einer Magd zu werden? Warum sollte sie das tun?«
»Wohltätigkeit, was weiß denn ich?«
Catharina schloss die Augen. Sie spürte, wie das Kind an ihrer Brustwarze saugte. Das Gefühl war unangenehm, und sie hätte sich dem kleinen, gierigen Mund am liebsten entzogen. Ihr Verstand jedoch, wenn auch nicht ihr Herz, sagte ihr, dass sie das Saugen zulassen musste. Dass es Sünde war, ein Kind abzulehnen.
Doch was sollte aus ihm werden? Tochter einer unverheirateten Magd und eines Knechts, der all sein Geld im Eber versoff. So jedenfalls würde es im Kirchenbuch stehen. Die Wahrheit war nicht besser. Sie konnte nur hoffen, dass die edle Patin es ihr ermöglichte, weiterhin auf dem Gutshof zu arbeiten. Sonst blieb ihr und dem Kind nur das Armenhaus.
Mit diesem Gedanken im Kopf und dem Schmatzen des Säuglings im Ohr schlief Catharina ein.