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Kapitel 5

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Lauschst du?« Ich musste bei dem Gedanken schmunzeln. Da stand er, der unnahbare Casanova, mit einem Ohr an die Badezimmertür im Erdgeschoss gepresst.

Noah fuhr derartig zusammen, dass ich mir ein Lachen nur mit Müh und Not verkneifen konnte. Er starrte mich für einige Herzschläge an, als wäre ich ein Geist. Dann huschte sein Blick zurück zur Tür und im nächsten Moment schon wieder zu mir. Jetzt ahnte ich, was ihn so verwirrte. Nur um mich zu vergewissern, schlich ich in meinen flauschigen Hausschuhen zu ihm und legte mucksmäuschenstill mein Ohr an die Tür. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie genau Noah mich betrachtete.

»Zieh dich an«, klang es gedämpft durch das Holz, das war unverkennbar Daniels Stimme.

Gut, dann also nicht einmal für eine schnelle Nummer. Was von den Damen hier schon vernascht wurde, wollte ich nicht haben. Ich zuckte meine Schultern, um das endgültig abzuhaken, und löste mich von der Tür. Noah ignorierend überquerte ich den breiten Flur hinüber zur Küche und lauschte dennoch angestrengt, ob er mir folgte oder nicht. Sosehr ich auch die Ohren spitzte, meine eigenen Schritte und mein Atem waren zu laut. Entweder war er sehr leise oder er war stehen geblieben.

Ich betrat eine urige Küche mit Schränken aus Echtholz in Landstiloptik, weiß gestrichen und mit gusseisernen Griffen. Die Arbeitsfläche bildete den gleichen Kontrast wie alles in diesem Haus. Hier traf urig-holzig auf modern und schnieke. Sie bestand aus einem Stück Baumstamm, dessen Rillen und Riefen mit rot meliertem Harz aufgegossen waren. Ich musste diese Oberfläche einfach berühren. Das Material fühlte sich glatt und unerwartet warm unter meinen Fingern an. Das Gefühl beruhigte mein aufgewühltes Inneres. Nicht genug, dass ich mich jetzt tatsächlich an einem Geschenk für Sam beteiligte, Rivera hatte mir gleich danach noch aufgetragen, sportliche Aktivitäten für Sams Junggesellenabschied herauszusuchen, damit sein bester Freund ihn nicht in ein Bordell schleifte. Ich war mit den Nerven langsam wirklich am Ende.

Aus dem Kühlschrank holte ich mir die Milch heraus, wegen der ich hergekommen war. Ich brauchte jetzt Nahrung für die Seele. Möglichst leise öffnete ich einige der Hängeschränke auf der Suche nach einer Tasse. Im Eckschrank fand ich sowohl ein Sammelsurium aus bunt zusammengewürfelten Kaffeebechern als auch ein piekfeines Service. Wer hatte dieses Haus nur eingerichtet?

Gerade als ich mir Milch einschenkte, knarrte eine Diele. Ich hob meinen Blick und sah Noah mit verschränkten Armen vor der Brust im Türrahmen stehen. Das war hier irgendwie so Sitte. Erst vorhin Lysander, dann Felix, jetzt Noah. Er musterte mich mit leicht gerunzelter Stirn, sein dunkles Hemd spannte an den breiten Schultern. Er sah immer noch sehr chic aus, obwohl wir schon vor zwei Stunden aus dem Santinos zurückgekommen waren.

»Auch einen?« fragte ich und hielt die Milch hoch.

»Einen Becher Milch?«

»Viel besser.« Ich grinste, als spräche ich über das achte Weltwunder. »Warme Milch mit Honig.«

Noah verharrte bewegungslos. Er schien auf eine Erklärung meinerseits zu warten, aber das war’s schon. Ich zuckte mit den Schultern, stellte die Milch zurück in den Kühlschrank und bekam von seinem Schweigen ein beklemmendes Gefühl. »Der Honig macht die Milch schön süß und er beruhigt. Ich kann dann besser schlafen.« Die Worte entschlüpften mir, ehe ich darüber nachdenken konnte, wie viel ich hier einem wildfremden, abweisenden Mann preisgab. Ich presste meine Lippen zusammen. Warum nur konnte ich nicht einfach auch schweigen?

Noah kam über die Schwelle. Ich bemühte mich, nicht jeder seiner Bewegungen mit meinen Blicken zu folgen, und suchte in den Schubladen nach einem Löffel zum Umrühren. Dennoch wusste ich genau, wann er sich an den Küchentisch setzte. Die gesamte Zeit über spürte ich seinen unverwandten Blick auf meinem Rücken kribbeln. Langsam machte mich das nervös. Also wandte ich mich ab, stellte den Becher in die Mikrowelle und lehnte mich, mit dem Löffel immer noch in der Hand, dort an die Arbeitsfläche. Auf halbem Weg, meine Arme vor der Brust zu verschränken, brach ich ab und ließ sie locker neben meinem Körper hängen. Das war eine für mich so unnatürliche Haltung, dass ich sie schon aufgab, ehe der Countdown im Display der Mikrowelle bei dreißig Sekunden angekommen war. Ich ärgerte mich über mich selbst. Warum machte der Typ mich so nervös? Unnötig fokussiert, umklammerte ich die Kante der Arbeitsfläche in meinem Rücken, wobei der Löffel nur störte. Schnell legte ich ihn auf die Arbeitsfläche und beobachtete meine Milch. Der Kaffeebecher mit den stilisierten Bergen und dem Banner Voralberg drauf drehte sich monoton im warmen Licht. Das rhythmische Surren half. Ich atme tief aus, meine Schultern entspannten sich und die Vorfreude auf den süßen Nektar kehrte zurück. Jetzt endlich sprach ich aus, was ich intuitiv wusste.

»Du wunderst dich, dass nicht ich es war, die dort drin bei Daniel gewesen ist.« Kurz wartete ich, ob er etwas dazu sagen würde. Ich warf einen schnellen Blick über meine Schulter und traf auf Noahs blaugrüne Augen, die mich mit festem Blick musterten. Schnell wandte ich mich wieder meiner Milch zu und beobachtete, wie die letzten fünfzehn Sekunden im Display herunterzählten. »Mir ist egal, warum du gedacht hast, ich sei da drin bei ihm. Was ich mich frage, ist, wieso es dich wundert, dass ich nicht die Frau dort drinnen bin?« Nun sah ich ihn wieder an. Diesmal entschlossen und ganz ohne Scham.

Stumm musterten wir einander, nicht starrend, sondern forschend, abwägend. Wie viel wollte man preisgeben? Wie viel durfte man preisgeben?

Das Bing der Mikrowelle ließ mich zusammenzucken. Ich musste über mich selbst schmunzeln. Kopfschüttelnd widmete ich mich wieder meiner Milch. Irgendwie bannte er mich. Es war das Rätsel seines Charakters, das mich so vollends faszinierte. Ich war in jeder Hinsicht ein sensibler Mensch, zumindest glaubte ich das von mir, und die meisten um mich herum waren ein offenes Buch für mich. Ich wusste längst, dass Daniel einfach Sex brauchte, egal mit wem, egal wann. Felix war genau so, wie Nell ihn beschrieben hatte, nur war ich mir sicher, dass er auch fremdgehen würde, würde er nur genug gereizt werden. Er liebte Isabelle zwar, aber ihre passiv-aggressive Art würde irgendwann mit seinem Wunsch nach Herausforderungen kollidieren. Und so konnte ich das mit jedem von ihnen machen. Sicher wusste ich nicht alles von ihnen, dazu musste man einen Menschen länger als vierundzwanzig Stunden kennen, und natürlich würden mich manche ihrer Wesenszüge überraschen. Doch einiges wusste ich eben schon nach so kurzer Zeit. Sie alle waren durchschaubar, zumindest für mich. Nur Noah nicht. Er war mir ein Rätsel, und das beunruhigte mich. Der letzte Mann, der mir ein Rätsel gewesen war, heiratete jetzt meine Schwester.

Ich stellte den Becher auf einen Topfhandschuh, damit die heiße Keramik keinen Abdruck auf der Arbeitsplatte hinterließ. Dann machte ich mich auf die Suche nach dem Honig.

»Der Schrank oben links«, erklang plötzlich Noahs Stimme.

Ich blickte über meine Schulter und sah einen entspannt zurückgelehnten Mann, einen Unterarm auf der Tischplatte abgelegt, der andere ruhte auf der Stuhllehne. Interessant, wie gut er aufgepasst hatte, dass er sofort begriff, wonach ich suchte. Ich zeigte mit fragendem Gesicht auf den vermeintlichen Schrank und er nickte. Mit einem leisen Quietschen öffnete ich die Tür des Hängeschranks direkt neben dem Kühlschrank und seufzte. Natürlich stand der Honig ganz oben.

Wie zu Hause stemmte ich mich auf meine Hände, schwang mich geübt auf die Platte, kniete mich dann hin und richtete meinen Oberkörper auf. Endlich lang genug, griff ich nach dem Honig im oberen Fach. Sanft federnd und so leise, wie ich konnte, glitt ich von der Arbeitsfläche und schloss den Schrank wieder. Mit Honig, Löffel, Becher und Topfhandschuh setzte ich mich zu Noah an den Tisch und verkniff mir ein Quietschen, als meine nackten Schenkel auf die kalte Sitzfläche des Stuhls trafen. Ein kleines bisschen bereute ich jetzt, nichts über meine kurze Pyjamashorts drübergezogen zu haben. Bemüht, mir nichts anmerken zu lassen, rührte ich langsam die zähflüssige goldene Masse in die Milch.

»Denkst du nicht, ein Stuhl hätte es auch getan?« fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern. »Macht der Gewohnheit.«

Noah hob eine Augenbraue.

Bei der Erinnerung selig lächelnd begann ich meinen Kommentar zu erklären: »Weißt du, unser Haus ist kleiner. Und das Zimmer meiner Eltern ist direkt neben der Küche, und wegen José, meinem zweijährigen Bruder, ist Marions Schlaf so leicht. Das ist meine Stiefmutter.« Warum sagte ich ihm das? Es war so zur Routine für mich geworden, die Erklärung für den enormen Altersunterschied zwischen José und mir vorwegzugreifen, dass ich gerade Noah gegenüber ein falsches Bild malte. Ich liebte Marion. Schnell fuhr ich fort und versuchte meinen Fehler zu übergehen. »Seit sie schwanger war, musste ich sehr leise sein, wenn ich sie nicht wecken wollte. Unsere Stühle haben Metallbeine, keinen Filz an den Füßen und stehen auf Kachelboden. Du siehst, es wäre zu laut, einen Stuhl zu bewegen.« Bei meinen Worten war ich fast wieder in unserer heimischen Küche. Ich vermisste den Duft nach Rosmarin und Basilikum. Marion züchtete dort ohne Ende Kräuter. Jedes Mal glaubte ich, in einen mediterranen Urlaubsort einzutauchen, wenn ich unsere kleine vollgestopfte Küche betrat.

»Also springst du wie eine Katze auf die Arbeitsfläche«, stellte er fest. Das holte mich zurück in die Chalet-Küche. Schnell hob ich den Becher an meine Lippen und pustete in das warme Getränk. Ich spürte mich leicht erröten und nickte einfach.

»Okay, bleibt nur noch zu klären, warum du einen Becher Milch mit Honig brauchst, um zu schlafen.«.

»Macht der Gewohnheit.« Dieselbe Antwort, und doch würde ich diesmal nichts erklären. »Und ich trinke gern eine, wenn ich nicht schlafen kann, ich brauche sie nicht, um zu schlafen.«

Noah zog wieder fragend seine Augenbraue nach oben. Ich müsste zu weit ausholen, zu viel preisgeben. »Denk dir die Erklärung selbst aus.«

Ich spürte, wie er jede meiner Bewegungen beobachtete. Merkwürdigerweise war es gar nicht mehr unangenehm, dass er mich so fest im Blick behielt. Vorsichtig schlürfte ich ein wenig Milch. »Mhhh«, brummte ich. Perfekt. Also nahm ich einen kräftigen Schluck und machte dann das berühmte »Ahhh!« aus der Coca-Cola-Werbung.

Noah lachte leise.

Ich konnte zusehen, wie sein Gesicht sich veränderte. Ein Lächeln breitete sich von seinen Mundwinkeln bis hinauf zu seinen Augen aus, die kleine Fältchen warfen. Sein Gesicht wurde weich und hell. Es hatte eine Art verhärmten Zug gegeben, der nun wie weggewischt war. So genau hatte ich ihn noch gar nicht betrachtet, doch gerade jetzt sah er ziemlich gut aus.

Wortlos hielt ich ihm den Becher hin. Zögernd nahm er ihn entgegen und führte ihn langsam an seine Lippen. Schon das Neigen des Bechers ließ mich schmunzeln, aber der fast selige Ausdruck in seinen Augen, als er die süße Köstlichkeit schmeckte, ließ es mir warm ums Herz werden. »Als wäre man noch mal Kind, nicht wahr?«, meinte ich sanft. Ich spürte es gar nicht, doch ich war so entspannt wie seit … tja, seit zu langer Zeit nicht mehr.

»Ja«, sagte er schlicht und reichte mir den Becher über den Tisch.

»Behalt sie.« Statt meine Milch zurückzunehmen, stand ich auf und machte mir eine neue. »Ist Skifahren eigentlich dein einziges Hobby?«, fragte ich etwas Unverfängliches. Ich konnte ihn nicht einschätzen und brauchte dringend mehr Informationen, um diesen rätselhaften Mann zu entmystifizieren. Sonst würde er mich bis in meine Träume verfolgen, da war ich mir sicher.

»Ich bouldere.«

»Bouldern?« Irritiert sah ich auf zu ihm, der gemütlich am Tisch saß und mich ruhig betrachtete.

»Klettern ohne Seil.«

»Das klingt gefährlich.«

»Die Touren sind nicht so hoch und man legt Matten unter. Natürlich gibt es immer mal wieder Verletzungen«, erklärte er. »Aber es hält sich in Grenzen. Der Sport ist auch nicht gefährlicher als Fußball.«

Das Bing der Mikrowelle beendete unser Gespräch wieder.

Schließlich saßen wir beide stumm am Küchentisch und tranken unsere warme Milch mit Honig. Jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich tauchte in eine Kindheitserinnerung ein, die von meiner leiblichen Mutter handelte. Die erste Windhose unseres Lebens war meinen Geschwistern und mir begegnet, als wir mit den Hunden im Feld spazieren gewesen waren. Wir waren mit einem heftigen Schock davongekommen. Danach waren wir alle in der Küche zusammengekommen und Mama hatte uns warme Milch mit Honig gemacht. So nah waren wir uns kaum je wieder gewesen.

»Ich habe zufällig mitbekommen, wie ihr euch heute geküsst habt, als wir aus dem Santinos zurückgekommen sind. Deshalb dachte ich, du wärst das da drin«, erklärte er plötzlich aus heiterem Himmel und ich brauchte einen langen Moment, bis ich von der familiären Küche in die Gegenwart kam und begriff, was er gesagt hatte. Also hatte er mich gesehen. Daniel hatte beim Rundgang schon einen eher plumpen Versuch gestartet, und weil ich im Moment vor allem das Spiel genoss, hatte ich ihn auffahren lassen, aber nicht, ohne ihm Hoffnung zu machen. Wie ich es beabsichtigt hatte, war er tatsächlich nach unserer Rückkehr aus dem Santinos noch mal in die Offensive gegangen und hatte mir in der Nische im ersten Stock einen heißen Kuss geraubt. Nur war er dabei viel zu sehr auf sein Vergnügen konzentriert gewesen. Mir war der Spaß an dem Spiel vergangen, und nachdem ich ihn nun mit einer anderen in diesem Badezimmer gehört hatte, war der Typ für mich gestorben.

Ich sagte lange nichts, so lange, bis ich dachte, jetzt müsste ich ihm keine Antwort mehr geben.

»Du hast recht. Ich habe mich gewundert. Nicht dass du nicht die Frau bei Daniel warst. Das hat mich … nicht gewundert.«

Sein Stocken machte mich hellhörig. Da hatte er doch gerade etwas anderes sagen wollen.

»Nein, mich hat gewundert, dass ich gelauscht habe. Dass ich … Na ja, ich lausche nicht«, schloss er grummelnd und stellte seinen Becher ab. Noah starrte hinab auf das Getränk zwischen seinen Händen.

Ich überlegte, was er alles nicht gesagt hatte.

»Du lauschst nicht? Du meinst sonst, wenn du mitbekommst, dass zwei Menschen gerade Sex haben?«, präzisierte ich mit belustigtem Unterton. Wie oft konnte das schon passieren?

Noah antwortete nicht.

»Ich würde lauschen«, gestand ich schulterzuckend. Es schien, dass ihm das ganze Thema unangenehm war, und ich wollte herausfinden, was genau ihm so unangenehm war. Ging es darum, mit einer Frau über Sex zu sprechen, oder ging es hier gerade um mich?

Noah sah mich verwundert an.

»Ich würde wissen wollen, wer es da gerade tut«, erklärte ich meine Aussage.

»Aber es geht dich nichts an.«

»Sicher«, stimmte ich zu. »Trotzdem bin ich neugierig.« Verschlagen zog ich meinen linken Mundwinkel hoch. »Und je nachdem, vielleicht erregt es mich sogar.« Holla, was ging denn mit mir ab? So offen? So ehrlich? Noch konnte ich es als Scherz hinstellen. Ich sollte es als Scherz hinstellen! Wieso wollte mir die Notlüge nicht über die Lippen kommen?

»Du bist also eine Lauscherin?«, provozierte er mit spielerischem Unterton. Mich erleichterte der vollkommene Mangel an Verurteilung in seinen Zügen.

»Nah.« Ich wiegte meinen Kopf hin und her. »Eher eine Macherin. Allerdings kann Lauschen den Appetit anregen.« Unbesonnen und impulsiv. Das war ich!

»Und?« Noah grinste. »Hat es deinen Appetit angeregt?«

»Nein!«, sagte ich fester, als ich wollte.

Noah fixierte mich, und es war klar, dass er das erklärt haben wollte. Ich seufzte resigniert auf. »Na schön. Wie du richtig festgestellt hast, hat er mich vorhin geküsst, und ich muss sagen, ich wollte mir die Option offenhalten«, gestand ich nüchtern. »Es hat sich daher angefühlt wie eine ganz schwache Version des Gefühls, betrogen worden zu sein«, erklärte ich offener als jemals zuvor in meinem Leben. Und das ausgerechnet einem Wildfremden gegenüber, der mir als Einziger ganz und gar uneinschätzbar erschien. Ich war ganz sicher gutgläubig und leichtsinnig. Ich wollte so sehr daran glauben, dass es Männer gab, denen man vertrauen konnte, dass ich einfach dem nächstbesten blind vertraute. Naiv. Absolut hirnlos. Eine durch und durch emotionale Kurzschlussreaktion. Trotzdem machte es mich irgendwie gerade auch ein kleines bisschen stolz, dass ich meinen Glauben an das Gute im Menschen noch nicht vollends eingebüßt hatte.

Noah saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und fuhr den Rand seines Bechers mit dem Zeigefinger nach. Wieder einmal konnte ich nicht sagen, was in ihm vorging. »Ich lausche normalerweise nicht, weil ich jedem einen guten, also guten Sex gönne. Ich habe beide stöhnen gehört und wusste, es war Daniel. Es ist nicht das erste Mal, dass ich ihn dabei höre. Letztes Jahr bin ich bei einer Party im Dorf auch schon auf ihn gestoßen. Nur gehe ich normalerweise einfach weiter, sobald ich weiß, dass sie es auch will.« Seine Stimme blieb bei diesen Worten ganz ruhig, doch die Bewegung seines Zeigefingers geriet ins Stocken.

»Aber diesmal nicht.«

»Nein, diesmal nicht.«

»Weil du dachtest, ich sei die Frau?«, fragte ich so leise nach, dass er vorgeben konnte, es nicht gehört zu haben.

»Nach heute Mittag hielt ich dich für schlauer. Doch die Szene mit dem Kuss ließ mich zweifeln. Als ich dann Daniel hier im Haus hörte, dachte ich, ich hätte mich in dir getäuscht.«

Kurz ließ ich seine Worte auf mich wirken. Dann ging mir ein Licht auf. Sollte ich ihn das fragen? Damit stieß ich seine Nase womöglich auf etwas, das ihm noch gar nicht aufgefallen war.

»Das erklärt nur nicht, warum du weiterhin zugehört hast.« Mit aufgeregt flatterndem Puls formulierte ich meine Interpretation als Denkanstoß. Die Aussicht, der unnahbare Noah könnte durch mich aus dem Tritt gekommen sein, schmeichelte mir ungemein. Aufgeregt wartete ich auf seine Antwort.

Noahs Kopf ruckte hoch. Er starrte mich mit geweiteten Augen an. Dann trat Wut in seinen Blick. »Interpretier nicht mehr rein, als es ist. Ich bin ein Mann, und wie AJ richtig bemerkt hat, habe ich auch oft Sex. Ich muss nicht für alles einen Grund haben.«

»Das habe ich auch nie behauptet.« Das aufgeregte Flattern legte sich wieder, doch ein Hauch davon blieb zurück. Meiner Erfahrung nach war plötzlich aufkeimende Wut bei Männern häufig bloß ein Abwehrmechanismus. Wie oft ich schon erlebt hatte, dass ein Mann alle möglichen Gefühle in das Gewand von Wut gestopft hatte. Daher ließ ich mich jetzt auch nicht von seiner abschrecken. »Du hast dich so sehr gewundert, und das anscheinend über dich, wie du sagst, dass du dich heute eindeutig anders als sonst verhalten hast. Und wenn du meinst, du hast Daniel schon beim Sex erwischt, bleibt als Grund nur deine Annahme, ich sei in dem Raum gewesen. Das ist alles, was ich gesagt habe. Ob und wenn ja, was das bedeutet, musst du ganz allein herausfinden. Vielleicht hattest du ja auch lange keinen Sex mehr, und die Vorstellung von Daniel und mir hat dich angeturnt. Was weiß ich.« Ich blieb bewusst ganz ruhig und sprach schonungslos aus, was ich dachte. Ich hasste Unausgesprochenes. Es bot so viel Raum für Interpretation, und diese gelang mir im Grunde nie.

»Der Kerl hat eine Frau und ein Kind. Keiner seiner Sexexzesse turnt mich an«, stellte Noah angewidert klar.

Ich stutzte. »Woher weißt du das?«

»Die Skilehrer reden übereinander. Florian hat es letztes Jahr erwähnt.«

»Ein Grund mehr, ihn nie wieder auch nur anzurühren.«

Damit griff ich nach unseren inzwischen leeren Bechern und stand auf. Ich räumte das Geschirr in die Spülmaschine und öffnete den Schrank, in den der Honig gehörte. Plötzlich stand Noah neben mir und griff das Glas mit der goldenen Masse. Ich war ihm im Weg, aber ich konnte ihn einfach nur anstarren. Er war so nah, dass ich seine Wärme auf meinen ausgekühlten Armen spürte.

»Ich dachte, weil ich doch größer bin … « Er ließ den Satz unvollendet.

»Ja«, hauchte ich und spürte es unter meinem Brustbein stark kribbeln.

Mit seinem Körper schob er mich langsam beiseite und ich wich ganz automatisch. Die Berührung sandte leichte Schauer durch meinen Körper. Er musste sich ziemlich strecken, doch er kam dran.

»Schade«, entschlüpfte es mir.

Noah stellte den Honig ab und sah mich dann verdutzt an.

Ich lächelte. »Ich steig so gern auf die Arbeitsplatte.«

Sein durchdringender Blick ließ mir den Atem stocken. Die Wärme in seinem Blick streichelte über meinen Körper. Plötzlich packte Noah mich an der Taille und hob mich auf die Arbeitsfläche. Ich quietschte lachend auf, hielt mich intuitiv an seinen Schultern fest und Noah schmunzelte mich verwegen an. Für einen Moment sahen wir einander nur in die Augen. Meine Finger prickelten auf seinen unerwartet definierten Muskeln unter dem dunkelblauen Hemd. Seine heißen Hände spürte ich durch den dünnen Stoff meines T-Shirts an meinen Seiten. Die Luft knisterte zwischen uns. Dann schob er mit seinem Körper meine Beine auseinander und zog mich an sich heran. Ich keuchte auf und sah ihm tief in die blaugrünen Augen. Das Kribbeln war unerträglich und doch schön, meine Zungenspitze schoss zwischen meinen Lippen hervor, um sie zu befeuchten. Ich sehnte mich nach einem Kuss.

Noahs Blick huschte zu meinen Lippen, und ich hätte schwören können, dass seine Augen sich verdunkelten. Seine Nähe war so intensiv und das Prickeln in meiner Brust so sehnsuchtsvoll. Alles zog mich vorwärts, ihm entgegen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich legte meine Hände an seine Wangen, schloss meine Augen und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. Erst einmal, zögernd. Dann noch mal. Er öffnete leicht seine Lippen und erwiderte vorsichtig meinen Kuss. Noah legte seine Arme um meinen Körper, zog mich näher an seinen, während er sich weiter vorlehnte und den Kuss vertiefte.

Die Welt um mich versank in einem Rausch aus Lust und Sehnsucht. Er brachte mich mit seinen zarten und doch hungrigen Küssen um den Verstand. Seine Lippen ließen mich alles vergessen. Nichts existierte mehr außer Noah und ich. Federleichte Berührungen und dann ein hungriges Zupacken. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Sein heißer Atem kitzelte in den winzigen Pausen über meine erhitzte Haut. Es war, als knipste er ein helles Licht in mir an. Ich spürte jedes winzigste Detail: Seine Hände lagen auf meiner Hüfte, er strich zärtlich auf und ab, den Oberschenkel außen entlang und wieder zurück. Seine Brust war nah an meiner und seine Lippen liebkosten meine. Seine Zunge brachte mich um den Verstand. Mal strich er mit ihr sanft über meine Lippen, mal tanzte sie mit meiner. Ich atmete bereits wild keuchend. Dann plötzlich biss er mir leicht in die Unterlippe. Das war eine so neue, so unerwartete Erfahrung, dass ich zurückwich und ihn ansah. Noah schien ob des abrupten Endes leicht verwirrt.

Ich griff mir an die Lippe und versuchte einzuordnen, ob ich das neue Gefühl mochte. Noah hob seinen Daumen und strich sanft über die gereizte Stelle. Instinktiv schloss ich meine Augen und schmiegte mich in seine starke raue Hand. Schwer atmend empfing ich erneut seine Lippen. Seine sanfte Zärtlichkeit ließ mich aufstöhnen, und dann war er wieder weg. Diesmal hatte er den Kuss beendet. Und zwar endgültiger als ich. Seine Körperwärme war verschwunden, und ich wusste, wenn ich jetzt die Augen aufschlug, war ich allein in der Küche.

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