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Haderslev, Herzogtum Schleswig

Dezember 1863

»For helvede, Mads! Du bist verrückt!«

»Liebste, das bin ich nicht. Ich muss gehen. Es ist meine Pflicht.«

»Du bist Maurer und kein Soldat.« Bodil strich sich eine lange Haarsträhne aus der Stirn. »Was willst du im Krieg?«

»Es ist ja noch gar kein Krieg«, beschwichtigte ihr Mann sie, »und wahrscheinlich kommt auch keiner. Die neue Verfassung bringt den Deutschen Bund gegen unsere Regierung und den König auf, deshalb müssen wir Schleswigs Südgrenze sichern. Das ist alles.«

»Das ist gewiss nicht alles! Die Preußen lassen sich doch Schleswig nicht einfach wegnehmen. Es wird Krieg geben, Mads. Und dann werde ich allein sein!« Tränen traten ihr in die Augen, und Mads zog sie in seine Arme.

»Du bist viel zu klug, Liebste.« Er küsste sie auf die Stirn. »Kannst du nicht genauso unwissend sein wie Ferdinands Inge? Die macht ihm keinen Ärger.«

»Ferdinand Rasmussen hat dir also diesen Floh ins Ohr gesetzt? Kein Wunder.« Sie befreite sich aus der Umarmung und drehte ihrem Mann den Rücken zu. »Dem Drachen, den der zu Hause hat, würde ich auch entkommen wollen. Und dann die ganzen Kinder, die ihm die Haare vom Kopf fressen …« Bodil schluckte die Tränen hinunter, die in ihr aufstiegen. Auch sie hätte gern ein Kind gehabt. Nun jedoch wollte der Mann, den sie liebte, in den Krieg ziehen.

Mads trat hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sei mir nicht böse. Ich möchte auch einmal etwas Wichtiges tun.«

Bodil fuhr herum. »Ist es nicht wichtig, anderen Menschen Häuser zu bauen? Ist es nicht wichtig, eine Frau und eine Familie und ein Heim zu haben?«

Doch sie verstummte, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. Sie wusste, gegen die Sehnsucht nach Anerkennung war sie machtlos. Es war ihr nicht möglich gewesen, das wiedergutzumachen, was sein Vater versäumt hatte. Nun wollte er aller Welt beweisen, dass er, Mads Jessen, doch einen Wert besaß.

Sie seufzte. »Wofür willst du überhaupt kämpfen? Für die Dänen und gegen die Deutschen? Ja, wir hier oben nahe der Grenze fühlen uns dem dänischen Königreich nah, doch wir haben auch deutsche Freunde, und schließlich sind wir alle Schleswiger, nicht wahr? Ich dachte, du siehst das genauso wie ich. Sind unsere Freunde plötzlich unsere Feinde?«

Er zögerte, dann sagte er leise: »Natürlich nicht. Darum geht es auch gar nicht.«

»Worum dann? Dass du nicht zurückbleiben willst, wenn Ferdinand und die anderen gehen?«

Er antwortete nicht. Sie sah ihm an, dass sie einen Teil der Wahrheit herausgefunden hatte, doch das war nicht alles. Seine Miene verschloss sich.

Bodil hob die Schultern. »Du Dummkopf. Wenn du nicht zurückkommst, glaub nicht, dass ich um dich trauern werde.«

»Das sollst du auch gar nicht … oder vielleicht doch, ein ganz klein wenig.«

Bodil sah in das Gesicht ihres Mannes. Sie liebte den wachen Blick aus den haselnussbraunen Augen und die Art, wie seine dunkelblonden Haare nach allen Seiten abstanden, ganz egal, wie sorgfältig er sie kämmte. Sie liebte es, wenn er staubig von der Arbeit heimkam und vor der Tür seine Schuhe auszog, um ihren frisch gewischten Flur nicht zu beschmutzen. Und sie liebte es, wenn er sie in die Arme nahm, seine weichen Lippen auf ihre presste und ihr ganz nah war. Sie konnte ihm nie lange böse sein.

Resigniert lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. »Na gut, ein ganz klein wenig würde ich trauern.«

»Ich werde dir keinen Grund dazu geben. Ich komme zurück, Bodil. Versprochen.«

Am nächsten Tag ging Mads nicht zur Arbeit, sondern zur Musterungsstelle. Bodil hoffte den ganzen Tag, er würde nicht angenommen werden. Doch er war ein gesunder, junger Mann, und soweit sie wusste, brauchte der dänische König jeden Soldaten. Sie konnte sich nur schwer auf ihre Hausarbeit konzentrieren, lief immer wieder auf und ab und sah aus dem Fenster hinaus auf die von Schneematsch bedeckte Skibbrogade, bis es dunkel wurde.

Als Mads endlich nach Hause kam, erkannte Bodil ihn kaum wieder. Er war nicht staubig wie sonst, sondern blitzsauber, und obwohl er kein großer Mann war, schien er ihr mit einem Male weit über den Kopf zu ragen, und das lag nicht allein an der Kappe, die er trug. Er hielt sich aufrecht wie sonst nie in der neuen dunkelblauen Uniform mit den spiegelblanken Knöpfen, den Rücken kerzengerade und die Schultern gestrafft. Er zog die Stiefel nicht aus, bevor er eintrat. Feuchte Abdrücke markierten seinen Weg in die von Kerzen beleuchtete Stube hinein.

Bodil schossen die Tränen in die Augen, als sie den stolzen Ausdruck in seinem Gesicht sah. Mit ihren gerade einmal fünfundzwanzig Jahren war sie nur ein halbes Jahr älter als Mads, doch in diesem Augenblick sah er für sie aus wie ein kleiner Junge, der ein neues Spielzeug bekommen hatte. Sie mochte es ihm nicht verderben.

So setzte sie sich mit ihm an den Ofen und ließ ihn erzählen, von der Musterung, wie sie den Lars nicht angenommen hatten, Mads und die anderen Freunde aber schon, und wie glücklich er darüber war.

»In drei Tagen brechen wir auf, dann erhalte ich auch mein Gewehr. Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß es ist! Und es ist nicht leicht, es zu laden, aber das werden wir alles lernen.«

Bodil versuchte, sich ihren Mann mit einer Waffe vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Ihr war, als säße da ein Fremder an ihrer Seite, und als er die Kappe abnahm und sie sein kurz geschorenes Haar sah, schnürten ihr die unterdrückten Tränen die Kehle zu. Sie unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, ihm die Sache auszureden.

»Willst du das wirklich tun? Denkst du, du kannst einen Menschen töten, dem du von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehst? Du bringst es nicht einmal fertig, eine Maus zu erschlagen, die sich in unser Korn geschlichen hat!«

»Eine Maus ist ja auch ein unschuldiges Geschöpf.«

»Und Menschen sind das nicht? Nur weil irgendein König sie zu Soldaten macht?«

Mads blickte schweigend auf seine gefalteten Hände hinab, und Bodil schöpfte Hoffnung.

»Du bist kein Mann, der einen Krieg erträgt, Mads. Ich bitte dich, lass das sein. Wenn du eingezogen worden wärest, hättest du keine Wahl. Aber so …«

»Ich muss es tun, Bodil.« Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen. »Nie war ich meinem Vater gut genug, er hat nur meinen Bruder geliebt und hält mir immer wieder vor, der Falsche sei gestorben.«

»Das kann dir gleich sein!«

»Ist es aber nicht. Mein Vater hat im letzten Krieg nicht gekämpft. Er wollte, doch er war untauglich, nachdem er sich mit dem Stecheisen die böse Beinverletzung zugezogen hatte und humpelte. Wenn ich nun ein guter Soldat werde, vielleicht sogar eine Auszeichnung erhalte, habe ich endlich eine Sache besser gemacht als er.«

»Warum bedeutet dir das so viel? Du musst ihm nicht beweisen, dass du etwas wert bist! Genügt es nicht, dass ich es weiß, meine Eltern und unsere Freunde?«

»Ich weiß, das sollte genügen. Aber …« Er seufzte, wollte sich wie gewohnt das struppige Haar raufen und hielt irritiert inne, als seine Hand die kurzen Stoppeln berührte. »Ich bin es meinem Bruder schuldig.«

»Was hat das nun wieder zu bedeuten? Dein Bruder war zehn Jahre alt, als er starb. Was hat das mit diesem Krieg zu tun?«

Mads nahm ihre Hände in seine. »Ich habe es dir nie erzählt und auch sonst niemandem. Ich bin schuld an Augusts Tod.«

»Das glaube ich dir nicht. Du warst noch ein Kind, jünger als er!«

»Ja. Und ich war wütend, weil Vater ihn wieder einmal vorgezogen hatte. Er durfte zur Schule gehen, und ich musste immer nur arbeiten, obwohl es doch geschrieben steht, dass alle Kinder den Unterricht besuchen sollen. Ich durfte nur lesen und schreiben lernen, das genügte für den dummen Mads. Der kluge August dagegen prahlte jeden Abend mit seinem Wissen, wurde über die Maßen gelobt. Ich war neidisch. Eines Tages war es besonders schlimm. Vater hat mich geschlagen, weil ich bei Tisch eingeschlafen bin. Dabei war die Arbeit an dem Tag so anstrengend gewesen, und Augusts endlose Erzählungen aus der Schule waren so ermüdend. Es war Winter, ich bin fortgelaufen, hinaus auf den See, der teilweise zugefroren war. August kam mir nach, wollte mich zurückholen.« Mads stockte, tat zwei tiefe Atemzüge und fuhr fort. »Er war älter und viel schwerer als ich. Er brach ein, und ich konnte ihm nicht helfen.« Mads vergrub das Gesicht in den Händen. »Er hatte nie schwimmen gelernt, immer nur an die Schule gedacht. So versank er vor meinen Augen im Haderslev Dam, während ich nur dastehen konnte.«

Nun wurde Bodil ernstlich wütend. »Und das gibt dir keinen Anlass, an deinem Vater zu zweifeln? Er ist schuld, nicht du, den er ungerecht behandelt hat! Er hat dich doch dazu getrieben!«

»Was nützt mir das?« Mads ließ seine Hände sinken, schluckte schwer. Er war bleich geworden. »Ich sehe immer Augusts Gesicht vor mir, die aufgerissenen Augen und den zum letzten Schrei verzerrten Mund.«

»Das ist wohl kaum ein triftiger Grund, Menschen zu töten!« Die Angst um ihren Mann ließ Bodils Stimme härter klingen als beabsichtigt.

»Das will ich doch gar nicht. Ich will Leben retten! Wenn ich nur einen jungen dänischen Soldaten vor dem Tod bewahren kann, ist meine Schuld vielleicht endlich gesühnt.«

»Dann lass dich zum Lazaretthelfer ausbilden. Dort kannst du Leben retten!« Bodil kämpfte verzweifelt um ihren Mann, doch sie sah ihm an, dass er seine Entscheidung längst getroffen hatte. Keins ihrer Worte vermochte etwas auszurichten, und bald fand sie keine mehr.

So schwiegen sie beide, hielten sich an den Händen, bis das Feuer im Ofen heruntergebrannt war. In dieser Nacht liebten sie sich wortlos, leidenschaftlicher noch als sonst. So als wäre es das letzte Mal. Als Mads schließlich erschöpft in Bodils Armen lag und sein Kopf auf ihrer Brust ruhte, betete sie, endlich ein Kind empfangen zu haben. So würde sie nicht alles verloren haben, wenn ihr Mann nicht zurückkehrte.

Die Welt so stille

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